Förderverein Stadtbibliothek Rottenburg

22.05.2023: Die neue Wahlrechtsreform der Ampelregierung - Politische Instrumentalisierung auf Kosten der Demokratie? -

1. Einführung (Karl Schneiderhan)

Wir diskutieren heute ein Thema, welches die Politik seit Jahrzehnten beschäftigt: Das Wahlrecht zur Wahl der Abgeordneten in den Deutschen Bundestag. Anlass dafür ist die am 17. März 2023 mit den Stimmen der Ampelkoalition im Bundestag beschlossene Wahlrechtsreform. Die Oppositionsfraktionen CDU/CSU und die Linke haben bereits angekündigt, in Karlsruhe eine Verfassungsklage einzureichen. Bei der letzten, eher bescheidenen Reform im Jahre 2020, kam der Widerstand von den damaligen Oppositionsparteien, Grüne, FDP und Linke. Als Randnotiz sei erwähnt: Damals reichten diese Parteien eine Verfassungsklage ein, haben aber beantragt, das Verfahren ruhen zu lassen. Inzwischen ist es nach der ersten Aufregung um dieses Thema wieder ruhig geworden. Warum haben wir dennoch dieses Thema ausgewählt? Drei Gründe haben uns dabei geleitet:

Zum einen kam die Anregung dazu aus dem Kreis, darüber umfassender zu informieren und zu diskutieren. Zweitens, weil es zu dieser Wahlrechtsreform jenseits aller Parteienrhetorik unter politischen Beobachtern und Experten (Juristen, Politikwissenschaftlicher und Journalisten) bedenkenswerte Bewertungen gab und drittens hat die Ausgestaltung des Wahlrechts eine verfassungsrechtliche Dimension und ist nicht nur eine verfahrensrechtliche Frage, wie in einem juristischen Kommentar zu lesen: „Wahlen regeln die Form der Machtvergabe, in der die Bürger ihre Repräsentanten für die Legislative und wie im parlamentarischen System über diese indirekt auch ihre Regierung wählen. … Das Wahlsystem berührt somit den Kern der Demokratie und der Staatsorganisation. Wahlsystemfragen sollten daher auch dann, wenn sie nicht explizit durch die Verfassung, sondern mittels einfacher Gesetzgebung geregelt sind, immer so behandelt werden, als ob es hierbei um die Regelung von Verfassungsinhalten ginge. Diese Wahrnehmung spiegelt sich auch im Bekenntnis der Parteien wider, dass das Wahlsystem möglichst im Konsens aller Parteien verabschiedet werden sollte. Die Bedeutung einer einstimmigen Entscheidung wird immer betont, wenn es um die Begründung von Verfassungsinstitutionen geht. … Eine Schlüsselrolle spielt in diesem Zusammenhang die Frage, in welcher Form und in welchem Umfang Interessen eine Rolle spielen dürfen… Daher dient die Konstruktion des gesamten politischen Systems dem Zweck, Interessen auf angemessene Weise gerecht zu werden. Die Spielregeln des politischen Systems sind durch die Verfassung geregelt. Damit ist gleichzeitig klar, diese Interessen dürfen keine Rolle spielen, wenn es um die Festlegung dieser Spielregeln selbst geht. Parteien müssen als Gleiche mit von bloßen Eigeninteressen "gereinigten" Präferenzen in den Verhandlungsprozess gehen und als "unparteiische" Akteure Vorschläge erarbeiten, die niemand mit vernünftigen Gründen zurückweisen kann. Keine Partei darf daher Vorschläge machen, die ihr im Verhältnis zu den anderen Parteien einen einseitigen und ungerechtfertigten Vorteil verschaffen.“

Seit 1994 ist der Deutsche Bundestag wegen des Zusammenspiels von Erst- und Zweitstimme sowie Direkt- und Listenmandaten immer voller geworden. Die gesetzliche Größe liegt bei 598 Sitzen, zurzeit sind es 736, also 138 mehr als vorgesehen. Bereits 2012 hat das BVerfG das damals bestehende Wahlrecht aufgrund der zu hohen Zahl an Überhangmandaten für verfassungswidrig erklärt, weil dieses dem "Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl" widerspräche. Auch die Bundestagspräsidenten Norbert Lammert und Wolfgang Schäuble hatten eine Reform zu einem zentralen Vorhaben ihrer Amtsperiode erklärt und 2019 brachten sogar über 100 Staatsrechtler in einem offenen Brief bei einer ausbleibenden Reform ihre "Sorge um das Ansehen der Demokratie" zum Ausdruck, da der Eindruck entstehe, dass den Abgeordneten "das eigene Hemd (…) wichtiger sei als der Gemeinwohlrock".

Wie von Experten prognostiziert, hatten die Reformen von 2013 und 2020 nur eine geringe Auswirkung auf die Größe des Parlaments und wie der Bund der Steuerzahler errechnet hat, sind Mehrkosten von ca. 410 Mio. € in den kommenden vier Jahren im Vergleich zur gesetzlichen Mandatszahl von 598 zu erwarten.

Einig sind sich alle Akteure darin, dass das geltende Wahlrecht reformiert werden musss.  Bei der Bewertung des von der Ampelkoalition ohne überparteilichen Konsens beschlossenen neuen Wahlrechts wird eine Kernfrage sein: Sind von der Reduzierung der Abgeordnetenzahl alle Parteien proportional gleichermaßen betroffen oder ist dieses neue Wahlrecht doch eine politische Instrumentalisierung auf Kosten der Demokratie?  Winfried Thaa wird zunächst Grundzüge und Knackpunkte vorstellen. Danach erhoffen wir uns eine spannende und kontroverse Diskussion.

 

2. Einstiegsimpuls (Winfried Thaa)

Gliederung

1. Die Wahlrechtsreform in Kürze

2. Wahlrecht und repräsentative Demokratie

3. Die aktuelle Wahlrechtsreform im Einzelnen

4. Abschließende Thesen

 

1. Die Wahlrechtsreform in Kürze

Offizielle Ziele:

Verkleinerung des auf 736 Abgeordnete angewachsenen Bundestags auf 630 Sitze

Stärkung des Verhältniswahlrechts durch Abschaffung von Überhang- und Ausgleichsmandaten

Hauptkritikpunkte

Nach der neuen Regelung gewinnt nicht jeder Wahlkreissieger auch einen Sitz im Bundestag.

Durch Wegfall der Grundmandatsklausel erhalten Gewinner des Direktmandats nur einen Sitz im Bundestag, wenn ihre Partei bundesweit 5% der Stimmen erzielt. Dies bedroht CSU und Die Linke.

 

2. Wahlrecht und repräsentative Demokratie

Das Wahlrecht bestimmt, wie Wählerstimmen in Mandate umgewandelt werden und hat deshalb enormen Einfluss auf das Wahlergebnis.

Die beiden Grundtypen sind Verhältniswahlrecht und Mehrheitswahlrecht.

Bei einem reinen Verhältniswahlrecht treten Parteien gegeneinander an. Sie erhalten nach Auszählung der Stimmen so viele Parlamentssitze wie es ihrem Stimmenanteil entspricht. Gewinnt Partei A 25% der Wählerstimmen erhält sie 25% der Parlamentssitze. Wer für sie ins Parlament einzieht, bestimmt die Position der Kandidatinnen und Kandidaten auf der Parteiliste.

Beim Verhältniswahlrecht entspricht die Zusammensetzung des Parlaments dem Stimmenanteil der Parteien. Es begünstigt in der Regel ein Mehrparteiensystem mit dem Zwang, Koalitionen zu bilden.

Beim Mehrheitswahlrecht treten in einzelnen Wahlkreisen Kandidatinnen und Kandidaten gegeneinander an. Wer die meisten Stimmen erhält, (mit relativer oder absoluter Mehrheit) gewinnt das Mandat. Die Stimmen für den unterlegenen Kandidaten zählen nicht.

Insbesondere das relative Mehrheitswahlrecht begünstigt ein Zweiparteiensystem mit klaren Regierungsmehrheiten.

Die Zusammensetzung des Parlaments hängt stark von der Einteilung der Wahlkreise ab und kann in Widerspruch zum Stimmenanteil der Parteien stehen.

 

Verzerrungseffekte der Mehrheitswahl

Das eindrucksvollste Beispiel für die Effekte der Mehrheitswahl lieferte der Wahlkreis Stockton South im Jahr 1987 mit folgender Stimmverteilung:

Ian Wrigglesworth (SDP) 20.059 Stimmen

Timothy Devlin (Conservatives) 20.833 Stimmen

John Scott (Labour Party) 18.600 Stimmen

Der Kandidat der Konservativen, Devlin, erhielt die meisten Stimmen und zog ins Unterhaus ein. Nahezu zwei Drittel aller Stimmen blieben unberücksichtigt. Der unterschiedliche Erfolgswert der Stimmen wird immer wieder als Argument gegen die relative Mehrheitswahl ins Feld geführt.   

 

  

Quelle: Karl-Rudolf Korte: Mehrheitswahl

https://www.bpb.de/themen/politisches-system/wahlen-in-deutschland/335618/mehrheitswahl/Ergebnisverzerrung bei Mehrheitswahlrecht Gerrymanderin Quelle: Wikipedia
                                                                                                                                                                            

Wahlrechtseffekte

Das Wahlrecht bestimmt die Umwandlung von Stimmen in Mandate, hat aber darüber hinaus weitere bedeutsame Auswirkungen:

Es beeinflusst das Parteiensystem und das Verhältnis zwischen den Parteien;

Es beeinflusst das Verhältnis zwischen Wählern und Repräsentanten;

Es prägt die politische Kultur und Demokratietypus (Konkordanz- oder Konkurrenzdemokratie) und

Es beeinflusst das Verhältnis zwischen Parteiführungen und Abgeordneten.

 

Wahlrecht und politische Legitimation 

Über die Grundtypen Mehrheits- und Verhältniswahlrecht hinaus gibt es eine Vielzahl verschiedener Mischformen. Eine davon ist das personalisierte Verhältniswahlrecht in Deutschland.

Demokratische Regierungen legitimieren sich durch Wahlergebnisse.

Die Legitimität von Wahlergebnissen hängt wiederum ab von der Akzeptanz des Wahlrechts.

Diese wiederum beruht nicht zuletzt auf Tradition.

Änderungen am Wahlrecht wirken sich unterschiedlich auf die Wahlchancen der Parteien aus. Daraus entsteht die Schwierigkeit, das Wahlrecht im Konsens zu ändern. Einseitige Änderungen wiederum gefährden die gesamte Legitimationskette.

 

Das personalisierte Verhältniswahlrecht

Soll proportionale Repräsentation mit Persönlichkeitswahl im Wahlkreis verbinden.

50% der Abgeordneten (299) werden nach dem relativen Mehrheitswahlrecht in den Wahlkreisen gewählt (Erststimme).

Die Zweitstimme bestimmt nach dem Prinzip der Verhältniswahl den Anteil der Parteien an der Gesamtzahl der Abgeordneten.

Die Zahl der gewonnenen Mandate wird auf Länderebene entsprechend dem Bevölkerungsanteil des Landes und dem Zweitstimmenanteil der jeweiligen Landesliste bestimmt.

Von der so für jede Partei ermittelten Zahl werden die in einem Land errungenen Direktmandate abgezogen. Die übrig bleibende Zahl wird nach der Landesliste besetzt. Hat eine Partei mehr Mandate direkt gewonnen als ihr nach Zweitstimmenanteil zustehen würden, kommt es zu sog. Überhangmandaten.

 

3. Warum eine Wahlrechtsreform?

2012 erklärte das BVerfG das bestehende Wahlrecht für verfassungswidrig, weil die vielen Überhangmandate dem "Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl" widersprächen.

2013 folgt eine erste Wahlrechtsreform, die Ausgleichsmandate einführt, damit die Sitzverteilung wieder das Ergebnis der Zweitstimmen abbildet. Als Folge davon stieg die Größe des Bundestags 2017 bereits auf über 700 Sitze (1980: 496; Sollgröße 1990: 598; 2000: 603).

Die Wahlrechtsreform 2020 legt fest, dass bis zu 3 Überhangmandate nicht ausgeglichen werden. Statt zu einer Verkleinerung kommt es jedoch zu einem weiteren Wachstum des Bundestags auf 736 Sitze.

 

Überhang- und Ausgleichsmandate

Überhangmandate

Entstehen, wenn eine Partei mehr Direktmandate (Erststimmen) erhält, als ihr aufgrund des erzielten Anteils an Zweitstimmen (Landesliste der Partei) zustehen. Da die gewonnenen Direktmandate erhalten bleiben, erhöht sich die Gesamtzahl der Abgeordneten im Parlament.

Ausgleichsmandate

Nach dem Urteil des BVerG von 2012 wurden Ausgleichsmandate geschaffen, mit denen die zusätzlichen Überhangsmandate für die anderen Parteien ausgeglichen werden, so dass im Endeffekt die Sitzverteilung wieder der relativen Stärke der Parteien entspricht.

Quelle: Das Politiklexikon, bpb

 

Ein Beispiel für die Vergrößerung des Parlaments durch Ausgleichsmandate

Ein einfacher Fall: 4 Parteien, A, B, C, D

Partei A und B erhalten jeweils 30% der Stimmen, Partei C und D jeweils 15 %.

Partei A erhält durch Überhangmandate in mehreren Ländern 6 Überhangmandate.

Damit Partei B in der Sitzverteilung prozentual nicht schlechter gestellt wird als Partei A, muss Partei B 6 Ausgleichsmandate erhalten.

Parteien C und D entsprechend ihrem Anteil je die Hälfte, also 3 Ausgleichsmandate.

Insgesamt werden so 18 zusätzliche Parlamentssitze geschaffen.

 

 

Vorgaben des Grundgesetzes

Wahlrechtsgrundsätze gemäß Artikel 38 Absatz 1 sind: Allgemeinheit, Unmittelbarkeit, Freiheit, Gleichheit und Geheimheit der Wahl.

Allgemeinheit der Wahl verlangt, dass das Wahlrecht allen Bürgerinnen und Bürgern offensteht. Ausnahmen sind nur mit Blick auf Alter, Sesshaftigkeit, Mündigkeit und – durch richterlichen Beschluss – schwere Straftaten zulässig.

Die Gleichheit der Wahl verlangt, dass jede Wählerstimme gleich viel wert ist und somit den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis hat.

Aber: Das konkrete Wahlrecht selbst kann mit einfacher Mehrheit des Bundestages geändert werden (BWahlG).

 

Das vom Bundestag 2023 beschlossene Wahlrecht

Die Neuregelung soll die Zahl der Bundestagsmandate auf 630 beschränken.

Erreicht wird dies dadurch, dass zwar wie bisher mit Erst- und Zweit-stimme gewählt werden kann, Überhang- und Ausgleichsmandate werden aber abgeschafft. Die gewählten Direktkandidaten erhalten nur so weit ein Mandat, wie dies durch das Zweitstimmenergebnis der Partei in einem Bundesland gedeckt ist.

Hat eine Partei in einem Bundesland mehr Wahlkreissieger als ihrem Zweitstimmenergebnis entspricht, sollen – in der Reihenfolge ihrer Ergebnisse bei den Wahlkreisstimmen – entsprechend weniger von ihnen bei der Mandatszuteilung berücksichtigt werden.

Quelle: bpb, FAQ Wahlrechtsreform Bundestag

 

Das vom Bundestag 2023 beschlossene Wahlrecht

Nach der Grundmandatsklausel kann eine Partei, die bundesweit unter 5% bleibt, aber mindestens 3 Direktmandate gewinnt, ihrem Zweitstimmenanteil entsprechend in den Bundestag einziehen.

Diese Grundmandatsklausel fällt im nun beschlossenen Gesetz ersatzlos weg.

Als Folge davon könnten CSU (2021: 5,2%) und die Linke (2021: drei Direktmandate) nicht mehr im Bundestag vertreten sein.

 

Problematische Konsequenzen des neuen Wahlrechts

Kandidatinnen und Kandidaten, die im Wahlkreis durch die Erststimme gewählt wurden, erhalten u. U. kein Bundestagsmandat. Dadurch wird:

das Element der Persönlichkeitswahl geschwächt,

die Erststimme entwertet und jene Wähler, die einem populären Kandidaten zum Sieg verhalfen, frustriert und

die Bedeutung der Landeslisten und damit der Parteiführungen noch weiter gestärkt.

Durch den Wegfall der Grundmandatsklausel wird es für Parteien mit regionalen Hochburgen schwerer, in den Bundestag zu kommen. Konkret: Die Existenz von CSU und Die Linke ist durch das Wahlrecht gefährdet. Bleiben sie bundesweit unter 5%, erhalten sie kein Mandat.

 

Alternative Reformvorschläge im Bundestag

Die AfD will ebenfalls Grundmandatsklausel, Überhang- und Ausgleichsmandate abschaffen, aber eine „0ffene Listenwahl“ einführen, die es dem Wähler ermöglichen soll, die Zweitstimme in 3 Stimmen aufzuteilen und damit die Reihenfolge der Listen zu ändern

Die Unionsfraktion will die Zahl der Wahlkreise reduzieren, die Zahl unausgeglichener Überhangsmandate von 3 auf 15 erhöhen und die Grundmandatsklausel ebenfalls erhöhen.

Die Linke will ein Bundestagswahlrecht für ausländische Staatsangehörige mit mindestens 5-jährigem Aufenthalt einführen, geschlechterparitätische Landeslisten einführen und das Wahlalter auf 16 Jahre absenken.

 

Kommission ‚Reform des Wahlrechts und Modernisierung der Parlamentsarbeit‘

Die Kommission wurde vom Bundestag vor gut einem Jahr eingesetzt.

13 Abgeordnete und 13 Experten schlagen in ihrem Abschlussbericht vom 27.4.2023 (gegen die Stimmen von Union und AfD) über die bereits im März beschlossene Verkleinerung hinaus vor:

Verlängerung der Legislaturperiode auf 5 Jahre;

Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre (im GG Art. 38, 2 jedoch auf 18 Jahre festgeschrieben)

Eine verbindliche Quotenregelung fand keine Mehrheit.

Quelle: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2023/kw17-pa-wahlrechtskommission

 

Abschließende Thesen

1. Demokratien sind politische Entscheidungen in der Regel inhaltlich umstritten. Sie müssen deshalb prozedural, d.h. durch ein weitgehend akzeptiertes Entscheidungsverfahren Legitimität gewinnen. Der klassische Fall hierfür sind Parlamentswahlen.

2. Die im Vergleich zu anderen Demokratien hohe Legitimität der bundesdeutschen Demokratie ist auch Ergebnis eines von allen wichtigen politischen Kräften geteilten Konsenses

3. Ändert die Parlamentsmehrheit diese Regeln zu ihrem eigenen Vorteil oder zur Durchsetzung ihrer spezifischen politischen Ziele, untergräbt sie zwangsläufig die Legitimität zukünftiger Wahlergebnisse. Sie setzt zudem einen kaum mehr aufzuhaltenden Prozess der politischen Instrumentalisierung von Verfahren zum Vorteil der jeweiligen Mehrheit in Gang, ein Prozess, der die legitimierende Kraft der demokratischen Verfahren immer weiter schwächen dürfte.

4. In diesem Sinn reiht sich die beschlossene Änderung des Wahlrechts für den Bundestag ein in vergleichbare Änderungen des Wahlrechts auf Landesebene, so etwa die Einführung von Erst- und Zweitstimmen bei den Landtagswahlen in BaWü sowie die von den jeweiligen Verfassungsgerichten zurückgewiesenen „Parité-Gesetze“ in Brandenburg und Thüringen.

 

3. Gesprächsrunde und Diskussionsbeiträge

In der sich anschließenden Diskussionsrunde gab es u. a. noch folgende Bewertungen zum neuen Wahlgesetz:

  • Positiv bewertet wird insbesondere, dass die personalisierte Verhältniswahl im Grundsatz auch künftig bestehen bleibt bei gleichzeitiger Reduzierung der Mandatszahlen auf 630.
  • Kritisch bewertet wird ebenfalls die Abschaffung der Grundmandatsklausel sowie die gesetzliche Möglichkeit, dass künftig nicht mehr alle in einem Wahlkreis direkt gewählten Kandidaten bzw. Kandidatinnen in den Bundestag einziehen. Dies könne die bereits bestehende Politikverdrossenheit und das Vertrauen in Parteien und Politik weiter schwächen. Denn direkt vom Volk gewählte Abgeordnete können gegenüber der Partei- und Fraktionsspitze zuweilen unabhängiger agieren als die über die Landeslisten in den Bundestag eingezogenen Abgeordneten. Als bekanntes Beispiel aus den 90er Jahren gilt an Hans-Christian Ströbele, Abgeordneter der Grünen. Damals wurde für ihn auf Wahlplakaten mit dem originellen Wahlslogan geworben: „Ströbele wählen, Fischer quälen“. Er errang damals in Berlin als erster Grüner tatsächlich ein Direktmandat.
  • Diskutiert wurde auch die Frage, inwieweit durch eine Reduzierung der Wahlkreise Überhang- und Ausgleichsmandate vermieden werden können. Die Reduzierung um ca. 50 Wahlkreise, wie in einem früheren Gesetzentwurf von den Grünen, FDP und Linke, wäre in der Tat ein wirkungsvoller Schritt. Allerdings, so in einem Kommentar zur Wahlrechtsreform, müsste die Anzahl der Wahlkreise sogar auf rund 200 reduziert werden, um die Entstehung aller Überhangmandate unter ähnlichen Bedingungen wie 2017 gänzlich zu verhindern.
  • Gegen das neue Wahlrecht wurde angeführt, dass es zu der Situation führen könne, dass ein mit den Erststimmen gewählter Wahlkreissieger nicht in den Bundestag kommt, der von ihm besiegte Kandidat aber über die Landesliste einzieht.
  • Dem Einwand, dass künftig ein Wahlkreissieger ohne Mandat bleiben könne, wurde entgegengehalten, dass dies voraussichtlich nur selten der Fall wäre und zudem nur für diejenigen Kandidaten, die im Vergleich mit anderen ein eher schwaches Ergebnis erzielt haben.
  • Eine Teilnehmerin plädierte dafür, trotz bestehender Bedenken erst mal einen Versuch mit der neuen Regelung zu machen und danach die Erfahrungen auszuwerten. Weitere Teilnehmende plädierten dafür, zunächst einmal die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abzuwarten.
  • Sollte tatsächlich unter einer CDU geführten Bundesregierung in wenigen Jahren das Wahlrecht erneut geändert werden, müsste mit Politikverdrossenheit und geringerer Wahlbeteiligung gerechnet werden.

 

Rottenburg, 22.05.2023

Karl Schneiderhan

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