Förderverein Stadtbibliothek Rottenburg

25.09.2023: Felix Heidenreich: Demokratie als Zumutung - für eine andere Bürgerlichkeit

1. Einführung (Winfried Thaa)

Ich darf Sie zur ersten Veranstaltung unseres Gesprächskreises nach der Sommerpause herzlich begrüßen. Es geht heute wieder um ein Buch und zwar um Felix Heidenreichs „Demokratie als Zumutung“. Das Thema des Buches ist im weiteren Sinn die Krise der Demokratie bzw. die wachsende Entfremdung zwischen den Bürgern und ihren politischen Repräsentanten.

Unmittelbarer Anlass dieses Buch zu diskutieren waren für uns nicht die neuesten, ziemlich erschreckenden Umfragen zum Rückgang der Demokratiezufriedenheit, auf die Karl Schneiderhan gleich noch kurz eingehen wird. Wir fanden das Buch vielmehr interessant und diskutierenswert, weil es eine ungewöhnliche Interpretation der erodierenden Demokratieunterstützung, und mehr noch, weil es provozierende Vorschläge enthält, wie ihr begegnet werden sollte. Heidenreich kehrt die vorherrschende Perspektive der ja nicht erst seit gestern geführten Diskussion über die Krise der Demokratie um: Er fragt nicht, was die Bürger erwarten oder wie die Politik die Bürger wieder zufriedenstellen, wie sie wieder „liefern“ könnte. Er kritisiert diese Perspektive als Ausdruck einer „Konsumentendemokratie“ und fragt stattdessen, was man von Bürgerinnen und Bürgern erwarten muss, wie man sie ansprechen sollte, damit Demokratie funktionieren kann. Dabei rückt er die aktuellen Krisenentwicklungen immer wieder in einen breiteren philosophischen und ideengeschichtlichen Horizont, der von den alten Griechen bis zu zeitgenössischen französischen Denkern reicht und inhaltlich eher republikanisch als liberal zu bezeichnen wäre.

Felix Heidenreich wurde 1973 in Freiburg geboren. Er hat in Heidelberg, Paris und Berlin studiert. Er hat sich sehr früh schon mit französischen Denkern auseinandergesetzt und ist vor ein paar Jahren für seine Verdienste um den kulturellen Austausch zwischen Frankreich und Deutschland mit einem französischen Orden ausgezeichnet worden. In seiner Dissertation in Heidelberg geht es um den Philosophen Hans Blumenberg, seine Habilitation ist vor kurzem als Buch bei Suhrkamp unter dem Titel „Nachhaltigkeit und Demokratie“ erschienen. Felix Heidenreich hat seit Jahren eine Stelle als Wissenschaftlicher Koordinator am Internationalen Zentrum für Kultur- und Technikforschung der Uni Stuttgart.

 

2. Impuls zum Thema (Karl Schneiderhan)

Das Thema ‚Demokratie‘ erfährt derzeit wieder höhere Aufmerksamkeit. So fand am 15. September der seit 2007 von den Vereinten Nationen ausgerufene Tag der Demokratie statt, zur Förderung und Verteidigung der demokratischen Grundwerte, die heute alles andere als selbstverständlich sind. Zum andern leistete vor genau 75 Jahren der Verfassungskonvent in Herrenchiemsee die entscheidende Vorarbeit für das Grundgesetz und der Parlamentarische Rat begann seine Arbeit, wichtige Momente in der Geschichte unserer Demokratie. Auch stimmen mehrere aktuelle Studien durchaus nachdenklich, nach denen das Vertrauen in die Demokratie bzw. die Zufriedenheit mit ihr, wie sie in Deutschland besteht, unter die 50%-Marke gesunken ist.

Felix Heidenreich leistet mit seinem Buch einen wichtigen Beitrag zur Zukunft der Demokratie, weil er im Gegensatz zu bisherigen Veröffentlichungen eine neue Perspektive einbringt. Seine zentralen Thesen stellen wir im Folgenden vor.

Ausgangslage:

Phänomene der Krise bzw. Erosion

  • Das Verhältnis zwischen Bürgern mit ihren Interessen, Präferenzen und Bedürfnissen einerseits und politischen Verantwortungsträgern, demokratischen Institutionen und dem Staat andererseits ist gestört. (Entfremdung, Vertrauens- und Repräsentationskrise, mangelnde Responsivität, weit verbreitete Frustration gegenüber dem politischen Betrieb oder Angriffe gegenüber Sicherheits- und Rettungskräften)
  • Demokratie wird verstanden als etwas, was Bürgern zusteht, worauf diese einen Anspruch erheben können, weniger als Einsicht, dass Demokratie im Sinne von Zumutung die Bürger auch in Anspruch nimmt. Sie verlangen eine passgenaue Berücksichtigung ihrer Wünsche und Interessen. Dies führt u. a. dazu, dass Bürger versuchen, möglichst viel herauszuholen und zugleich möglichst wenig hineinzustecken. (Ökonomischer Opportunismus)
  • Hinsichtlich des Verständnisses vom Bürger führt dies zu einer Rollendiffusion und einer Krise des Bürgersinns. Es gibt keine Klarheit darüber, was die Rolle des Bürgers ausmacht.
  • Die Zahl der Demokratien nimmt global gesehen ab, ebenso die Demokratiequalität in konsolidierten Verfassungsstaaten, meist befördert durch populistische und nationalistische Strömungen. So gibt es in den USA kein parteiübergreifendes sich Versammeln mehr hinter der Flagge, rechtmäßige Wahlen werden nicht anerkannt. Auch Entwicklungen in Israel, Polen oder Ungarn geben Anlass zur Sorge. (vgl. Demokratiemix der Universität Würzburg)
  • Ideologisch besteht die größte Herausforderung in der Aushöhlung der Demokratie von innen, die im Namen der Demokratie betrieben wird.
  • Die Höhe der Wahlbeteiligung bewegt sich auf niedrigem Niveau, insb. bei Europa-, Landtags- und Kommunalwahlen. Manche sprechen bereits von einer Demokratie ohne Mehrheit.
  • Gefährdungen zeigen sich auch in sog. Blasenbildungen, in der Verbreitung von Verschwörungstheorien sowie in fake news.
  • Die Wissenschaft hat absehbare Entwicklungen zu spät erkannt, u. a. im Zusammenhang mit der Abstimmung über den Brexit sowie der Wahl Trumps zum Präsidenten der USA. Es besteht eine Spannung zwischen rationaler Reflexion der Wissenschaft und dem von Stimmungen und Symbolen geleiteten Verhalten auf Seiten der Wählerschaft.

 

Ursachen der Krise bzw. der Erosion

  • Ökonomisierung: Ökonomische Modelle werden auf Politik übertragen. Der Bürger wird zum Kunden und Konsumenten und wird nicht mehr verstanden als Produzent. Staaten werden zu Unternehmen, die Angebote machen, Preise verlangen und Kunden bedienen. Der Staat muss Bestelltes liefen. Auch Lobbygruppen spielen eine immer größere und intransparentere Rolle.
  • Emotionalisierung: Politische Inhalte werden an Emotionen gebunden. Gefühle sind authentisch und lassen sich nicht durch rationalen Diskurs widerlegen. Sachargumente können sich gegen aufgeladene Emotionen nur schwer behaupten und Produkte werden in der Werbung mit symbolischem und kulturellem Mehrwert aufgeladen.
  • Infantilisierung: Menschen sollen ‚abgeholt‘ werden, man muss mit ihnen ‚auf Augenhöhe‘ reden, sich um sie ‚kümmern‘. In solchen Formeln werden Bürger eher als Kinder und Hilfsbedürftige angesprochen. Die Politik will die Bürger schonen, ihnen nicht mehr viel zumuten. Ein bestimmtes Verhalten wird nur noch werbend eingefordert.
  • Pädagogisierung Der Staat versucht, die Bürger zu erziehen, wodurch eine kommunikative Asymmetrie entsteht. Beispiele dafür sind Schockbilder auf Zigarettenpackungen, Appelle zum Tempolimit oder Ernährungsratschläge. Auch hier scheut sich die Politik, durch Verbote die Bürger konsequent mit der Wahrheit zu konfrontieren.
  • Wachsende ökonomische Ungleichheit: Menschen fühlen sich durch die zunehmende Spreizung der Einkommen wirtschaftlich benachteiligt. Die Vermögensentwicklung der Reichsten wurde vom Rest der Gesellschaft entkoppelt, den Sachzwängen des globalisierten Marktes mit Lohndumping, Flexibilisierung, Niedriglohnsektor bei sinkender Kaufkraft und bei explodierenden Mieten incl. Wohnungsnot geopfert oder bildet sich ab in der Sortierung von Milieus durch räumliche Segregation im Stadtbild. Da es bei diesem Spiel keine erkennbaren verantwortlichen Akteure gibt, sucht die Wut des Bürgers andere Hassfiguren wie Migranten, Schwule, dekadentes Europa, links-grün-versifftes Milieu, Rassismus, Antisemitismus oder Verschwörungstheorien.
  • Kulturelle Konflikte: Es gibt eine Sehnsucht nach einer homogenen Kultur, nach überschaubarer Gemeinschaft, um Widersprüche und Unübersichtlichkeiten aushalten zu können. Mit dem Gefühl der kulturellen Ausgrenzung korrespondiert die Erosion des Selbstverständlichen, der sog. ‚Gesunde Menschenverstand‘ gilt immer weniger, was ständig zu höherer Regelungsdichte von Normen und Werte führt.   
  • Verlust geteilter Realität: Diese Entwicklung führt zu einer Entfremdung von Demokratie und Staat sowie zum Verlust einer von breiten Schichten geteilten Realität (Hannah Arendt) und zu einer Gesellschaft der Singularitäten (Alexander Reckwitz). Nicht mehr das Normale oder Allgemeine zählt, sondern das Individuelle, Einzigartige ist das Paradigma der Gesellschaft. Daher gibt es auch bei Wahlen weniger Clusterbildungen. Der Wähler denkt wirtschaftspolitisch liberal, einwanderungspolitisch konservativ, sozialpolitisch rot und umweltpolitisch grün, ein Problem für das Profil der Parteien, insbesondere der bisherigen Volksparteien.

 

Handlungsbedarf: Perspektivenwechsel

Angesichts dieser Gefährdungen und Erosionen fordert Felix Heidenreich eine kopernikanische Wende, was das Demokratieverständnis betrifft.

  • Demokratie wieder verstehen als Resonanzverhältnis zwischen Bürgern und politischen Verantwortungsträgern/demokratischen Institution. Nicht Strukturen und das Rechtssystem allein halten eine Demokratie stabil. Die besten Verfassungen sind nur zu retten, wenn Bürger ihre Verfassung, ihren Staat, ihre Demokratie retten wollen und dieses Spiel mitspielen. Voraussetzung dafür ist, dass die Menschen in ihrer Rolle als Bürger durch einen ethischen Imperativ angesprochen und in Anspruch genommen werden. Daraus entstehen in der Folge die für eine funktionierende Demokratie grundlegenden demokratischen Haltungen.
  • Demokratie ermöglicht ein Leben in Freiheit und Würde, das sind Werte an sich. Freiheit meint nicht Ungebundenheit oder Individualisierung. Demokratie vollzieht sich immer in der Spannung zwischen Selbstentfaltung/Wohlstand und des sich in Pflicht bzw. Anspruch nehmen lassen, Voraussetzung für eine solidarische Gemeinschaft. (Freiheit ‚von‘ und Freiheit ‚zu‘)
  • Böckenförde-Theorem: „Der freiheitlich-säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ (Ernst-Wolfgang Böckenförde, Verfassungsrechtler und ehemals Richter am BVfG) Dabei geht es nicht um biologische oder physikalische, sondern um normative (religiöse) Voraussetzungen, also um Werte und Haltungen, die eine bürgerliche Gesellschaft und einen demokratischen Rechtsstaat erst möglich machen. Dazu braucht es eine autarke Zivilgesellschaft mit starken Traditionen und Institutionen, die Haltungen und Werte vermitteln, z. B. Familie, Vereine, Verbände oder Kirchen. Der Staat kann diese Haltungen nicht hervorbringen, bestenfalls ermöglichen. Denn Gesellschaft und Staat leben kulturell, symbolisch und auch normativ von ererbten Restbeständen und gründen auf Werten der christlich-jüdischen Tradition und des europäischen Humanismus. (Freiheit, Familie, Solidarität, Gerechtigkeit, Gleichheit) Allerdings vertritt Heidenreich die Auffassung, entgegen dem Theorem von Böckenförde, dass Demokratien seit ihren Anfängen immer schon Institutionen der Subjektivierung waren, welche die Bürger in Anspruch genommen haben und auch hervorbringen, was für das Funktionieren einer Demokratie Voraussetzung ist, nämlich Demokratinnen und Demokraten.
  • Demokratieverständnis: In Verbindung mit der Transformation beim Klimawandel ist das liberale Demokratieverständnis (Rechtsstaat, Wahlen, Grundrechte, persönliche Freiheit) weiter zu entwickeln hin zu einem republikanischen (Gemeinwohlorientiert, Beteiligung, solidarische Strukturen, Demokratie als gemeinsame Sache verstehen).
  • Bürgersinn: Weiter braucht es ein neues Verständnis des Bürgers im Sinne des französischen ‚citoyen‘ (tugendhaft, engagiert, identifiziert, übernimmt Verantwortung, beteiligt sich am politischen Gemeinwesen, kämpft für die demokratische Sache), nicht des ‚bourgeois‘ (imitiert den Adel, Rückzug ins Private, ausruhen auf sozialem Status oder den Staat ausnutzen).
  • Sozialkapital: Als Gesellschaft braucht es über alle Gruppen und Milieus hinweg geteilte Werte, Praktiken und Gewohnheiten, um auf dieser Basis demokratisch streiten zu können. Das ist ihr Sozialkapital und der Gradmesser des gegenseitigen Vertrauens in der Gesellschaft. Je höher das Sozialkapital, desto solidarischer verhalten sich Bürger. Gefragt ist weniger Einzelgängertum, sondern mehr gemeinschaftliches Tun.
  • Gemeinsame Erfahrungen: Gesellschaftlicher Zusammenhalt entsteht am nachhaltigsten in der Praxis durch gemeinsame Erfahrungen, also sich weniger an Identitäten orientieren, sondern mehr an Erfahrungen thematisieren, die Einzelne und Gruppen einbringen können.
  • Identifikation mit der Demokratie wird durch Ansprechen mittels der Ästhetik gefördert. (Symbole wie Flagge oder Hymne, Denkmäler wie das Einheitsdenkmal in Berlin)
  • Konstitutiv für eine Demokratie bleibt dennoch die Spannung zwischen Repräsentierten und Repräsentanten. Eine Demokratie lebt nicht von Harmonie, sondern im Aushalten und diskutieren unterschiedlicher Positionen und Meinungen. Die Möglichkeit, Einspruch gegen staatliches Handeln zu erheben, ist eine zentrale Errungenschaft der Demokratie. Diese Spannung ist konstruktiv und transparent zu gestalten. (vgl. Gegen-Demokratie nach Rosavallon oder die Differenzrepräsentation nach W. Thaa)

 

Umsetzung: Vorschläge und Maßnahmen

  • Heidenreich verweist zunächst auf die Tradition der sog. Hand- und Spanndienste. Wer früher ein Pferdegespann besaß oder später als Fuhrunternehmer tätig war, konnte z. B. verpflichtet werden, nach einem Sturm umgestürzte Bäume zu beseitigen. Auch heute braucht es seitens des Staates eine klare Aufforderung zur Beteiligung, um Teilhabe, Bindungs- und Identifikationskräfte zu stärken.
  • Wehr- und Bürgerdienst: Die Wehrpflicht drückt aus, dass ein Gemeinwesen als gemeinsame Sache betrachtet wird. Das Milizsystem in der Schweiz kennt neben dem Militärdienst die ehrenamtliche Übernahme öffentlicher Ämter. So ist man dort zwischen 20 und 45 Jahren automatisch Mitglied der Pflichtfeuerwehr. Der Staat wird weniger als etwas Fremdes erfahren. Für Deutschland schlägt er einen verpflichtenden Bürgerdienst von 6 Monaten bzw. einen jährlichen Bürgertag von ja 6 Std. in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen vor (z. B. bei Feuerwehr, Gesundheitswesen, Sozialdienste, Müllentsorgung), incl. Freistellung von der Arbeit.
  • Wahlpflicht: In mehreren Ländern besteht noch eine Wahlpflicht, so in der Schweiz, in Brasilien, Belgien Australien, formal noch in Italien und Griechenland. Angesichts des gestörten Verhältnisses zwischen Staat/Politik und einem großen Teil der Bürger ist derzeit eine Wahlpflicht in Deutschland unrealistisch. Er schlägt aber vor, die Wahlaufrufe mit Bundesadler und Prägedruck zu versehen, um den Stellenwert der Wahl symbolisch zu verdeutlichen. Derzeit unterscheiden sich Wahlbenachrichtigung und Bußgeldbescheid in der Aufmachung kaum.
  • Bürgerbeteiligung: Direktdemokratische Elemente sind sinnvoll, wenn zuvor eine faire und nicht manipulierte Debatte stattgefunden hat. Als negatives Beispiel steht dafür die Abstimmung zum Brexit, als positives die Abstimmungsverfahren in der Schweiz. Die athenische Demokratie, in der in den Ratsversammlungen alle Vollbürger das Wort ergreifen durften, kannte keine Mandatsträger im parlamentarischen Sinne. Durch Los wurde jeden Tag ein neuer Vorsitzender bestimmt, auch bei Besetzung von Ämtern galt das Losverfahren. Weiteres Kennzeichen war das Mehrheitsprinzip. Die Minderheit trägt die Entscheidung mit und arbeitet mit an der Umsetzung. In Anlehnung an dieses Modell sieht er als wirksame Maßnahme die Einberufung in einen Bürgerrat durch Los. Dabei handelt es sich um ein organisiertes Verfahren mit präziser Aufgabenstellung, Austausch von Sachargumenten, Abwägen des Für und Wider und keine Interessen aggregiert, sondern echte und neue Erkenntnisse hervorgebracht. Ein Bürgerrat sichert ein Stück weit eine verzerrungsfreie Repräsentation. Nötig ist in einer repräsentativen Demokratie jeweils die Klärung des Verhältnisses von Konsultation und Legislative. Bewährt hat sich auch das Modell des ‚Blended democracy‘. Dabei werden verschiedene Verfahren miteinander kombiniert. Durch die Bestimmung per Los wird erkennbar, eine Beteiligung ist nicht nur möglich, diese wird erwartet. Bürgerräte schützen auch vor einem zu starken Einfluss von Lobbyisten auf den Beratungsprozess.
  • Rechtsprechung: Die verpflichtende Mitwirkung an der Rechtsprechung und Rechtspflege durch sog. Ehrenamtliche Laienrichter (Schöffen) ist einsichtbares Zeichen der Inanspruchnahme und macht deutlich, Urteile werden im Namen des Volkes gesprochen.
  • Politische Bildung: Einen hohen Stellenwert misst er der politischen Bildung bei, insbesondere in den Schulen. Schule ist eine der wenigen Institutionen, in denen der Staat mit der Schulpflicht Bürger in Anspruch nimmt. Der Soziologe Oskar Negt hat den Stellenwert von Bildung wie folgt definiert: „Demokratie ist die einzige Staatsform bzw. Gesellschaftsordnung, die erlernt werden muss und zwar bis ins hohe Alter.“ Daher sei es wichtig, Demokratie als Lerngemeinschaft zu verstehen und in der Schule die Identifikation mit der Demokratie zu vermitteln. Die Demokratie wird nicht zuerst durch Recht oder Wirtschaft zusammengehalten, sondern durch Bildung, die abzielt bzw. hinarbeitet auf soziale Gerechtigkeit, gleiche Bildungschancen, Erlernen sozialer Haltungen und Entfaltung der Talente. Bildung darf sich daher nicht primär an den Imperativen eines Arbeitsmarktes orientieren, sondern an den für eine Demokratie nötigen Haltungen und Werte. Eine spezifische Bedeutung im Erlernen demokratischer Fähigkeiten misst Heidenreich der Musik zu. Einen Kanon, einen vierstimmigen Choral oder eine Oper kann man eben nicht alleine singen bzw. aufführen. Gemeinsames Musizieren ermöglicht das Erlernen von Haltungen: Im Takt spielen, sein eigenes Instrument beherrschen, sich mit anderen abstimmen und sich an der gleichen Partitur orientieren.
  • Rituale: Die üblichen Weihnachts- und Neujahrsansprachen tun niemanden weh und sind wenig geeignet, Bürger in Anspruch zu nehmen. Einer der wenigen Beispiele für eine Zumutung war die Ansprache von Angela Merkel zu Beginn der Corona-Krise.

 

Würdigung des Buches

Das Buch leistet einen fundierten Debattenbeitrag zur Zukunftsfähigkeit der Demokratie, was die öffentliche Resonanz und zahlreichen Rezensionen belegen. Demnach ist eine funktionierende Demokratie nicht nur auf gut konstruierte Institutionen und verantwortungsbewusst handelnde Eliten angewiesen, sondern auf eine demokratisch gesinnte Bevölkerung, die die Mitgestaltung der demokratischen Ordnung als eigene Angelegenheit begreift.

Voraussetzung für eine erfolgreiche Umsetzung ist jedoch, wie die immer noch bestehenden ökonomischen und kulturellen Ursachen von Entfremdung und Ungleichheit überwunden werden. Auch die Frage einer realistischen Umsetzbarkeit bleibt weitgehend offen, z. B. hinsichtlich der Wahlpflicht und des verpflichtenden Bürgerdienstes, ebenso die Frage, ob ‚Bürgerräte‘ die Repräsentationsschwächen der bestehenden Parteiendemokratie ausgleichen. Eine stärkere Beteiligung von Bürgern in der Rechtsprechung löst nicht die grundsätzlichen Probleme im Rechtswesen. Zudem werden demokratische Defizite auf EU-Ebene und deren Auswirkungen auf unser Land nicht thematisiert, ebenso der weitgehend intransparent agierende Lobbyismus


Beteiligungsformen auf dem Prüfstand am Beispiel der Stadt Rottenburg

In Verbindung mit Heidenreichs Thesen stellen wir bisher praktizierte Beteiligungsformen vor.

  • Bürgerentscheide zu Gewerbegebiet Herdweg (2018) und Schlachthof (2023)
  • Workshops und Werkstätten in Verbindung mit der Stadtkonzeption 2030
  • Energiedialog im Rahmen der Planung von Windkraftanlagen
  • Bürgerrat im Rahmen der Schlachthofplanungen (2022)
  • Beteiligung bei Erarbeitung des Integrationskonzeptes (Bildung Integrationsbeirat 2020)
  • Fußverkehrskonzeption 2023 (Stadtspaziergänge)
  • Stadtteilbezogene Beteiligungsprojekte: ‚Zuhause in Seebronn‘ (2022), Älterwerden, u. a. in Wurmlingen, Schwalldorf und Wendelsheim
  • Kommunaler Entwicklungsbeirat (KEB, Modellprojekte in 15 Kommunen in der BRD)

Aus Zeitgründen konnten die einzelnen Beteiligungsprojekte nicht mehr im Detail vorgestellt und diskutiert werden. Diese wären daraufhin zu untersuchen, ob sie die von Heidenreich formulierten Anforderungen nach Bürgerbeteiligung erfüllen, ebenso ob und inwieweit diese die Demokratie stärken und das Vertrauen in die Politik auf kommunaler Ebene fördern.

Nähere Informationen zu den verschiedenen Beteiligungsprojekten sind über die Homepage der Stadt Rottenburg abrufbar.

 

3. Diskussionsbeiträge der Teilnehmerinnen und Teilnehmer (Winfried Thaa)

  • Das Schaffen von immer mehr Partizipationsmöglichkeiten ist nicht unproblematisch. In Trier etwa hat jeder Einwohner die Möglichkeit in einem sog. „Bürgerhaushalt“ über das Internet selbst konkrete kommunalpolitische Vorschläge zu machen und die anderen vorliegenden Vorschläge zu kommentieren. Mit den am besten bewerteten Vorschlägen muss sich dann der Stadtrat befassen. Letztes Jahr haben jedoch weniger als 500 Bürgerinnen und Bürger an diesem Verfahren, das allen offensteht, teilgenommen – und das in einer Stadt mit mehr als 100 000 Einwohnern und damit ungefähr 60 000 oder 70 000 Wahlberechtigten. Der wichtigste Effekt einer solchen Partizipationsform scheint darin zu bestehen, dass die Politiker darauf verweisen können um zu sagen: Seht her, wir haben hier Bürgerbeteiligung.
  • Mit verschiedenen Formen der Bürgerbeteiligung werden meist nur die Menschen angesprochen, die noch ein bestimmtes Demokratieverständnis haben. Es fragt sich jedoch, wie die anderen angesprochen und wieder für allgemeine Fragen interessiert werden können. Bürgerbeteiligung sollte sich nicht auf partikulare Themen beschränken, von denen bestimmte Gruppen betroffen sind.
  • Heidenreich geht es gerade darum, wie es gelingen kann, dass Menschen über die Orientierung auf die eigenen partikularen Interessen hinaus sich für allgemeine Anliegen interessieren. Aus seiner Perspektive ist es notwendig, der immer stärker vorherrschenden Konsumhaltung der Bürgerinnen und Bürger gegenüber der Politik entgegenzuwirken. Er fragt, wie wir dahin kommen können, dass sich die Einzelnen auch über ihre unmittelbare Betroffenheit durch einzelne politische Maßnahmen oder Regelungen hinaus für das Gemeinwesen verantwortlich fühlen. Dazu müsste sich seines Erachtens unsere Perspektive auf die Politik verändern und ein Bewusstsein der gegenseitigen Abhängigkeit stärker werden. Deshalb macht er auch den Vorschlag, ein verpflichtendes soziales Jahr oder ev. sogar die Wehrpflicht wieder einzuführen.
  • Der Demokratieverdruss entsteht doch gerade daraus, dass die Politik viele Partikularinteressen gar nicht berücksichtigt. Ein Beispiel hierfür ist die Wohnungsfrage, die seit Jahren ignoriert wird.
  • Die von Heidenreich geforderte Beteiligungsform der durch Losverfahren zusammengesetzten Bürgerräte widerspricht dem Repräsentationsprinzip und ist deshalb allenfalls kommunal möglich.
  • Heidenreich hat einen Demokratiebegriff, den man hinterfragen sollte. Er kritisiert die Bürger, nicht die politisch Verantwortlichen. Es hat aber einen Grund, weshalb sich die Bürger von der Politik abwenden. Der „mündige Bürger“, von dem früher mal die Rede war, wurde vor 20 Jahren zu Grabe getragen. Daran sind die Politiker schuld, die eine Art „Volkserziehung“ betreiben, die mittlerweile so weit geht, dass uns vorgeschrieben werden soll, was wir noch essen dürfen. Die Menschen wissen aber selbst am besten, was für sie gut ist. Sie kaufen deshalb auch weiter SUVs, obwohl versucht wird, ihnen deshalb ein schlechtes Gewissen zu machen. Sie ziehen sich jedoch aus der Politik zurück, weil sie sagen: „Wir haben da sowieso keinen Einfluss“. Demgegenüber sind die Vorschläge von Heidenreich viel zu idealistisch und z. T. nicht realisierbar. Das gilt auch für die Wiedereinführung des Wehrdienstes, der im Übrigen nicht so toll ist, wie er es darstellt und nicht unbedingt die von ihm erhofften gemeinschaftsfördernden Wirkungen hat. Schließlich: Bürgerräte sind ein Zeichen für das Scheitern der Politik. Man braucht sie doch nur, weil den Politikern nicht mehr präsent ist, was die Leute bewegt.
  • Einwurf des Moderators: Hier haben wir jetzt eine klare Gegenthese zu Heidenreich: Heidenreich möchte die Bürger mehr in die Pflicht nehmen, kritisiert die Erwartungs- und Konsumhaltung gegenüber der Politik und hofft auf Veränderungen, die mehr Verantwortlichkeit gegenüber dem Gemeinwesen schaffen – der eben gehörte Beitrag hält dagegen, dass bereits viel zu sehr in die individuelle Freiheit eingegriffen wird und die Politiker versuchen, die Bevölkerung nach ihren realitätsfernen Vorstellungen zu „erziehen“.
  • So stark ist der Gegensatz nicht. Es geht doch um Resonanz zwischen Bürgern und Repräsentanten. Und so viele neue Verbote kann ich nicht sehen.
  • Karl Schneiderhan kommt auf verschiedene Beteiligungsverfahren zurück, unter denen die Bürgerräte nur eine Möglichkeit darstellen. Das der Einführung von Beteiligungsverfahren zugrundeliegende Problem sei jedoch, dass die Menschen sich nicht genügend ernst genommen fühlten. Heidenreich geht in seinem Buch ausführlich auf die Ursprünge der Demokratie in Athen ein und beschreibt, wie das Losverfahren damals schon gegen die Verselbständigung von Berufspolitikern genutzt wurde. Egal, welche demokratischen Verfahren man jedoch benutzt, diese basieren auf der Respektierung von Mehrheitsentscheidungen sowie der Mitarbeit an deren Umsetzung. Dies war ein Grundprinzip der athenischen Demokratie. Man muss respektieren, überstimmt zu werden und bei bestimmten Fragen zur Minderheit zu gehören.
  • Wir sollten grundsätzlich klären, was Demokratie überhaupt ist. Vor einer solchen Klärung ist es doch gar nicht messbar, wie demokratisch etwas ist.
  • Die Thesen Heidenreichs sind zu abstrakt. Wie wäre das praktikabel zu machen? Auch bei den Politikern ist es so, dass sie die Zusammenhänge nicht sehen. Das ist besonders deutlich bei der Frage, wie Migration begrenzt werden kann.
  • Es wird viel zu viel demokratisch entschieden. Über Wahrheiten kann aber nicht mit Mehrheiten abgestimmt werden. Es führt zu Chaos, wenn Dinge als Meinungsfragen behandelt werden, die gar nicht entscheidbar sind.
  • Gerade wenn man die konkreten Formen anschaut, muss vor der Instrumentalisierung von Initiativen durch die Politik gewarnt werden.
  • Die Schere zwischen Arm und Reich ist heute doch so groß, dass Partizipation nur für bestimmte Gruppen funktioniert. Und prinzipiell ist zu fragen, ob zusätzliche Partizipationsformen nur der Legitimation dienen oder tatsächlich auch ernst genommen werden.

 

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