Förderverein Stadtbibliothek Rottenburg

25.04.2022: Demokratie braucht politische Bildung!

 

1. Einführung (Karl Schneiderhan)

Wie angekündigt findet heute die 50. Veranstaltung des politischen Gesprächskreises statt. Die Idee, an der Stadtbibliothek einen politischen Gesprächskreis einzurichten, ist entstanden anlässlich einer Exkursion des Sülchgauer Altertumsvereins im Herbst 2016 zusammen mit Frau Bolle, der heutigen Leiterin der Stadtbibliothek.

Entsprechend unserem Selbstverständnis und passend zum Anlass haben wir als Thema Bedeutung und Stellenwert politischer Bildung gewählt, passend auch zu einem weiteren Anlass. Das Land Baden-Württemberg feiert heute am 25. April sein 70-jähriges Gründungsjubiläum, den Zusammenschluss von Baden, Württemberg und Württemberg-Hohenzollern. Baden-Württemberg hat, u. a. mit seiner Landeszentrale für politische Bildung (lpb), in den vergangenen Jahrzehnten hervorragende politische Bildungsarbeit geleistet, was insbesondere eine Tagung 1976 belegt, in der unter Federführung der lpb eine Referenz für politische Bildungsarbeit auf Bundesebene erarbeitet wurde, die bis heute Gültigkeit besitzt: Der Beutelsbacher Konsens. Maßgeblich mitgewirkt hat der Politikwissenschaftlicher Hans-Georg Wehling, der die kontroversen Diskussionsbeiträge zum Selbstverständnis politischer Bildung zusammenfasste und daraus Gemeinsamkeiten in folgenden drei Leitgedanken formulierte: Ermöglichung und Gewinnung eines selbständigen Urteils, Offenlegung bestehender inhaltlicher Kontroversen in Wissenschaft und Politik sowie Erwerb der Kompetenz, eine politische Situation und eigene Interessenlage analysieren können. 

Was hat uns bewogen, für diese Veranstaltung das Thema politische Bildung zu wählen? Eduard Spranger (1882 – 1963) hat in der Sprache seiner Zeit die Notwendigkeit politischer Bildung wie folgt formuliert: „Arbeitet man von früh auf daraufhin, die Menschen zu selbständigem politischem Denken aufzurütteln, so verhütet man die schwerste Gefahr unserer Kulturepoche: Das Emporwuchern einer blind gefolgschaftsbereiten Masse.“ Das Gelingen der Demokratie setzt politisch gebildete Bürger voraus. Demokratie braucht politische Bildung! Ohne politische Bildung funktioniert eine Demokratie nicht, zumal das Grundgesetz, so Norbert Lammert, zwar demokratische Grundwerte schützt, diese aber nicht garantiert. Demokratie ist eine Staatsform, die von jeder Generation neu gelernt werden muss, ebenso muss das Vertrauen in Demokratie und Politik immer wieder neu verinnerlicht werden.

In diesem Sinne verstehen wir als politischer Gesprächskreis unseren Beitrag für das Gemeinwohl. Mit einer Vielfalt von Themen seit Herbst 2017 bemühen wir uns, politische Zusammenhänge durch wissenschaftlich fundierte und faktenbasierte Expertise zu erschließen mit dem Ziel, eine sachgerechte Urteils- und Willensbildung zu ermöglichen. Wir tun dies in Form eines strukturierten Dialogs, in dem unterschiedliche Sichtweisen zur Sprache kommen. Dabei verstehen wir uns als überparteiliches Bildungsforum und garantieren so politische Pluralität. Überparteilich meint jedoch nicht, wir stünden über den Parteien oder Parteien würden in Sachen politischer Bildung eine untergeordnete Rolle spielen. Immerhin weist das Grundgesetz diesen in Art. 21 einen Verfassungsauftrag bei der politischen Willensbildung zu. Die Frage wäre zu diskutieren, inwieweit die Parteien diesem Auftrag, auch hier in Rottenburg, noch genügend nachkommen.

Angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Lage wird politische Bildung ist dringender denn je, nicht nur in Schulen, sondern auch für die Generation der Erwachsenen. Denn die Demokratie als Staatsform wie die Demokratiebestrebungen sind weltweit unter Druck, was u. a. der Konflikt in der Ukraine offenbart. Zudem zeigen Umfragen zum Wahlverhalten, zu Politikthemen und Politikern, im Vergleich zu früher votieren Wähler heute eher nach aktueller Stimmungslage als nach programmatischer Überzeugung. Wähler werden regelmäßig nach ihrer Meinung befragt und als Fakten präsentiert. Gefragt wird jedoch nicht, auf welcher Wissensbasis sie zu dieser Beurteilung kommen. Zudem ist eine Verabsolutierung eigener Positionen festzustellen, verbunden mit mangelndem Respekt vor der Meinung anderer wie gegenüber Mehrheitsentscheidungen gewählter Gremien. Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut. Genügt es jedoch, wenn Demokratie gelingen soll, nur eine Meinung zu haben oder braucht es nicht auch die Bereitschaft, sich das nötige politische Wissen anzueignen?

Jüngste Studien bestätigen zudem einen seit längerem anhaltenden Trend: Das Vertrauen in politische Institutionen und in die Demokratie als Staatsform geht zurück, ebenso Solidarität und Zusammenhalt (vgl. Körber-Stiftung, Bertelsmann-Stiftung). Aus der neuesten Untersuchung des Instituts für Demoskopie in Allensbach geht hervor, ca. 1/3 der Bundesbürger stimmt der Äußerung zu, in einer "Scheindemokratie" zu leben, in der Bürger nichts zu sagen hätten und das demokratische System in Deutschland müsste grundlegend geändert werden. Bestätigt wird auch der Zusammenhang zwischen rechtsradikalen politischen Auffassungen und dem Hang zu Verschwörungstheorien.

Angesichts dieses Vertrauensverlustes und nicht mehr aufschiebbarer Herausforderungen wie Klimawandel, Digitalisierung, soziale Gerechtigkeit, Zusammenhalt in der EU, Flüchtlingskrise und Neuausrichtung der Außen- und Sicherheitspolitik sowie weiterer Phänomene der Demokratiekrise wie Aufstieg rechtspopulistischer Parteien, sinkende Wahlbeteiligung, abnehmendes Vertrauen in Parteien und politische Systeme, antidemokratische Positionen bis in die Mitte der Gesellschaft, Machtverlust der Parlamente gewinnt politische Bildung mehr an Bedeutung. So ist auch im Koalitionsvertrag der Ampelparteien festgehalten: „Politische Bildung und Demokratieförderung sind mehr gefordert denn je, denn auch in Deutschland steht die pluralistische, freiheitliche Demokratie unter Druck. Akteurinnen und Akteure der nachhaltigen Demokratieförderung, die auf Basis von Respekt, Toleranz, Würde und Menschenrechten arbeiten, werden auch in Zukunft mit öffentlichen Mitteln gefördert.“

Im Kontext dieser Ausgangslage und des damit verbundenen Handlungsbedarfes lohnt es, vertieft zu reflektieren, warum politische Bildung entscheidende Voraussetzung für gelingende Demokratie ist und wozu diese dient.

 

2. Impuls (Regierungspräsident Klaus Tappeser)

(Herr Tappeser hat sein Eingangsstatement in freier Rede vorgetragen. Die folgenden Ausführungen sind eine Zusammenfassung seiner zentralen Thesen.)

Herr Tappeser begrüßt alle Anwesenden und bedankt sich für die Einladung zur heutigen 50. Veranstaltung als Referent. Politische Bildung, wie diese beim politischen Gesprächskreis der Stadtbibliothek praktiziert wird, ist ein unverzichtbarer Beitrag für das Gelingen unserer Demokratie.  

Politische Bildung muss für die Demokratie kämpfen und diese stärken. Wie ist es gelungen, unseren demokratischen Staat aufzubauen? Aus den Erfahrungen des 2. Weltkrieges entstanden Grundhaltungen wie „Nie wieder Krieg“ und „Nie wieder Weimar“, die ganz wesentlich zur Ausgestaltung des Grundgesetzes beitrugen. Gerade wegen der Erfahrungen des 3. Reiches und des 2. Weltkrieges enthält unser Grundgesetz zahlreiche Grundwerte und viele Mechanismen, die der Absicherung des demokratischen Systems dienen.

Heute muss sich die Gesellschaft wieder auf einen allgemein geteilten Werte-Grundkonsens besinnen. Im Raum steht die zentrale Frage „Wie wollen wir leben, welche Regeln sollen gelten“? Wir brauchen mehr Respekt gegenüber den Mitmenschen, ohne dabei eigene Positionen aufzugeben. Die Verständigung mit den „Anderen“ ist heute eine zentrale gesellschaftliche Aufgabe.

Politische Bildung (PB) sollte dazu befähigen, den rechten Gebrauch der Vernunft (im Sinne von Kant) zu erlernen. Zudem sollte PB einen Beitrag dazu leisten, einen Grundkonsens in der Gesellschaft zu entwickeln und zu ermöglichen, um unsere Freiheit zu bewahren. Dabei geht es auch um die Frage, wo endet die Freiheit des Einzelnen und wo fängt die Freiheit des Anderen an. Denn Freiheit vollzieht sich im Kontext des Grundgesetzes. Wir sehen immer wieder, dass in totalitären Systemen das Miteinander sowie der Zusammenhalt der Gesellschaft nicht funktionieren.

Am Beispiel der Kirchen und der Vereine kann man den schleichenden Bedeutungsverlust sinnstiftender Institutionen erkennen. Jede Gemeinschaft und jede Gesellschaft muss auf gemeinsam geteilten Werten gründen. Den Satz, „das tut man nicht“ gibt es heute aber eigentlich nicht mehr. Die christlichen Werte sind die Basis für unser Grundgesetz. PB muss also mithelfen bei der Entwicklung gemeinschaftlich geteilter ethischer Werte.

Neben dem Verlust des Einflusses sinnstiftender Institutionen ist ein weiteres Kennzeichen die zunehmende Delegitimierung von Institutionen. Damit verbunden ist ein Vertrauensverlust gegenüber der Politik und Politikerinnen und Politikern sowie ein Verlust an Legitimität. Die Folge ist, Politiker werden beschimpft, Querdenkende bestimmen die Corona-Debatte und Medien positionieren sich teilweise zu einseitig. Soziale Medien begünstigen die emotionsgeladene Abwertung abweichender Positionen, sie schüren Hass und Empörung. PB sollte zum Gebrauch der Vernunft anleiten und dabei nicht einseitig indoktrinieren, sondern Wirkungszusammenhänge erschließen sowie durch Vorbild erziehen. Sicher können hier Elemente des Marketings genutzt werden, um die Außenwirkung der PB zu verbessern.

Leider setzen sich die Menschen bei konkreten Projekten vor Ort oft eher für ihre eigenen Interessen als für das Allgemeininteresse ein, wie man am Beispiel der Windkraft immer wieder feststellen kann. Die Nutzung der Windkraft wird zwar von einer großen Mehrheit grundsätzlich akzeptiert, aber dann wird gefordert: „Bitte kein Windrad vor meiner Haustür.“ Es sollte also auch Aufgabe der PB sein, durch entsprechende Bildung die Akzeptanz demokratisch getroffener Entscheidungen zu verbessern.

 

3. Beiträge der Teilnehmer/innen

  • Poltische Bildung beginnt in Familie und Schule. In der Schule sollte die Medienerziehung einen breiteren Raum einnehmen, damit junge Menschen frühzeitig einen angemessenen Umgang mit den neuen Medien erlernen können. An den Referenten gewandt, wird darauf hingewiesen, dass es auch heute ein hohes Maß an gemeinschaftlichem Engagement gibt, was etwas gegen die These vom Verlust gemeinsamer Werte spricht.
  • Gegenseitiger Respekt kann nicht einfach vorausgesetzt werden. Jeder muss sich durch sein Handeln selbst Respekt erwerben.
  • An den Referenten gewandt: Die im Impuls aufgezählten gesellschaftlichen Phänomene sind teilweise zutreffend benannt. Es kann aber nicht die Aufgabe der politischen Bildung sein, Akzeptanz für politische Entscheidungen zu schaffen. Vielmehr sollte politische Bildung die Handlungsmöglichkeiten in einer Demokratie aufzeigen und vermitteln.
  • Wir leben heute in einer Gesellschaft, die aus sehr vielen einzelnen Milieus besteht, die stark voneinander abgegrenzt sind. Deshalb muss politische Bildung schon sehr früh, z. B. in der Familie und in der Schule ansetzen. Es bedarf auch mehr Ursachenforschung, wie wir in die heutige Situation gekommen sind.
  • Viele politische Entscheidungen, wie z. B. die Planung und der Bau der neuen B28 zwischen Tübingen und Rottenburg lassen sich nur umfassend verstehen und nachvollziehen, wenn man sich, wie im Fall des Straßenbaus, genau in die Materie der Verkehrs- und Straßenplanung einarbeitet. Das kann aber besonders für berufstätige Bürger eine Überforderung sein.
  • Klaus Tappeser: Eine positive Wertebindung in der Gesellschaft fehlt. Komplexität braucht Verständnis. Die politische Bildung soll den mündigen Staatsbürger beim Gebrauch seiner Vernunft unterstützen. Grundsätzlich sollte man gegenüber jedem Menschen Respekt zeigen, denn die Würde des Menschen ist unantastbar. Unter Hinweis auf den medialen Umgang mit Anne Spiegel, der zurückgetretenen Familienministerin, formuliert Herr Tappeser: „Es ist nicht so, dass Politiker keine Menschen sind.“
  • Die Jugend hat z. B. mit Friday for future etwas Tolles geschaffen. Das gilt auch z. B. für Ärzte for future. Das sich Lustig machen über den Juchtenkäfer als Projektbremse hilft nicht weiter, der Mensch braucht eine saubere Umwelt, um gesund zu bleiben. Ein Beispiel: Das Zementwerk in Dotternhausen wird mit 70%-80% durch Müllverbrennung beheizt, was zu mehr Schadstoffen (Feinstaub) in der Luft führt. Hier müsste das RP handeln, um bessere Filteranlagen vorzuschreiben. Um etwas gegen den Feinstaub zu tun, könnte man auch die Silvester-Böllerei abschaffen.
  • Klaus Tappeser stellt dazu klar: Die Sorgen um die Umwelt nimmt das RP in diesem Fall sehr ernst. Die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben gilt auch hier. Sollten Grenzwerte zu hoch festgelegt sein, müsse die Politik neue Grenzwerte beschließen.
  • Auch wenn viele gegenwärtige Entwicklungen kritisiert werden, so gab es in der Vergangenheit doch auch negative Erscheinungen, wie z. B. Autoritätsgläubigkeit, Zwang und Frauenfeindlichkeit, Basta-Politik. Poltische Entscheidungen wurden früher eher hingenommen, nach dem Motto „Die Politiker werden schon klug genug sein.“ Früher war nicht alles besser. Dagegen finden heute in Verbindung mit politischen Entscheidungsprozessen mehr Austausch und Diskussion statt.
  • Aktuelle politische Planungen, wie z. B. die geplante Verbreiterung der Straße von Rottenburg in Richtung Seebronn/Autobahn sollten durch neutrale Player mit den Instrumenten der politischen Bildung begleitet werden. So könnte in der Bevölkerung das Wissen und das Verständnis für solche Prozesse verbessert werden.
  • Der Gemeinderat ist überaltert, die Jugend wird zu wenig eingebunden. Die Älteren sollten sich mehr um die Jugendlichen bemühen.
  • Neue Veranstaltungsformate, wie bei der jüngsten Rottenburger Bürgerversammlung, können durchaus Vorteile bieten, wie die Teilnahme von hunderten Menschen zeigte.
  • Klaus Tappeser kommt zum Schluss nochmal auf den Autoritätsverlust in der Gesellschaft zu sprechen und konkretisiert das am Beispiel der Schulen. Lehrende seien heute für Schülerinnen und Schüler sowie Eltern weit weniger Autoritätspersonen wie früher. Bei Konflikten mit den Schülern können die Lehrkräfte auf weniger Unterstützung der Eltern setzen.
  • Klaus Tappeser bedankt sich für die anregende Diskussion und betont, politische Bildung sei ein lebenslanges Thema. Menschen müssen immer wieder angesprochen und abgeholt werden.
  • Frau Witte bedankt sich beim Organisationsteam des Politischen Gesprächskreis für seine Arbeit und wünscht sich auch Veranstaltungen für Jugendliche.

 

4. Abschluss und Dank (Karl Schneiderhan)

  • Karl Schneiderhan dankt Regierungspräsident Klaus Tappeser für seinen Impuls und seine Mitwirkung an der Diskussion sowie allen Teilnehmenden für die anregende Diskussion und betont abschließend nochmals die Bedeutung politischer Bildung zur Vermittlung politischen Wissens sowie zur Bildung eines eigenständigen und differenzierten Urteils. Dabei beziehe sich diese zum einen auf die institutionelle Dimension (Verfassung, Rechtsordnung, Aufbau und Strukturen parlamentarischer Demokratie), zum zweiten auf die programmatisch-inhaltliche Dimension (politische Ziele, Programme, Aufgaben) und drittens auf die prozessuale Dimension (Verfahrenswege für Interessensausgleich, Gestaltung politischer Diskurse, konkretes politisches Handeln).
  • Frau Bolle informiert über die Woche zur Meinungsfreiheit, die vom 03. Bis 10. Mai 2022 stattfindet, an der sich auch der deutsche Bibliotheken-Verband beteiligt. Ziel ist, auf die Bedeutung der Meinungsfreiheit aufmerksam zu machen. Als inhaltliche Grundlage dient dafür die ‚Charta der Menschenrechte‘. Die Charta kann unter woche-der-meinungsfreiheit.de/charta-der-meinungsfreiheit/ abgerufen und unterschrieben werden. Initiator der Bewegung ist der Börsenverein des Deutschen Buchhandels. 
  • Der nächste Gesprächskreis findet zur gewohnten Zeit statt am Montag, 30.05.2022 im Cafe Stadtgespräch. Impulsgeber ist Hans-Ulrich Brändle. Er wird das Buch der Philosophin Svenja Flasspöhler vorstellen „Sensibilisieren wir uns zu Tode? – Über modernde Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren“.

 

 

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