Förderverein Stadtbibliothek Rottenburg

30.05.2022: Ambivalenzen gesellschaftlicher Sensibilisierung

Zu Svenja FIaßpöhlers Buch:

„Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren“

1. Einführung (Winfried Thaa)

Wir werden uns heute mit einem Buch beschäftigen zu einem Thema, das durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine etwas aus der Zeit gefallen scheint, dem Thema einer zunehmenden Sensibilisierung oder auch Empfindlichkeit gegenüber tatsächlichen oder auch nur subjektiv wahrgenommenen Missachtungen, als inkorrekt empfundenen Bezeichnungen und Sprechweisen oder auch gegenüber der unzulänglichen sprachlichen Repräsentation benachteiligter Gruppen. Das Buch trägt den Titel „Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren“, erschienen 2021 bei Klett-Cotta.

Die Autorin, Svenja Flaßpöhler, dürfte mancher kennen. Sie scheint ein Gespür für ganz unterschiedliche, aber gesellschaftlich aktuelle/bewegende Themen zu haben. Sie hat jedenfalls vor dem heute von uns zu diskutierenden Buch bereits Bestseller zum Thema Freitodhilfe und zur „Neuen Weiblichkeit“ verfasst. Sie ist promovierte Philosophin und Chefredakteurin der Zeitschrift „Philosophie Magazin“. 

Eine der Grundthesen Flaßpöhlers lautet: Der Prozess der Sensibilisierung sei zwar zweifellos ein Fortschritt, aber ein Fortschritt mit Kehrseiten und deshalb eine recht ambivalente Angelegenheit. Sie stellt die während der letzten Jahrzehnte beobachtbare Zunahme der Sensibilisierung für mögliche Verletzungen in den Zusammenhang eines bis ins Mittelalter zurückreichenden Prozesses der Zivilisierung und zunehmender Triebkontrolle, der heute wie in früheren Zeiten aber durchaus eine aggressive Kehrseite habe. Ihre These lautet: „Die Sensibilität trägt eine gewaltsame Seite in sich… Das Herausbilden von Sensibilität setzt nämlich Zwang voraus.“ (S. 18) Die Quellen, auf die sie sich dabei bezieht, sind Norbert Elias und Sigmund Freud. Zumal der zweite hat angesichts des 1. Weltkriegs deutlich gemacht, unter der Oberfläche zivilisierter Selbstkontrolle lauert ein durchaus bedrohliches, bei Gelegenheit auch immer wieder aufbrechendes Gewaltpotential.  Und damit wären wir mit dem Thema Sensibilität dann vielleicht doch nicht so ganz aus der Zeit, wie es auf den ersten Blick aussehen mag.

Dazu werden wir von Hans-Ulrich Brändle das Impulsreferat hören. Er hat für den Gesprächskreis bereits das Buch von Frank Biess „Republik der Angst“ vorgestellt. Er hat in Berlin Pädagogik und Medizin in Tübingen studiert, ist Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe und leitete viele Jahre die Abteilung für psychosomatische Medizin in Leonberg. Er ist von seinem beruflichen Hintergrund her also ein Fachmann für die psychologische Seite der Gesellschaftsdiagnosen im Buch Flaßpöhlers.

 

2. Impuls (Hans-Ulrich Brändle)

Totaliter aliter- Es ist alles anders, als wir gedacht haben. Das lernen wir gerade wieder aus unseren vergeblichen Beziehungsbemühungen zu Russland und aus dem schamlosen Genozid, den der türkische Präsident Erdogan unbemerkt im Schatten des Ukrainekrieges mit seinen muslimischen Fundamentalisten durch seinen neuesten Angriffskrieg auf die Kurden im Irak und in Syrien mit deutschen Waffen ausübt. Und ausgerechnet eine promovierte Denkmeisterin, die Philosophin Svenja Flaßpöhler, treibt am Vorabend des sich abzeichnenden Weltkriegsszenarios ein intellektuelles Verwirrspiel mit ihren Lesern. Darin verwechselt sie nicht nur Trans- mit Intersexualität, sondern auch Resilienz mit Resistenz.

Worum es geht? Auf diese Frage komme ich zum Schluss noch einmal zurück, weil sie am Anfang nicht vollends zu beantworten ist. Deshalb nur so viel: Jeder hat Gefühle, ist „empfindlich, fühlbar, empfänglich“ (S.16), also sensibel und F. meint: Darin sind Einfühlungsvermögen oder Überempfindlichkeit inbegriffen, aktive Sensibilität als Progression („das Gute aus sich heraus zu tun“, S.16) mit positiver Zuschreibung oder passive Sensibilität als Regression (Überspanntheit, Weinerlichkeit, Rührung, sexuelle Willfährigkeit) als negative Zuschreibung enthalten. Letztere sei in Mode gekommen.

Der Arzt in mir versucht sehr vereinfacht bio-psycho-genetisch zu ordnen: Ohne Sensibilität wären wir taub, also peripher nervenleidend oder seelentaub oder seelenblind, also zentral in der Hirnverarbeitung agnostisch in unserer Wahrnehmung gestört oder psychisch in Abwehr verblendet. Jeder gesunde Mensch hat auf einer niederen Ebene im Frontalhirn Spiegelneurone und entwickelt dadurch im Limbischen System zunächst unausgesprochene Gefühle, die direkte vegetative Antworten hervorbringen, ist somit dazu verhaltensbereit, seine Haut zu retten, indem er auf Gefahr durch vorgebahnte unüberlegte Handlungen notfallmäßig im Affekt regieren kann. Erst auf der höheren Ebene des Großhirns werden Gefühle in Worte gefasst, die je nach Einfühlungsvermögen (das zu Mitleid, Trauer, Schmerz, Hilfsbereitschaft führt) überdacht werden können.

Empathiefähigkeit entsteht daher am Besten in Entspannung (Liebe und Muße) als Mitgefühl, jedenfalls nur ohne akute Notfallsituation. Intuitive Projektion („aktive Sensibilität“) lernen wir davon zu unterscheiden: je offener jeder selbst für eigene Gefühle ist und je transparenter er sie macht, umso eher kann er seine Egozentrik („passive Sensibilität“) überwinden. Ambivalenzfähigkeit (z. B. um den anderen und sich selbst zu berücksichtigen, gut von böse zu unterscheiden) entsteht dann über moralische Verhaltenssteuerung in konkreten ökonomischen und soziokulturellen Abhängigkeiten. Entgegen diesem zivilisatorischen Anpassungsprozess entstehen in uns unbewusste Widerstände (z. B. Verdrängung), die in der internen Kontrollüberzeugung („Ich nehme mein Schicksal selbst in die Hand!“) zu resilienten, gesunden Anpassungsreaktionen der Psyche werden, oder zu krankhafter Halsstarrigkeit führen können. Je nach Voreinstellung (Resistenz = Widerstandressourcen aus bedingungsloser Liebe der Mutter in der Dyade mit der Mutter und gelungener Triangulierung mit dem/der Partner*in der Mutter) steuern psycho-sexuell reife Menschen aber normalerweise ihre Triebimpulse unbewusst oder in der positiven Grundüberzeugung ihrer Kohärenz.

„Ziel dieses Buches ist es, die Sensibilität in ihrer Dialektik zu beleuchten und ihr Verhältnis zur Widerstandskraft neu zu fassen, um so Wege aus den Krisen unserer Zeit zu finden.“ (S.28)

Wo ist das Problem?

Für F. liegt das Problem im Übermaß, sowohl der Gefühle, wie der Reaktanz: also in der unbezähmbaren Widerständigkeit (was F. so nie sagt, immer aber bewertend an von ihr gestellten Grenzen bemisst) und dem übertriebenen Gefühlsausdruck der Animosität (den sie nie so benennt)!

Kritik der reinen Toleranz? Ambivalente Gefühle lässt F. zurecht nicht unbedingt als zulässig gelten (z. B. bei Rassismus null Toleranz). So kurz und bündig, wie gerade von mir dargestellt, beschreibt F. das aber nicht.

Die Sensibilität der Gesellschaft (am Beispiel der Weiterentwicklung der Unantastbarkeit der Würde (Art 1 GG) in der Reform des Sexualstrafrechts von 2016,  neben Gewalt auch schon der falsch gedeutete Wille strafbar wird, ist für F. „unbestreitbar, ein wesentlicher Faktor zivilisatorischen Fortschritts“ (S.23). Resilienz und Sensibilität stehen für sie nicht notwendig in Opposition, sondern nur so lange sie verabsolutiert werden. Im Buch konstruiert F. Sensibilität und Resilienz aber als Gegensatzpaar, das sie zum Schluss ihres Buches schwesterlich vereinen will. Was sie dabei verschweigt ist, dass nicht Sensibilität, sondern Erschöpfungen (Burnout, Stress und Trauma) die Impulse sind, die „Therapeuten“ und die USA-Army (seit 2011) nach der Stärkung der Resilienz (i. S. d. Anpassungsreaktion) und neuerdings zur „Positiven Psychologie“ (Martin Seligmann) als Therapie rufen lassen. Die unermüdliche Verformbarkeit, in die der (physikalische) Körper nach der Außenstörung zurückspringen soll (lat.: resilire) meint sie, wenn sie bemerkt: „Solche Berührungspunkte zwischen Sensibilität und Resilienz gilt es in diesem Buch herauszuarbeiten: Denn wenn es gelänge, die Resilienz mit der Kraft der Empfindsamkeit in ein Bündnis zu bringen, wäre der Konflikt, der gegenwärtig die Gesellschaft spaltet, in etwas Drittem aufgehoben.“ (S.20) Und in was aufgehoben? „Nämlich … das Gefühl für das in einer bestimmten Situation mit einem bestimmten Menschen Gebotene.  Dieses Gefühl ist weder durch eine Regel diktiert noch gänzlich willkürlich. Gemeint ist der Takt (S.193)“ (hier bezieht sich F. auf Helmuth Plessner: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Frankfurt 2002). Der Leser bemerkt die Absicht und ist verstimmt: Qui bono?

Frage: Wäre Resilienz (=Anpassung) denn mit Empathie und Solidarität vereinbar und nicht nur eine männliche Selbstoptimierungsstrategie, wie F. die verbreitete Kritik im linken politischen Spektrum an der Resilienz (zurecht!) wahr nimmt ? Die Antwort auf diese Frage bleibt F. in ihrem Buch schuldig. 

Wen betrifft das Thema?

Überreizung und Desensibilisierung sind für F. zwei Seiten einer Medaille: Blasierte Rückzugsgefechte der Großstadtmenschen (n. Georg Simmel) auf der einen, wache (woke), diskriminierende Implikationen Wahrnehmende auf der anderen Seite, die politische korrekte Sprachcodes „bisweilen von blasierter Arroganz“ beherrschen, „die sich wie ein Schutzfilm über die eigene Verletzlichkeit legt“: Nähe und Distanz, Grenzen des Sagbaren - „Ist Verletzlichkeit die neue Stärke?“- MeToo oder Black Lives Matter, Gendersternchen – wir sind mit Flaßpöhler dabei, das Limit des Zumutbaren neu zu justieren. Dabei sieht sie die Erosion der demokratischen Diskurskultur in einem kaum noch zu kittenden Riss enden, der mitten durch die Gesellschaft aufzubrechen droht, zwischen Liberalen und Egalitären, Rechten und Linken, Alten und Jungen, Betroffenen und Nicht-Betroffenen. Nach der „Zeitenwende“ 2022 möchte man ergänzen: auch zwischen Tauben und Falken.

Wo sind die Grenzen des Zumutbaren?

  1. kann Sensibilität 2021 als Triebkraft unseres Fortschrittes würdigen; allerdings nicht in seinen Übertreibungen.

Schon durch das vorangestellte Leitmotto „Du bist zu hart, ich bin zu weich“ (nach Ton Steine Scherben) sind Gegensätze bereits entsprechend gewertet und ins vermeintlich „richtige“ Verhältnis gesetzt. In der zunehmend sensibler eingestellten Norm sieht sie (n. Norbert Elias) den Zivilisationsprozess. Die Grenze des Respekts (S.22) hält F. für „hart umstritten und höchst wandelbar“, je nach Grad der gesellschaftlichen Empfindsamkeit. Wird jede kleine Störung schon als strukturelle Gewalt gesehen? Ist individuelle Evolution so möglich (wie sie Andreas Reckwitz „Dialektik der Sensibilität“, in: Philosophie Magazin, Nr.6/2019, S.56-61 versteht: Ambivalenztoleranz gegenüber positiven und negativen Gefühlen, statt Positiver Psychologie der „Wohlfühlsensibilität“ S.25) oder ist gesellschaft-liche Revolution erforderlich, wie Judith Butler meint, wenn sie soziale Strukturen aktiviert sieht, wenn jemand durch rassistische oder homophobe Äußerungen und Handlungen verletzt wird. Butler: „Belästigung besitzt stets eine individuelle Form der Handlung und doch bildet die Form der Handlung oder Handlungsweise eine gesellschaftliche Struktur ab und reproduziert sie.“ (S.24). F. mediatisiert: „Nicht jeder Schmerz muss ausgehalten, aber auch nicht jeder Schmerz gesellschaftlich verhindert werden.“ (S.25) 

Unzumutbar ist für F. verabsolutierte Resilienz, weil Ansprüche abprallen und verabsolutierte Sensibilität, „weil sie den Menschen auf ein verletzliches, schützenswertes Wesen reduziert, das sich selbst nicht zu helfen weiß“ (S.26). F. ist zwischen beiden Polen auf der Suche, nach einem neuen Selbst- und Weltverhältnis!

Wie finden wir aus gegensätzlichen Bestrebungen, dem Dilemma der zunehmenden gesellschaftlichen Fragmentierung, heraus?

Laut F., in dem jeder bei sich selbst anfängt: Konträre Gruppen könnten ihre Sensibilität angemessen und ihre Widerstände in heilsamer Resilienz (gemeint ist Anpassung) sublimieren, jeder einzelne für sich. Das jedenfalls (Sensibilität und Resilienz als Schwestern) fordert sie als Resultat ihrer verwirrend anspruchsvollen, philosophischen Dialektik, die selbst dem Laien nicht stichhaltig erscheint, weil sie jeweils konkrete sozio-ökologisch-ökonomische Voraussetzungen gar nicht in Betracht zieht und deren Philosophen aussenvor lässt oder fundamentalen Streit unter empirisch-soziologischen Wissenschaftlern unterschlägt (Hans Peter Dürr vs. Norbert Elias).  

Die Antwort auf die Frage, wie ein Ausweg aus der polarisierenden Entwicklung gefunden werden kann, hält sie für dringend. In ihrem Buch findet sie die Einsicht (S.18) wegweisend, dass Sensibilität ein zweischneidiges Phänomen ist, nach außen und nach innen gerichtet, bindend und trennend, befreiend und unterdrückend.

Sensibilität trage eben auch eine gewaltsame Seite in sich, bilde sich nämlich durch Zwang erst vollständig aus. Sei es, dass zivilisatorische Transformation durch verfeinertes menschliches Verhalten zunehmend für Grenzüberschreitungen sensibler werden lässt, quasi als „fortschreitende Disziplinierung“ in einem langfristigen Wandel der Persönlich-keitsstrukturen.

Der Soziologe Norbert Elias hat diesen als „Prozess der Zivilisation“ in Form einer „Psychogenese“ (Bd. 1) erforscht. Interessanterweise sieht auch er ambivalent auf die seelische Entwicklung der Menschheit über die Epochen hinweg, indem er sie nämlich einerseits als Lerngeschichte der Angst vor eigenen Fehlern oder peinlicher Bloßstellung durch andere wahrnimmt, woraus er mit vermehrter Scham im Laufe der Zeit ein zunehmendes psychologisches  Verständnisses („Psychologisierung“) des Verhaltens anderer und dessen Folgenabschätzung („ Rationalisierung“) im Sinne einer resilienten Selbstfürsorge entstehen sieht. Diesen innerseelischen Kompetenzgewinn der Staats-bürger glaubt er auch aus staatlichen Entwicklungen zu erkennen, die er aus individuellen (Manierenbüchern) und historischen Textquellen  des 10. bis ins 19. Jahrhunderts erforscht hat. Somit postuliert Elias eine „Soziogenese“ (Bd. 2), die er in einem Wandel der Sozialstrukturen (Feudalisierung, Monopolisierung, Vergesellschaftung dieser Monopole) feststellt, indem er eine fundamental gewachsene, dynamische (bio-psycho-soziale?) Verflechtungsordnung unterstellt.

Die Kehrseite der Medaille ist, laut N. Elias, dass wir den kulturellen Anforderungen unserer Zivilisierung kaum genügen können, ohne Schaden zu nehmen, weil Disziplinierung und Sensibilisierung, Normierung und Scham komplex ineinandergreifen. Gegenseitige Abhängigkeiten wachsen, Menschen sich zunehmend rational-vorausschauend auf schamhafte Selbst- und Über-Ich-Kontrolle ihrer Impulse einlassen, ihre Triebe und Affekte dämpfen. Flaßpöhler sieht Freud´s Psychoanalyse deckungsgleich und resümiert: „Um sensibel zu werden, müssen wir uns zähmen, ...“ (S.18). Anpassung ist bei F. gefragt, aber nicht aus Zwang, sondern aus Leidenschaft!

In seiner Kernthese zeigt Norbert Elias den Menschen also als Täter und Opfer der Zeitströme: „Interdependenzketten“ werden mit den Jahrhunderten enger, „Planungs-druck“ erhöht und Außenzwänge (Fremdkontrolle) erzeugen Innenzwänge (Selbst-kontrolle). Mit der Zeit entwickeln sich Untertanen zu Bürgern und Staaten, egal ob dirigistisch oder liberal, monopolisieren ihre Macht einvernehmlich und zwar durch prosperierende Geldwirtschaft, staatliche Gewaltverschiebung von Einzelnen hin zum Staat und daraus resultierender Pazifizierung. Unberechtigte Aneignung durch Gewalt wird in der Moderne nunmehr selbstverständlich sanktioniert wie aktuell auch gegenüber der Russischen Föderation, Belarus oder der Türkei.

Die biogene Entwicklung – denken Sie an die Epigenetik der Angst in Deutschland (mein Beitrag im Archiv 2020 zu dem Buch von Frank Biess: „Republik der Angst“, 2019) - geht bekanntlich der psycho- und soziogenetischen Regelhaftigkeit voraus. Elias nennt deshalb Psycho- und Soziogenese ein „Grundgesetz“ im Vorwort zu seinem Hauptwerk 1969. Richtungsweisend für den Zivilisierungsprozess hält er bei allen drei Komponenten jedoch ein Doppeltes: die Macht-Enteignung der Einzelnen - die allerdings modulierend eingreifen können und nicht schicksalhaft ausgeliefert sind - und die größere Freiheit der Vielen - die sensibilisiert sind und ihre Bedürfnisse beanspruchen wollen. Wie wir am Beispiel der Unterdrückung geschlechtsidentitärer Gruppen, auf die F. näher eingeht, feststellen müssen, lassen totalitäre Staaten keine Ambivalenz zu, sondern sie konditionieren Abweichler mit „Fremdzwängen“, beschämen gezielt und provozieren „Selbstzwänge“. „Der Mythos vom Zivilisationsprozess“ (Buchtitel von Hans Peter Dürr zur Kritik an Elias), begibt sich also, so die Kritik, in liberalen Demokratien durch eben diese althergebrachten kulturellen Grenzen auf eine Zerreißprobe; und da verschweigt Flaßpöhler, dass die Theorie von Elias umstritten bleibt (auch am Beispiel der Naturvölker, die bereits enge kulturelle Grenzen kannten, so primitiv sie erschienen).   

Flaßpöhler übergeht die Kritik an Elias, ebenso an Ernst Jünger oder an der positiven Psychologie, indem sie der Resilienz-Theorie ihre Referenzen entgegenbringt: Einblicke in die psychischen Mechanismen unter traumatischen Bedingungen (von Ernst Jünger) bestätigen sie in ihrer Ansicht, dass Menschen in verheerenden Weltkriegen nicht nur zu unvorstellbarer Gewalt fähig sind, sondern dass sie diese auch auszuhalten lernen (Resilienz) oder, was sie verschweigt, von vornherein, ressourcenbedingt, dazu in der Lage sind, diese auszuhalten (Resistenz). Anschließend, in Friedenszeiten würden die Kriegserfahrenen sich aber in „innerer Verpanzerung zwischen den Kriegen“ durch „Verhaltenslehren der Kälte“ (F. zitiert Helmuth Lethen) seelisch zu verschließen lernen. In diesen Zwischenzeiten sei der Appell an die Widerstandskraft (gegen emanzipative Veränderungen, HUB) hart und unsensibel, männlich und nach gewisser Latenz dazu aufgestachelt, im faschistischen Extrem zur „Ausgeburt entfesselter Männergewalt“ zu werden („offene Wunde“ Ernst Jünger), sich zum Endpunkt aus dem „Normalfall des Mannes unter kapitalistischen/patriarchalen Bedingungen“ (Klaus Theweleit) zu ent-differenzieren, im „Neusprech“  zum „toxischen Mann“ zu entwickeln  (Theweleit spricht in den 70er Jahren noch vom „soldatischen Mann“: einer der zum Martialischen, in der Nachfolge des Kriegsgottes Mars, fähig ist.).

Gehen wir gegenwärtig einem „Entzivilisierungsschub“ entgegen, wie ihn Elias am Beispiel des deutschen Nationalsozialismus beschrieben hat? Oder werden wir gar wie in Friedenszeiten unsere Identität weiterhin übersensibel zu schützen wissen, was F. zu befürchten scheint? 

Wozu ist das Buch gut?

Der Wert dieses Buches liegt darin, dass die Leser*innen lernen können, die Scheu vor der Philosophie zu verlieren und daran zu arbeiten, eine Selbsterkenntnis und eine Gesellschaftstheorie zu entwickeln, die der hier vorfindlichen u.U. auch fundamental widersprechen, also die Philosophie der S. F. „vom Kopf auf die Füße stellen“ kann (Bemerkung HUB: Hegel vom Kopf auf die Füße zu stellen, heißt nach K. Marx sinngemäß , die Mächte zu analysieren, die sowohl den politischen Staat als auch die Köpfe der Menschen beherrschen. Das führt zur Erkenntnis, dass nur derjenige ökonomisch herrschen kann, der auch über die Köpfe der Menschen herrscht.)

Worin liegt der systematische Fehler des Buches?

Sollen Resilienz und Sensibilität nicht Schwestern sein, wo F. doch in ihrem neuesten Buch „Sensibel (2021) auf 231 Seiten den Gegensatz zwischen progressiver Sensibilität (als Wehrhaftigkeit diskriminierter Gruppen) und regressiver Wehleidigkeit genau in dieser Verschwisterung (dialektisch) aufgehoben sehen will?

Sonst drohe der rationale Zusammenhalt der Massen mit der menschheitsgeschichtlich zunehmenden Sensibilisierung des Einzelnen in Gruppen an einen gesellschaftlichen Kipppunkt zu geraten, der weder mit „kalter Verpanzerung“, noch mit Gleichheits-fanatismus (Toqueville´sches Paradox) aufzuhalten sei, sondern nur im „Neuen Menschen“ (Anmerkung HUB: sagt sie so nicht! Wäre aber ein philosopiegeschichtlich interessanter Querverweis gewesen.), der sensibel-resilienten Persönlichkeit, die in Zukunft auszubalancieren sei, schwesterlich eben.

Wo bleiben da die martialischen, „soldatischen“ Männer (benannt nach Kriegsgott Mars, bzw. Klaus Theweleit), die wir heute getrost „toxisch“ nennen können, nach all dem Kriegsleid. Aber bitte keine Übertreibungen!? Die Widerstandskraft soll schließlich nicht verabsolutiert werden; sie sei „vielmehr aus dem Prozess der Sensibilisierung selbst herauszuarbeiten“ (S.213). Als Flintenweiber (?) oder doch im Geiste der revolutionären Hoffnung „Alle Menschen werden Brüder“ …?

Das klingt mittlerweile alles „aus der Zeit gefallen“ (Kanzler Scholz am 1.Mai 22 zum Pazifismus). Kein halbes Jahr nach Veröffentlichung des Buches „Sensibel“ können wir schon das nächste Buch von F. erahnen. Aus ihrer stupenden Kenntnis der von F. postulierten Antipoden Nietzsche und Levinas, Norbert Elias und Hans Peter Dürr (den Kritiker von Elias erwähnt sie aber nicht), Ernst Jünger und Siegmund Freud, Jaques Derrida und Judith Butler, werden „Snowflakes“ und „OK Boomer“ detektiert, in einer vermeintlich hypersensibilisierten Gesellschaft, in der ein zunehmender Anteil ihrer Mitglieder auf Identitätssuche sei. Die Suche Sensiblen begreift F. aber nicht als Folge psycho-struktureller Defizite oder sozioökonomischer Interessenslagen, sondern verkehrt sie als Modetrend, so etwa am Beispiel eines pandemiebedingten Distanzverlangens, das sie als seelische Erleichterung unter entsprechendem Distanzgebot nachempfinden kann. (S.191) 

Der Leser könnte sich in ein philosophisches Proseminar versetzt fühlen (Polemik in der „Titanic“), aus dem F. sich fortwährend zu befinden scheint, um als Muster-Studentin zu brillieren: „Wann muss die Gesellschaft sich ändern, weil ihre Strukturen schlicht ungerecht sind – und wann muss das Individuum an sich arbeiten, weil es die Chancen, die es doch eigentlich hätte, nicht nutzt?“ (S. 204). Als Mann möchte ich entgegnen: Das handelnde Subjekt ist nun so oder so politisch, trotz Frauenquote und da gebe ich F. recht: „Die Grenze zwischen gesellschaftlicher und individueller Verantwortung ist heute nur schwer zu ziehen; vielmehr wird sie, je stärker eine Gesellschaft auf Chancengleichheit setzt, immer fließender, wodurch auch der Begriff des Privilegs sich verwässert: Wo hört das Vorrecht auf, wo fängt die Eigenleistung an?“ … „Die Sensibilität für Differenz, der Verweis auf <Strukturen>, kann auch ein Ablenkungsmanöver sein.“ (S. 205) F. meint aber, Leistungsgesellschaft sei eben ungerecht: Ungleichheiten seien, utilitaristisch gesehen, auch nur dann gerechtfertigt, wenn sie der Gesamtgesellschaft zugutekommen. F. fordert so nicht nur „das Glück der größtmöglichen Zahl“; sie gibt darüber hinaus zu bedenken, dass eine möglichst gerechte Gesellschaft gleichwohl dieses Glück nie vollumfänglich schützen könnte („zumindest dann nicht, wenn wir nach wie vor in Freiheit leben möchten“ S.207). Das Subjekt habe vorrangig für sich selbst zu sorgen! Wenn eine Gesellschaft dafür sorgt, dass Ungleichheit nicht in Ungerechtigkeit mündet, dann dürfe sie nicht anstelle der Individuen handeln, weil es einen unausweichlichen Punkt gäbe, „an dem ein Mensch selbst zur Tat schreiten und für das eigene Leben Verantwortung übernehmen muss. Tut er es nicht, bleibt er ein Kind.“ (S.207). Strukturelle Defizite würden sich spätestens dann zeigen, wenn „Sensibilität in Regressivität“ zurückschlägt, „wenn sie verabsolutiert und glorifiziert wird.“ Das von F. polarisierend erachtete Gegenteil (sehen wir gerade auch in der Ukraine): „Dass Empathie Gewalt nicht nur verhindert, sondern auch begünstigen kann, gehört zur tiefen Zwiespältigkeit der Sensibilität.“ (S. 209). Hans-Jürgen Biehling (Schwäbisches Tagblatt vom 9.5.2022) spricht in diesem Zusammenhang von der „Anton-Hofreiterisierung“ unserer Debatten. Mitigation (dahingehend, dass Schlimmstes noch rechtzeitig verhindert werden müsste, wie Klimakatastrophe, Kriege und Migrationsdruck) ist in ihrem ganzen Buch (noch) nicht ihr Thema, Adaptation ist gefragt (dem Lob der Anpassungsfähigkeit widerspricht übrigens die Soziologin Stefanie Graefe in ihrem 2019 in zweiter Auflage erschienenem Buch „Resilienz im Krisenkapitalismus“ s. a. Zitate im Folgenden).

Also, wem dient die Sensibilisierungs- und Resilienz-Balance, die F. als „Ideal-bündnis“ hochstilisiert? Die Kraft, die aus dem Sensibilisierungsprozess kommt, „wohnt in der menschlichen Schaffenslust“, „...in den Formen, dem Scheitern der Repräsen-tation“, ...“in der archaischen Vorgeschichte, die der Zivilisationsprozess in sich trägt“, „sie wohnt in der Verletzlichkeit jedes Menschen und ist ein Schatz der gehoben werden will. (S.213)“ Ist das alles Philosophieklitterung im outfit der New-Wave-Ästhetik?

Dem ließe sich entgegenhalten: „Mit »Resilienz« wird vor diesem Hintergrund nicht zufällig eine Norm der Selbst- und Menschenführung populär, die die flexible Anpassungsfähigkeit von Subjekten und Systemen an eine prinzipiell krisenförmige Umwelt propagiert. Wer resilient ist, so die Botschaft, bleibt auch in unsicheren Zeiten erfolgreich, glücklich und gesund. Gesellschaftliche Strukturbedingungen werden dabei tendenziell unsichtbar.“

Wo bleibt die heilende Kraft des Sozialen in resilienten Gemeinschaften, wo die Solidarität? Stressfolgen (Überforderung durch Personalmangel, burn-out und Depression) mit Trainingsmaßnahmen zu begegnen steht mit jenen Diskursen und Programmen in Konkurrenz, die auf Erschöpfung als Legitimation einer emanzipativen Forderung zurückgegriffen haben (z.B. Berufsverbände, Gewerkschaften) (nach Graefe, S.,  2019, https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-4339-8/resilienz-im-krisenkapitalismus/ ). „Es ist einfacher und natürlich auch billiger, das Individuum in die Pflicht zu nehmen.“ (Graefe, S. in: Die Zeit, Nr. 21, S.32).

Wie verlaufen die Grenzlinien der medialen Kritik?

Eine weitgehende Kritik lautet, dass Resilienz und Sensibilität überhaupt keine Gegensätze sind und Flaßpöhlers Ausführungen auf einem unzutreffenden Subjekt-Konstrukt beruht (Aurelie von Blazekovich in SZ vom 19.10.2021: „Dass Verletzlichkeit eine Stärke sein kann, erklärt inzwischen Heidi Klum ihren Topmodell-Kandidatinnen“).

Die weitestgehende (mir bekannte) Kritik kommt von der Philosophin, Sozialwissen-schaftlerin und Autorin Margarete Stokowski im „Spiegel“:

(https://www.spiegel.de/kultur/richard-david-precht-und-svenja-flasspoehler-im-talk-lasst-die-philosophie-da-raus-kolumne-a-97a5d8bd-a261-4601-8ce3-c755cd7c0ce4):

„Es gäbe so viele Fragen, die man in einer Pandemie aus philosophischer Sicht erörtern könnte: Was ist eigentlich Verantwortung? Was ist Solidarität? Welche Arten von Freiheit stehen möglicherweise im Konflikt miteinander? Wie handelt man, wenn man Entscheidungen treffen muss, aber nicht genug Wissen über die Situation hat? Wie entstehen politische Kollektive? Wie viel vom Sozialen lässt sich ins Digitale übertragen? Was sind die Aufgaben des Staates in Notsituationen? Und wie hält man es aus, dass Menschen sterben? ...Man kann Philosophie natürlich auch außerhalb der Uni und in verständlicher Sprache betreiben, aber man kann sie halt auch in den Dreck ziehen. Precht und Flaßpöhler gleichen sich darin, dass sie gern populistische Meinungen vertreten, ohne sich groß um Belege zu scheren, und beide kommen bei ihren Überlegungen mit absolut präziser Treffsicherheit am rechten Rand bürgerlichen, antiemanzipatorischen Denkens raus, egal, ob es um die Pandemie geht oder um Geschlechterrollen. … Sie setzt schon seit einer Weile, spätestens seit ihrem Buch »Die potente Frau«, auf die absolute Dankbarkeit, mit der bürgerliche Medien und Einzelpersonen es immer wieder förmlich aufsaugen, wenn eine Frau, eine promovierte Philosophin, eine Chefredakteurin – also offensichtlich eine Intellektuelle und Macherin – ihnen in gebildeter Sprache darlegt, warum sie mit ihrer Skepsis gegen alles Linke, gegen Feminismus und Antirassismus, einfach recht haben. Wird schon was dran sein.“

Was sagt das?

Antworten auf meine zu Eingang gestellte Frage, worum es geht:

  1. Vulnerabilität (=Erschöpfung) ist der Gegensatz zur Resilienz, nicht Sensibilität! Flaßpöhler hat das wichtige Thema des „subjektiven Faktors in der Gesellschaft“ verfehlt, indem sie eine Chimäre (Gespenst) aufbaut, um sich ideologisch in die Identitätsdebatte zu begeben und gesellschaftliche Zusammenhänge (Rassismus, gender-pay-gap, Armut, Vulnerabilität von Gruppen, Kriegsfolgen, verfehlte Friedenspolitik, Hunger, Klimawandel und Planetare Gesundheit) außen vor zu lassen. Und das tut sie in nicht-uneitler Selbstbespiegelung.
  1. „Generalisierte Widerstandsressourcen“, Resistenz also und nicht Resilienz ist der eigentliche Gegenspieler zur Sensibilität, wenn es um Bewältigung von Stressoren geht. Und damit müsste F. das Konzept der Salutogenese von Aaron Antonovsky anführen, das Resistenz aus den psychodynamischen Strukturen und dem daraus entstandenen Kohärenzgefühl „SOC“ (nicht zu verwechseln mit der „Resonanzsensibilität“ von Hartmut Rosa, in seinem Buch „Resonanz“.) des Individuums erklären kann, dem Dreiklang des SOC von Verstehbarkeit, Bewältigbarkeit und Sinnhaftigkeit des Lebens. Damit sind gesellschaftliche Voraussetzungen angesprochen. Die „Trainierbarkeit“ einer psychischen Stabilität bei gesellschaftlich diskriminierten Gruppen verkürzt das Problem mangelnden Zugehörigkeitsgefühl auf die Reaktanz, die durch individuelles Wohlgefühl für angemessen gehalten wird. Der Zivilisierungsprozess ist aber ein Machtspiel, dessen Gewalt am Subjekt seine Wirkung findet. Vulnerabilität ist dann nicht selten ein Leidensfall, der zur therapeutischen Aufgabe über Jahre psychodynamischer Durcharbeitung innerer Konflikte, oder einer integrierten Traumatherapie werden kann. Im Spektrum von Verstocktheit und Weinerlichkeit, das F. postuliert, sind diese Menschen jedenfalls nicht so leicht als Leidende erkennbar. Was die erhöhte Suizidrate der „Queeren“ aber zeigt, wird hier ein Problem wenig beachtet.

Wenn F. die o. g. Fachbegriffe und ihre Bedeutung für ihr wichtiges Thema differenziert hätte, z.B. um die Einsamkeit in Industriestaaten zu ergründen, hätte sie ein ganz anderes Buch schreiben können, das sicherlich aus gegebenen Anlässen unfriedlicher Auseinandersetzungen auch bei uns seine zunehmende Aktualität bekäme. Vielleicht wäre diese Wendung des gleichen Themas sensibler, aber weniger populär gewesen?

  1. Die Psychologisierung durch F. in ihrem Buch „Sensibel“ kann soziale Ungleichheiten verschärfen helfen, weil sie auf Ursachen der Vulnerabilität nicht gesellschaftsanalytisch eingeht. Beabsichtigt hatte sie aber bestenfalls die Besänftigung aufgebrachter Kontrahenten in der gegenwärtigen Identitätsdebatte. Und die sind einem Training mit Yoga und Achtsamkeit bekanntlich nicht zugänglich. „Nicht jeder Schmerz muss ausgehalten, aber auch nicht jeder Schmerz gesellschaftlich verhindert werden.“ (S.25)
  1. Die Grenze des Zumutbaren sieht F. „auf beide Seiten der Frontlinie“ in Verabsolu-tierungstendenzen, sowohl in verabsolutierter Resilienz, weil sie „die Ansprüche der anderen an sich abprallen“ (S. 25) lasse. Aber auch eine verabsolutierte Sensibilität sei unzumutbar, „weil sie den Menschen auf ein verletzliches, schützenswertes Wesen reduziert, das sich nicht selbst zu helfen weiß.“
  1. Weil F. Resilienz nicht definiert verschleiert sie die Anpassungsleistung, die sie fordert: In unserer bestehenden Meritokratie (Herrschaft der besonders Verdienten) kann und soll das zeitgenössische Subjekt („Homo resiliensis) „an sich selbst“ arbeiten, freiwillig mit Belohnung, sich an riskante und unsichere „Umweltbedingungen“ durch Selbstregulation und Selbstwirksamkeit bedürfnisgesteuert flexibel anpassen. Trotz widriger Umstände kann es so eine sog. interne Kontrollüberzeugung entwickeln, das eigene Schicksal mitbestimmen zu können. Auf derselben Linie könnte gefordert werden, Unternehmen, Finanzmärkte, Regenwälder, Demokratien, Infrastrukturen sollten resilient werden. Seit 2011 besonders im Fokus: Soldaten der US-Armee sollen zur Resilienz trainiert werden, durch Positive Psychologie (nach Martin Seligman. Das Programm solle „die psychologische Stärke und positive Leistung der gesamten US-Armee erhöhen und die Häufigkeit von maladaptiven Reaktionen verringern.“

(https://psycnet.apa.org/doiLanding?doi=10.1037%2Fa0021420)

  1. Sind das die Botschaften dieses Buches? Passt Euch besser an, ihr Heulsusen! Habt euch nicht so, ihr Versager mit eurer Weinerlichkeit (passive Sensibilität); holt lieber das Beste aus euch raus (aktive Sensibilität)! Männlichkeit ist solange nicht toxisch, wie Erotik durch Identitäts-Blasen nicht vollends verhindert wird.

 

Wie wird wohl ihr nächstes Buch heißen?

Mein Tipp: „Einsamkeit“ – Volkskrankheit oder Philosophie?

Schauen Sie aber selbst, was in diese Reihe passt: F. kontrastiert in „Sensibel“ zur Verdeutlichung übertrieben identitätsbildende Gefühlsbetonungen und konstruiert dadurch starke Gegensätze, wie in all ihren Büchern, in denen sie ihren Leser*innen dialektisch zu Kompromissen verhilft: „Über Eifersucht und Liebe“ (2008) findet sie zum „gute(n) Gift“, „Über Freiheit und Zwang in der Leistungsgesellschaft“ (2011) zum „Genussarbeiter“. „Der Wille zur Lust“ (2007) erklärt ihr das „moderne Subjekt“. Täter- und Opferrolle sind Kehrseiten einer Medaille im „Umgang mit Schuld“ (2016) oder wenn „Die Potente Frau“ (2018) entsteht, weil Frau sich selbst und ihre Lust als potente Größe begreift, sich aus ihrer Opferrolle befreit und so ein neues Geschlechterverhältnis gelingt – wer will da ihren Copingstrategien widersprechen, in einer Zeit der großen Probleme, die sie unberücksichtigt lässt, zugunsten des kleinen Glücks des Einzelnen?

Frage an die Diskussionsrunde:

Angenommen, wir in West-Europa würden in Balance leben können, zwischen feinfühliger Rücksichtnahme auf uns selbst und andere und uns fair mit anderen auseinandersetzen, wie Flaßpöhler das in ihrer Auffassung von Resilienz propagiert. Hätten wir dann endlich den Kopf frei, um uns den planetaren Katastrophen effektiver zu widmen, die uns immer größere Sorgen bereiten: Rasante Erderwärmung, kriegsbedingtes Leid, Hungersnöte und klimatisch  bedingte Krankheitszunahme?!

 

3. Diskussionsbeiträge

Winfried Thaa stellt fest, dass der Impuls von Ulli Brändle Flaßpöhlers Buch in mehrfacher Hinsicht kritisiert hat. Nicht zuletzt darin, dass die Verfasserin grundlegende Kategorien wie Resistenz und Resilienz falsch verwende. Er schlägt vor, zunächst jedoch die Hauptaussagen bzw. die Grundthese des Buches zu diskutieren. Von den Teilnehmenden werden folgende Beiträge eingebracht:

  • In ihrem Buch diagnostiziert Flaßpöhler das gesellschaftliche Phänomen einer überzogenen Sensibilisierung und skizziert den Gegensatz von Sensibilisierung und Resilienz. Die Frage ist: Wie belegt sie diese Argumentation? Bezieht sie sich dabei auf Studien oder behauptet sie dies einfach? Nach H.-U. Brändle argumentiert sie in ihrem Buch nicht empirisch, sondern neigt zu populistischer Plausibilität.
  • Eine übermäßige und übertriebene Sensibilisierung ist insbesondere in den sog. ‚Blasen‘ festzustellen. Jedes Gegenargument wird als Verletzung bzw. unzumutbar empfunden oder in bestimmten Kreisen spricht man nicht mehr von Mann und Frau, da eine solche Sichtweise das sog. dritte Geschlecht diskriminiere.
  • Der Vorwurf, das Buch rufe dazu auf, sich anzupassen, stimmt so nicht. Flaßpöhler unterscheidet wiederholt zwischen einer passiven und einer aktiven Sensibilität und plädiert immer wieder für individuelle und kollektive Handlungsfähigkeit. Allerdings geht sie sehr wenig auf politische und gesellschaftliche Strukturen ein, sondern schlägt, nachdem sie die grundsätzliche Ambivalenz von Sensibilität erörtert hat, eher den Ton eines Ratgeberbuches an. Sie fixiert sich also sehr auf das Individuelle, während sie im Interview mit David Precht (Sendung ZDF) diese Ambivalenz mehr auf politische Zusammenhänge bezieht.
  • Empathie und Sensibilisierung waren eine entscheidende Voraussetzung für den menschlichen Fortschritt bzw. den Prozess der Zivilisierung, u. a. Abschaffung der Sklaverei, Anerkennung von Minderheiten, Gleichberechtigung von Mann und Frau. Daran lässt Flaßpöhler eigentlich keinen Zweifel. 
  • Sensibilität im Sinne des Mitleidens mit anderen hat aber einige nicht unproblematische Kehrseiten, die bereits im 18. Jahrhundert diskutiert wurden, als Mitleiden eine zentrale ästhetische und politische Kategorie wurde. Dazu gehört zunächst der auf das eigene Selbst bezogene Aspekt des Mitleidens, nämlich „das Vergnügen gerührt zu werden“ ohne selbst leiden bzw. Schmerz empfinden zu müssen, so Friedrich Nicolai 1756 über die Rolle des Mitleids im Trauerspiel. Das Mitleid mit Opfergruppen (im 18. Jahrhundert wurden die Helden des Trauerspiels interessanterweise Frauen, so bei Lessings Emilia Galotti oder Schillers „Kabale und Liebe“) kann die Empfindung einer allgemeinen menschlichen Gleichheit befördern, hat aber auch die Seite des Selbstgenusses und der moralischen Selbstrechtfertigung des Mitleidenden. Er kann sich als besserer Mensch fühlen, und zwar auch ohne, dass er konkret handelt.
  • Die Inanspruchnahme von Sensibilität kann zur Abgrenzung von denen führen, die (vermeintlich) weniger sensibel sind. Das war immer schon eine Kehrseite von Zivilisierungsprozessen, die Gewalt legitimieren kann, indem man im Namen einer höheren Moral agiert und sich über bestehende Regeln hinwegsetzt. Diese Gefahr nennt Flaßpöhler zwar immer wieder allgemein, führt das im Buch aber nicht weiter aus.
  • Je mehr Grenzen gesetzt werden, desto mehr Grenzüberschreitungen werden riskiert. Das sich absetzen von anderen, führt unweigerlich zu Polarisierungen.
  • In der Corona-Pandemie ist durch die ‚Zwangsmaßnahmen‘ des Staates eine besondere Sensibilität entstanden. Ein Teil der Gesellschaft will sich nicht so viel vom Staat vorschreiben lassen.
  • Die Zivilisierung der Gesellschaft führte auch zur Pazifizierung des Einzelnen mit der Folge, dass Individuen Gewalt an den Staat abgeben.
  • Was wird mit dem Prozess der Zivilisation passieren, wenn wir z. B. in eine Katastrophe geraten wie Klimakatastrophe, Krieg oder soziale Verwerfungen?
  • Ein Teilnehmer zeigte sich ratlos über die Aussage einer Frau mit schwarzer Hautfarbe, die sich sagte, niemand mit anderer Hautfarbe könne sich in sie hineinversetzen. Minderheiten erwecken zuweilen den Eindruck, nur Menschen ihresgleichen können sie verstehen oder vertreten. Angesichts der bestehenden Vielfalt und Unterschiede hat eine solche Sichtweise gravierende Folgen für den Zusammenhalt in der Gesellschaft.
  • Eine Grenze der Sensibilisierung sei überschritten, wenn z. B. an der Universität für Promotionen oder Diplomarbeiten Vorschriften betr. der Schreibweise verpflichtend erlassen werden (z. Genderstern), ebenso wenn bei Ausschreibungen juristische Auseinandersetzungen zu befürchten sind, wenn im Ausschreibungstext neben m und w nicht ausdrücklich das sog. dritte Geschlecht (d) angegeben ist. Wenn eine ‚Minigruppe‘ zum Maßstab wird, führt dies zu einem Zwang. Insbesondere im Kontext einer gendergerechten Sprache sei inzwischen vieles übersteigert, als ob es nicht andere, weit größere Probleme gebe. Die Frage ist, ob wir uns angesichts einer dringend nötigen Widerstandskraft, u. a. für die Energiewende (Windkraftanlagen), auf Dauer solche überzogenen Empfindlichkeiten leisten können.
  • Kann ich nur empathisch sein, wenn gleich bin wie der andere? Fakt ist, wir sind alle verschieden, aber grundsätzlich dazu fähig, uns in andere hineinzuversetzen. Allerdings ist der Appell von Flaßpöhler zu mehr Resilienz (Bsp. ‚Du darfst als Schwarzer nicht zu sensibel sein‘), nicht förderlich.
  • Politisch müssen diese unterschiedlichen Sichtweisen in der Gesellschaft ausgehandelt werden, so Hans-Ulrich Brändle. Nötig für eine gemeinsame Orientierung sei dann aber auch eine Entscheidung des Staates, also die ‚Gewalt‘ des Staates, die klärt, was gilt.

 

Rottenburg, 03.06.2022

Karl Schneiderhan

 

 

 

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