Förderverein Stadtbibliothek Rottenburg

30.10.2023: Die Landtagswahlen in Bayern und Hessen: Auswirkungen auf die Parteienlandschaft und die Demokratie in Deutschland

1.Begrüßung und Einführung (Karl Schneiderhan)

 Am Wahlabend erfahren wir in Wahlsendungen aktuelle Informationen zu: Wer hat wen gewählt? Welche Wählerwanderungen gab es? Was waren die Motive für die Wahlentscheidung? Welche Lehren sind aus den Wahlergebnissen zu ziehen? Anlässlich der jüngsten Landtagswahlen in Bayern und Hessen kommentierte Bettina Schausten im ZDF noch am Wahlabend, die Wahlergebnisse lehren zwei Lektionen: Debakel für die Ampelregierung und die AfD sei kein ostdeutsches Phänomen mehr, Deutschland rücke mit Rekordergebnissen nach rechts.

Wenn wir heute, drei Wochen danach, diese Wahlen nochmals zum Thema machen, kann man zurecht fragen, ob darüber hinaus neue Erkenntnisse vorliegen, die eine Diskussion wert sind. Für uns hat sich in der weiteren Befassung mit den Wahlergebnissen jedenfalls die Erkenntnis verfestigt, es gibt mehr als diese im ZDF genannten beiden Lektionen, insbesondere hinsichtlich der Frage, welche politischen Auswirkungen, immerhin waren ca. ¼ der Wählerschaft der BRD zur Wahl aufgerufen, diese für die Politik auf Bundesebene sowie für Parteienlandschaft und Demokratie haben. Daher sind neben den Fragen, wer hat wen gewählt, was waren die Motive für die Wahlentscheidung oder welche Wählerwanderungen gab es, weitere Fragestellungen interessant, wie zum Beispiel:

Hat die Stimme der Vernunft gegenüber den oft schrillen Tönen in Wahlkämpfen doch noch eine Chance? (vgl. Boris Rhein in Hessen und Markus Söder in Bayern)

Was bedeutet es für eine Demokratie, wenn über 10% der abgegebenen Wählerstimmen im Parlament nicht (mehr) vertreten sind? (Bayern ca. 10%, Hessen ca. 12%)

In soziologischen Analysen wird festgestellt, wie die Schere zwischen arm und reich weiter auseinandergeht, was sich bei Wahlentscheidungen aber nicht niederschlägt. Wo bleibt die Vertretung der Interessen jener, die ökonomisch und finanziell unter die Räder kommen? Was sind Gründe, dass ‚Die Linke‘ nicht mehr als Anwalt der Benachteiligten gesehen bzw. ihnen nicht mehr die nötige Kompetenz zugesprochen wird?

Welche Zukunft wird ‚Die Linke‘ haben, nachdem Sarah Wagenknecht erklärt hat, bei den kommenden Wahlen mit einer neuen Partei anzutreten, erstmals bei der Europawahl und möglicherweise auch bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg im Jahre 2024?

Wie erklärt sich die überraschend hohe Zustimmung der jüngeren Generation zur AfD im Vergleich zu anderen Altersgruppen?

Welche Rolle wird künftig die FDP als liberale Kraft in unserem Lande spielen?

Wie wird sich das Verhältnis CSU und Freie Wähler entwickeln? Ist die gezeigte Harmonie (u. a. anlässlich der Präsentation des Koalitionsvertrages) wirklich getragen von innerer Sympathie und gemeinsamer politischer Zielsetzung?

Welche Entwicklungen gibt es im Verhältnis Stadt-Land? (vgl. Gewinne in kleinen Gemeinden für die CDU in Hessen, Verluste für die CSU in Bayern)

Gibt es erkennbare Unterschiede im Wählerverhalten zwischen Bayern und Hessen?

Diese wenigen Beispiele zeigen, dass es sich lohnt, über den Wahlabend hinaus die Ergebnisse zu analysieren und deren Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft zu bedenken. Wir hoffen, dass wir mit dem heutigen Gesprächskreis dazu einen informativen Austausch ermöglichen. Zunächst wird Winfried Thaa die Ergebnisse im Einzelnen analysieren.

 

2. Impuls Winfried Thaa (WT)

2.1 Folien

Präsentation ansehen

 

2.2 Thesen zur Beurteilung der Wahlergebnisse

Die Erfolge der AfD verdanken sich Stimmengewinnen aus allen politischen Lagern, auch von bisherigen Wählern der SPD und der Grünen. Schaut man sich die Wählerwanderungen genauer an, gibt es durchaus überraschende Bewegungen. (In Hessen etwa war die Wählerwanderung von SPD zu AfD deutlich stärker als von CDU zu AfD). Dazu Folien 34 und 35, bzw. interaktive Internetseite

Die AfD hat sich mit ihren Wahlerfolgen in Hessen und Bayern - zumindest vorläufig - auch in den westlichen Bundesländern als starke politische Kraft etabliert.  Es besteht die Gefahr, dass sie sich als die eigentliche Oppositionskraft gegen verschiedene Zweier- oder Dreierkoalitionen in Bund und Land etablieren wird.

Die Stimmenverluste der Ampelparteien sind nicht nur auf ihren häufig beklagten „Streit“ oder enttäuschende politische Ergebnisse zurückzuführen. In wichtigen Politikbereichen scheint während der letzten zwei Jahre ein deutlicher Stimmungsumschwung stattgefunden zu haben.

Dies gilt zum einen für die Zuwanderungspolitik und zum zweiten für die Einstellung gegenüber der ökologischen Transformation. Beide „Gezeitenwechsel“ sind im Übrigen über Deutschland hinaus auch in anderen europäischen Ländern zu beobachten (vgl. die Wahlergebnisse der Schweiz von letztem Wochenende).

In Bezug auf die Zuwanderung gibt es mittlerweile ein weit in liberale und linke Kreise reichendes Gefühl, dass es so nicht weitergehen kann.  Laut einer Umfrage von Infratest dimap (FAZ 10.10.23, S. 10) stimmen der Aussage, „Es braucht eine andere Asyl- und Flüchtlingspolitik, damit weniger Menschen kommen“ unter den Wählern der verschiedenen Parteien folgende Anteile zu:

Bayern: FW 98%, AfD 95%, CSU 89% SPD 56% Grüne 49%

Hessen: AfD 93%, FDP 91%, CDU 90%, SPD 56%, Grüne 47%.

Gleichzeitig besteht der verbreitete Eindruck, dass die demokratischen Parteien hilflos an einzelnen Regelungen „rumdoktern“. Es ist zu vermuten, dass insbesondere die Wahrnehmung einer solchen Handlungsunfähigkeit die aggressive Ablehnung „der da oben“ begünstigt und die Bereitschaft fördert, verbalradikalen Losungen zuzustimmen.

Was Ökologie und Klimapolitik anbelangt, scheint der Reiz der vor allem von Jugendlichen geprägten Bewegungen und die Aufbruchsstimmung, die noch vor Corona mit „Fridays for Future“ vorherrschte, verflogen. An ihre Stelle traten wirtschaftliche Ängste und die teilweise aggressive Zurückweisung weiterer „Zumutungen“ („Es reicht langsam“).

Die Wähler scheinen sich von der Nähe der Parteien und einzelner Politiker zum Rechtsextremismus nicht abschrecken zu lassen. Das gilt für die AfD, aber auch für Aiwanger und die FW. Das kann man schockierend finden. Man sollte aber daraus lernen, dass mit Skandalisierungen rechtsextremer Äußerungen oder Vergangenheiten des politischen Personals nicht viel zu erreichen sein dürfte (Gaulands Vogelschissäußerung, Höckes Spiel mit Naziparolen, Aiwangers Flugblatt).

Ein weiterer Aufstieg der AfD wird nicht zu verhindern sein, solange die demokratischen Parteien

  1. a) in der Zuwanderungsfrage nicht zu einer deutlichen Kursänderung bereit sind. Dabei scheint es mir vor allem wichtig, Handlungsfähigkeit zu zeigen und dem Eindruck zu begegnen, der demokratische Rechtsstaat sei in diesem Bereich hilflos. Kontraproduktiv dürfte es dagegen sein, mit der AfD in punkto Ressentiments und Verbalradikalismus zu konkurrieren.
  2. b) die z.T. ja längst gesetzlich festgelegten ökologischen Transformationsziele nicht von allen etablierten Parteien ernst genommen werden. Solange FDP, SPD und Union so tun, als wäre die Reduktion von CO2 das Projekt abgehobener Öko-Spinner und den Unmut über unpopuläre Maßnahmen anheizen, die sie eigentlich selbst mittragen müssten, solange wird die AfD sich weiter wirkungsvoll als Partei des gesunden Menschenverstands und der ökonomischen Vernunft profilieren können.

Grundsätzlicher fragt sich darauf bezogen, ob ökologische Reformen, die Kosten oder Abstriche an der bisherigen Konsum- und Lebensweise mit sich bringen, demokratische Mehrheiten gewinnen können.

Die jüngst zu beobachtenden Tendenzen zu einer verschiedene Themen übergreifenden Polarisierung (Stichwort Kulturkampf) haben sich im bayerischen Wahlkampf durch das aggressive Agieren von CSU und FW gegen die Grünen („gehören nicht zu Bayern“) zwar bestätigt. Ein Vergleich der Wahlergebnisse zwischen Hessen und Bayern spricht allerdings dafür, dass ein Einschwenken der Union auf eine Politik der kulturellen Polarisierung sich eher für die AfD auszahlen dürfte.

Generell lässt sich aus den Wahlergebnissen und den Wählerwanderungen eine weitere Lockerung der Parteibindungen beobachten. Dies schafft für Parteien und ihre Spitzenkandidaten Gelegenheiten, durch die emotionale Aufladung einzelner, medial im Mittelpunkt stehender Themen Zustimmung zu gewinnen.  Allerdings ist eine solche „Affektpolitik“, die auf die situative Mobilisierung meist negativer Emotionen wie Wut und Empörung setzt und durch die Logik der sozialen Medien zusätzlich begünstigt wird, für die etablierten Parteien nicht ohne Risiko. Wie weit sie sich durchsetzen wird und wir uns US-amerikanischen Verhältnissen annähern, hängt von den politischen Akteuren, den Medien und nicht zuletzt der allgemeinen politischen Kultur ab.

Die Ergebnisse bergen für alle demokratischen Parteien das Potential zu intensiven internen Konflikten. In der SPD werden vermutlich die Stimmen lauter, die in der Flüchtlingspolitik einen Kurswechsel nach skandinavischem Vorbild fordern, bei den Grünen werden die Spannungen zwischen „Realpolitikern“ und der von jungen akademischen Aktivisten geprägten Parteibasis zunehmen. In der CDU dürften sich die Auseinandersetzungen zwischen denjenigen, die mit Merz eine Rückkehr zur Politik der Zeit vor Merkel betreiben und denjenigen, die sich weiter in der politischen Mitte positionieren (vor allem die Ministerpräsidenten Günther, Wüst und Rhein) weiter zuspitzen. In der FDP schließlich wird es noch schwieriger sein, gegen einen Teil der eigenen, vor allem gegen SPD und Grüne orientierten Wählerbasis eine konstruktive Regierungspolitik zu betreiben.

 

3. Beiträge der Teilnehmer

  • Die Gründe für das Wahlergebnis wurden ausführlich dargestellt. Was zu kurz gekommen ist, ist die Betrachtung der Veränderung der Medienlandschaft. Wie informieren sich die Bürger, welche Rolle spielen z.B. das Springer-Fernsehen, die Bildzeitung oder die sozialen Medien? Wer liest noch eine Tageszeitung?
  • WT: Die Mediennutzung spielt sicher in der politischen Meinungsbildung eine große Rolle. Die AFD hat z.B. auf TicToc ca. 300.000 Follower, während es die SPD nur auf ca. 80.000 bringt. Offenbar sind die Rechten auf den „sozialen“ Medien besser vertreten. Immer mehr Menschen informieren sich über Nachrichtenkanäle im Internet, junge Menschen nutzen bevorzugt die „sozialen“ Medien.
  • Schüler kennen die AFD z.B. aus TicToc oder Youtube, Arbeiter nennen die AFD als ihre Partei. Es hat sich in Deutschland ein großer Niedriglohnsektor gebildet, sodass ein Teil der „klassischen“ Arbeiter gern nach unten tritt.
  • Die AFD ist die Partei des rechten Spektrums. Es müsste genauer untersucht werden, was sich an den Berufsgruppen geändert hat.
  • 7% der AFD-Wähler haben einen Hochschulabschluss. Aber auch die „Qualitätspresse“ und die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehsender üben einen Einfluss aus. So stehen ca. 56% der Redakteure des Deutschlandfunks politisch den Grünen nahe. Ist hier eine bestimmte politische Richtung tonangebend, wenden sich viele Menschen eher ab.
  • Für die Zukunft wird die Bildung von Regierungskoalitionen wahrscheinlich noch schwerer, wenn die neue Wagenknecht-Partei hinzukommt.
  • Die Wahlen haben gezeigt, dass die etablierten Volksparteien abgestraft wurden, und dass sich ein deutlicher Rechtstrend gebildet hat. Politische Inhalte werden zunehmen gefühlsmäßig aufgeladen, es entwickelt sich bei vielen Wählern der Wunsch nach einem „starken Mann“.
  • Offenbar ist auch ein Teil der FDP-Mitglieder mit der Politik ihrer Partei unzufrieden, wie die Wählerwanderung von der FDP zur AFD zeigt.
  • WT: Wer ist heute noch Arbeiter? Die Sozialstruktur hat sich in den letzten 30 Jahren stark geändert. Politische Inhalte werden sehr emotionalisiert und sind deshalb nicht mehr fest umrissenen sozialen Gruppen zuzuordnen. Parteien wählen bestimmte Themen, skandalisieren diese und erzeugen moralische Empörung, was die Gefahr von Populismus fördert. Allerdings könnte der Erfolg der CDU in Hessen auch das Gegenteil zeigen. Insgesamt ist das Wahlverhalten der Menschen volatiler geworden, sie wechseln ihre Parteipräferenzen schneller und leichter.
  • Wird die Bildung von Koalitionen durch die Gründung neuer Parteien schwieriger?
  • WT: Das ist noch nicht abzusehen, denn es ist offen, ob die Gründung einer neuen Partei gelingt. Dazu braucht es mehr als publikumswirksame Talk-Show Auftritte. Vor allem eine arbeits- und kampagnefähige Organisation auf kommunaler Ebene.
  • Ist die zu erwartende neue Partei von Sarah Wagenknecht das Ende der Linken oder kann sich die Linke zu dieser Partei positionieren?
  • Bei der von Sarah Wagenknecht gegründeten Initiative „Aufstehen“ waren auch viele SPD-Abgeordnete dabei, es wird spannend sein, ob die neue Partei auch wieder ein Sprungbrett zum Karrierestart wird.
  • Es ist nicht ausreichend, die AFD nur als „rechtsradikal“ zu bezeichnen. Man muss auch die politischen Ziele der AFD von links kritisieren, denn sie ist in vielen Punkten neoliberaler als die FDP.
  • Die Gesellschaft hat sich stark verändert und es ist gefährlich eine 20% Partei zu ignorieren. Sicher haben viele die AFD aus Protest gewählt, aber die AFD hat z.B. als einzige auf eine briefliche Anfrage zu den Themen Gendern oder Canabis reagiert.
  • Die über 60-Jährigen haben noch die Erinnerung an den Krieg, junge Leute kennen nur die Demokratie. Flüchtlinge können nicht einfach abgeschoben werden, hier gibt es keine einfachen Lösungen. Schließlich handelt es sich um Menschen und da muss man schauen, was mit denen passiert.
  • Mit Totschweigen oder Schönreden von mit der Migration verbundenen Problemen treibt man die Leute der AFD in die Arme. Ein Bespiel, wie man das anders machen kann, ist das Interview, das Landrat Walter im September dem Schwäbischen Tagblatt gegeben hat. Hier benennt ein verantwortlicher Politiker die realen Probleme, er argumentiert auf Grund von Fakten und sucht nach pragmatischen Lösungen.
  • WT: Viele Normalbürger haben die AFD aus Frust gewählt, die Wahlen haben aber auch gezeigt, dass es nichts bringt, die AFD moralisch in die Ecke zu stellen. Ein großer Teil der Wähler will nicht von einer akademisch gebildeten Elite belehrt werden. Die AFD wird zu wenig in den verschiedenen Politikfeldern gestellt: Was ist eigentlich mit ihrer Wirtschaftspolitik?

 

4. Verabschiedung

Karl Schneiderhan bedankt sich beim Referenten für seinen Impuls und bei den Teilnehmern für ihre Diskussionsbeiträge.

 

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