Förderverein Stadtbibliothek Rottenburg

24.10.2022: Klaus Dörre: Die Utopie des Sozialismus. Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution, Berlin 2021.

 

1. Begrüßung und kurze Einführung (Winfried Thaa)

Der heutige Gesprächskreis wird sich wieder einmal mit einem Buch beschäftigen, und zwar mit Klaus Dörres „Utopie des Sozialismus“. Der Autor ist vermutlich den meisten Anwesenden nicht bekannt. Er hat jedoch vor etwas mehr als 10 Jahren gemeinsam mit Stephan Lessenich und Hartmut Rosa ein Buch veröffentlicht, das über ein engeres, fachwissenschaftliches Publikum hinaus Aufmerksamkeit fand. Es trug  den Titel „Soziologie. Kapitalismus. Kritik“. Die drei Jenaer Soziologen entfalten dabei aus ihren unterschiedlichen Perspektiven jeweils eine ganz eigene Kapitalismuskritik. Stephan Lessenich aus sozialer und sozalpolitischer Perspektive,  Hartmut Rosa, den wir in diesem Kreis ja auch schon diskutiert haben,  eher kultursoziologisch von seinem Begriff der Beschleunigung ausgehend und Klaus Dörre  im Sinn der klassischen marxistischen „Kritik der politischen Ökonomie“ mit seiner Theorie der „Landnahme“. Mit ihr greift er die Imperialismustheorie Rosa Luxemburgs auf und versucht zu zeigen, dass Kapitalismus nur existieren kann, wenn er immer wieder in nicht kapitalistische Bereiche vordringt. Sei es als Kolonialisierung vorkapitalistischer Gesellschaften, als marktwirtschaftliche Durchdringung der vormals sozialistischen Gesellschaften in Osteuropa oder auch durch Vermarktlichung von Bereichen wie etwa dem Sozial- und Gesundheitswesen in unseren Gesellschaften. Nur durch solche ständigen „Landnahmen“ könne die kapitalistische Ökonomie wachsen und Krisen überwinden.

Klaus Dörre ist seit 2005 Professor für Arbeits- und Wirtschaftssoziologie in Jena, er war zuvor Direktor am Institut für Arbeit, Bildung und Partizipation in Bochum. In Jena er bildet zusammen mit Lessenich und Rosa das Zentrum für interdisziplinäre Gesellschaftsforschung.

Das Buch, um das es heute gehen soll,  unterscheidet sich von der bisherigen Arbeit des Autors dadurch, dass es nicht bei der Kritik kapitalistischer Verhältnisse stehen bleibt, sondern sich bewusst der Frage widmet, wie eigentlich eine sozialistische Gesellschaft, die diesen Namen tatsächlich verdient, aussehen könnte. Der Nachhaltigkeitsbegriff im Untertitel verdeutlicht, dass aus der Sicht Dörres sozialistische Gesellschaftsentwürfe durch die Zuspitzung ökologischer Krisen eine neue Aktualität gewonnen haben. Auch wenn wir dies jetzt sicher gleich kontrovers diskutieren werden, so  haben die Krisen der letzten Jahre doch mit Sicherheit gezeigt, dass wir nicht umhin können, uns über Alternativen zur bestehenden Gesellschaft den Kopf zu zerbrechen. Wir dürfen m.E. gespannt sein, ob der (Rück)Griff zur Utopie des Sozialismus hierbei überzeugen kann.

 

2. Buchvorstellung von Klaus Dörre (Wolfgang Hesse)

Bei dem Wort „Sozialismus“ fällt dem Ossi zunächst folgender Spruch ein:

„Keine Bretter für die Laube, für den Trabbi keine Schraube! Für den Hintern kein Papier, aber den Sozialismus hatten wir!“

Andere denken bei Sozialismus an Mauerbau, Unfreiheit, an Mangel- und Planwirtschaft und an alte, verknöcherte Herren im Politbüro der SED, die den volkseigenen Betrieben vorgeben, was sie - leider am Bedarf vorbei - produzieren müssen. In der jüngeren Geschichte kann das sozialistische Gesellschaftsmodell kaum Erfolge vermelden – im Gegenteil: Staatssozialistische Systeme sind auch daran gescheitert, dass sie kaum starke Institutionen für eine wirksame Kontrolle und Begrenzung zentralisierter politischer Macht entwickeln konnten. Als Beispiele können die DDR, Vietnam, Kuba, Nicaragua, Venezuela und Bolivien genannt werden. Das sind keine guten Vorzeichen, um sich mit dem Thema Sozialismus zu beschäftigen. Haben wir im Moment nicht andere Sorgen? Und doch, wenn Sie mit Freunden und Bekannten reden oder sich an Diskussionen in unserem Kreis erinnern, werden Sie feststellen, dass die meisten Menschen dem Satz „Wir können so nicht weitermachen.“ zustimmen. Nur, wie soll es weitergehen? Wie sollen wir in Zukunft leben, ohne heutige Fehler zu wiederholen?

Im Kontext dieser Fragen kommt das Buch von Klaus Dörre „Die Utopie des Sozialismus“ ins Spiel. Klaus Dörre hat in diesem Buch nicht nur eine weitere Kapitalismusanalyse vorgelegt. Er beschreibt darin ausführlich, wie eine künftige Gesellschaft aussehen könnte und spricht von einer nachhaltigen, ökologischen, sozialistischen Gesellschaft. „Sozialistische Ideen des 21. Jahrhunderts müssen ihre Überzeugungskraft aus der Notwendigkeit einer Nachhaltigkeitsrevolution beziehen.“ (S. 39). Mit seinem Entwurf einer ökologischen, sozialistischen Gesellschaft versucht Dörre dem ramponierten Ansehen des Sozialismus wieder zu etwas mehr Glanz und Attraktivität zu verhelfen. Diese positive Zukunftsperspektive ist auch der Grund, warum ich Ihnen Dörres Buch vorstellen möchte. Bereits mit Christian Felbers Ansatz der „Gemeinwohl-Ökonomie“ und Niko Paechs wachstumskritischen Buch „All You Need Is less“ haben wir im Gesprächskreis bereits früher ähnliche Themen besprochen.  

Klaus Dörre war Sprecher der Jenaer DFG-Kollegforschungsgruppe „Postwachstumsgesellschaften“, an der auch Hartmut Rosa und Stephan Lessenich beteiligt waren. Diese Forschungsgruppe arbeitete am Jenaer Soziologischen Institut, untergebracht im alten Carl-Zeiss-Werk, dort, wo ich als 17-Jähriger meine Tage an der Drehmaschine verbrachte.  Im Folgenden stelle ich grundlegende Thesen zu seinem Entwurf einer ökologisch-sozialistischen Gesellschaft vor.

  1. Der Ausgangspunkt jeder Kapitalismusanalyse ist das Privateigentum an Produktionsmitteln in dieser Gesellschaftsform. Mit dem Eigentum an Produktionsmitteln wird – nach marxistischer Sicht - nicht nur eine grundlegende soziale Ungleichheit in kapitalistischen Gesellschaften erzeugt, sondern die Entscheidungen über Investitionen und die Erzeugung von Produkten werden von Privatleuten ausschließlich nach zu erwartenden Gewinnaussichten gefällt.
  1. Im traditionellen marxistischen Verständnis wird im Sozialismus das Privateigentum an den Produktionsmitteln aufgehoben und durch eine kollektive Kontrolle des Produktionsprozesses ersetzt. Diese Umwälzung der Eigentumsverhältnisse soll die Rückgewinnung der gesellschaftlichen Kontrolle über den Produktionsprozess herstellen. Das Aufheben des Privateigentums an Produktionsmitteln begünstigt - in der Theorie - die Überwindung vieler sozialer Ungleichheiten. Krisen können besser verhindert oder abgemildert werden.
  1. Nach Dörre haben Marx und Engels den Kapitalismus nicht als starres Gebilde betrachtet, sondern eine dynamische Kapitalismusanalyse betrieben. So standen sie auch der Ausrufung einer bestimmen Art des Sozialismus als Endziel kritisch gegenüber. Das betont der späte Friedrich Engels, auf den Dörre sich gerne beruft, in einem Interview mit Le Figaro am 08. Mai 1893, in MEW 22, Berlin S. 542: „[..] Wir haben kein Endziel. Wir sind Evolutionisten, wir haben nicht die Absicht, der Menschheit endgültige Gesetzte zu diktieren. Vorgefasste Meinungen in Bezug auf die Organisation der zukünftigen Gesellschaft im Einzelnen? Davon werden Sie bei uns keine Spur finden. Wir sind schon zufrieden, wenn wir die Produktionsmittel in die Hände der ganzen Gesellschaft gebracht haben. […] Was Sozialismus sein kann oder soll, ändert sich mit der Entwicklung der kapitalistischen Formation und den Gegenbewegungen, die sie hervorbringt. Es gibt also nicht nur den einen Sozialismus. Dörre weiß aber, einen „wirklichen“ Sozialismus hat es noch nie gegeben, daher spricht er auch von einer Utopie.
  1. Für Klaus Dörre ist „die umfassende Demokratisierung ökonomischer Entscheidungen der zentrale Inhalt eines Sozialismusverständnisses, das nach maximaler zivilgesellschaftlicher Kontrolle über Produktion, Ressourcenallokation und Güterverteilung strebt.“ (S. 48) Außerdem müssen sich aktuelle Sozialismen „als Alternative zu einem Imperialismus gegen die Natur“ präsentieren.
  1. Wie wir schon bei Hartmut Rosa gehört hatten, muss der Kapitalismus expandieren, um zu existieren bzw. um sich zu stabilisieren. Auch Friedrich Engels hatte dies schon erkannt: „Die kapitalistische Produktion muss wachsen und sich ausdehnen oder sie muss sterben.“ Dörre hat dazu den Begriff „Landnahme“ geprägt. Landnahme meint, dass der Kapitalismus Marktbeziehungen in immer mehr externe Bereiche ausdehnen muss: Beispiele hierfür sind die Kolonialisierung und aktuell die marktwirtschaftliche Durchdringung von Bereichen wie etwa der Sozialarbeit oder dem Gesundheitswesen oder z. B. der Versuch von Konzernen, uns einzureden, wir bräuchten Smarthomes, um von unterwegs unsere Heizung regulieren zu können.
  1. Das führt zur „ökonomisch-ökologischen Zangenkrise“: Sofern überhaupt noch Wirtschafts-wachstum erzeugt werden kann, zehren die damit verbundenen ökologischen und sozialen Destruktionskräfte (Schäden) den ungleich verteilten Wohlfahrtsgewinn gleich wieder auf – und „kumulieren sich bis hin zu Schwellenwerten, an denen eine irreversible Destabilisierung globaler Ökosysteme einsetzt.“ (S. 61). Einfacher gesagt: Weiteres Wirtschaftswachstum wirkt sozial und ökologisch destabilisierend. Und hier haben wir nicht nur eine Krise, die irgendwann wieder vorbei ist, sondern wir stehen vor einer epochalen Krise der Gesellschafts-Natur-Beziehungen, „die mit einem Übergang zu einem neuen Erdzeitalter, dem Anthropozän, verbunden ist“. (S. 62) Unter Anthropozän versteht Dörre eine Entwicklung, in der der Mensch zum wichtigsten Faktor bei der Gestaltung außermenschlicher Natur geworden ist. 
  1. Doch warum ist der Zusammenhang zwischen Zangenkrise, Nachhaltigkeit und Sozialismus wirklich zwingend? Dörres Hauptargument ist, dass die sozialen Kosten, die Gesellschaften aufbringen müssen, um kapitalistische Produktionsweisen am Leben zu halten, immer größer werden. Beispiele dafür sind die Finanzkrise 2007-2009, die Corona-Krise und nicht zuletzt die aktuelle Energiekrise, von der Dörre beim Verfassen seines Buches aber noch nichts wusste. Die Aufwendungen zur Begrenzung von Umweltschäden steigen immer weiter an. Darüber hinaus benötigt und nutzt die Privatökonomie umfangreiche Infrastrukturen, die durch den Staat - also durch die Allgemeinheit - finanziert werden. Würden die Unternehmen für die Nutzung und Beschädigung dieser Strukturen in ihren transnationalen Wertschöpfungsketten stärker zur Rechenschaft gezogen, würde wohl mancher Konzern in die Pleite rutschen. Ohne staatliche Unterstützung wären, wie Mariana Mazzucato in Ihrem Buch „Wie kommt der Wert in die Welt?“ so eindrucksvoll gezeigt hat, keine der großen Sprunginnovationen (Internet, Pharmaprodukte) und die dazu Forschungen möglich gewesen. Allgemein gesagt: Aus den Kosten-Nutzen Kalkülen der Unternehmen werden Destruktionspotentiale ausgeblendet, die von der Allgemeinheit getragen werden und immer mehr den Nutzen der kapitalistischen Produktionsweise überwiegen. Dagegen werden die von der Allgemeinheit erzeugen Ressourcen privatwirtschaftlich genutzt ohne ausreichend in die Preisgestaltung einzufließen.Entwickeln sollten sich in Zukunft nur solche gesellschaftlichen Bereiche, die ohne Landnahmen und ohne Marktausdehnung auskommen. Dazu könnten z. B. zählen: Unternehmungen und Einrichtungen im öffentlichen Eigentum, Non-Profit Organisationen, untere Klein- und Mittelbetriebe kooperativ-marktwirtschaftlicher Produktion. Die Weiterentwicklung dieser gesellschaftlichen Bereiche eröffnet die Perspektive einer nachhaltig sozialistischen Transformation. 
  1. Dörre schlägt vor, die Substainable Development Goals (SDG, Ziele für nachhaltige Entwicklung) der Vereinten Nationen als normative Basis für die gesellschaftliche Transformation mit sozialistischer Ausrichtung zu nutzen. Die SDG wurden 2015 von den Vereinten Nationen beschlossen. Sie sind global und universell ausgerichtet, sie fordern Nachhaltigkeit und bekämpfen soziale Ungleichheit. Die SDG bilden weltweite Maßstäbe für jedes Gemeinwesen und jegliches Gemeinwohl (S. 101). 
  1. Das Fundament einer künftigen sozialistischen Gesellschaft sind nach Dörre transformative Rechtsverhältnisse, die u.a. der Nachhaltigkeit einen Verfassungsrang geben. So sollte die Sozialbindung des Eigentums in Art. 15 der Verfassung um den Aspekt der Nachhaltigkeit erweitert werden. In der neuen ökosozialistischen Ordnung „werden Rechtsverhältnisse gezielt hergestellt, um Veränderungen zu erreichen und sie verlieren zumindest zum Teil ihre Macht, sobald ein bestimmter Zweck erreicht ist.“ (S. 120) Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) muss durch eine Skala für Entwicklungsziele ersetzt werden, die ohne Zwang zur Effektivität und Effizienz auskommt. Das BIP verschleiert u. a. das Ausmaß an ökologischer Zerstörung beim Erwirtschaften der ihm zugrundliegenden Umsätze. So wird das BIP z. B. auch durch Arbeiten an einer havarierten Ölplattform gesteigert. Viele gesellschaftliche Bereiche wie Erziehung, Bildung, Gesundheitsarbeit und Pflege entziehen sich dem immerwährenden Zwang der Steigerung von Arbeitsproduktivität. 
  1. Ein elementarer Baustein für eine sozialistische Gesellschaft sind neue Eigentumsverhältnisse in großen Unternehmen. In Großunternehmen, besonders in denen des Finanz-, Versicherungs- und IT-Sektors muss es zu einem Bruch kommen und dieser Bruch bedeutet Enteignung und Sozialisierung. Allerdings benötigen nachhaltige sozialistische Gesellschaften ein kollektives Selbsteigentum, das persönliche Verantwortung nicht erstickt, sondern Eigeninitiative und Selbstorganisation fördert. Die Sozialisierung muss mit demokratischen Mitteln über gesellschaftliche Mehrheiten von sozialen Bewegungen erkämpft werden. 
  1. Die Unternehmen des klein- und mittelbetrieblichen Sektors dürfen keinesfalls enteignet werden. Dass Verstaatlichungen in diesem Sektor falsch sind, hatten bereits die Reformer des Prager Frühlings in den Jahren 1967 und 1968 sowie die italienischen Kommunisten erkannt. Für die klein- und mittelbetrieblich strukturierten Bereiche muss es darum gehen, dem Entdeckungs- und Innovationskräften des Marktes Spielraum zu lassen. 
  1. Umverteilung von Entscheidungsmacht im Unternehmen: Nachhaltigkeit braucht eine umfassende Wirtschaftsdemokratie, weil überlebenswichtige ökonomische Entscheidungen nur „noch mit Hilfe demokratischer Zivilgesellschaften getroffen werden können.“ (S. 134) So ist es z. B. ökologisch besser einen SUV erst gar nicht herzustellen, als ihn nicht zu fahren oder nicht zu kaufen. Angeknüpft werden könnte hierbei an bestehende Konzepte der Mitbestimmung der Beschäftigten. Allerdings erschwert die grenzüberschreitende Struktur von Unternehmen eine wirksame Mitbestimmung, hier sollten Interessenvertretungen der Beschäftigten entlang der gesamten Wertschöpfungs- und Lieferketten geschaffen werden. 
  1. Genossenschaften, Mitarbeitergesellschaften oder Stiftungen sind Organisationsmodelle für demokratische Unternehmen, die schon heute realisiert werden können, und es z. T. auch schon sind. Dörre weist drauf hin, dass solche demokratischen Organisationsmodelle wirtschaftlich robust sein müssen. Demokratische Entscheidungsprozesse sollten nicht zu endlosen, ergebnislosen Diskussionen führen und auch das Leistungsprinzip sollte nicht über Bord geworfen werden. 
  1. Von der politischen Seite müssen betriebliche Entscheidungen durch Formen demokratischer Planung bewertet und korrigiert werden, die „dafür sorgen, dass ein gesellschaftlicher Kollektivwille auch in Betrieben und Unternehmen Gehör findet.“ (S. 141) Hierzu siehe auch den Beschluss der EU zu den Landekabeln mit einheitlichen Steckern. Dies soll durch eine makroökonomische Verteilungsplanung erfolgen, die der Bevölkerung periodisch zur Abstimmung vorgelegt wird. Auf regionaler Ebene würden Transformations- und Nachhaltigkeitsräte die Nachhaltigkeitsziele überwachen und zentrale Planungsvorgaben nach regionalen Besonderheiten anpassen.Marktbeziehungen werden beibehalten, jedoch durch ein System dezentral-zentraler, demokratischer Koordination eingehegt, wobei die Leistungsfähigkeit moderner IT-Technologie offensiv genutzt werden kann. Es wird nicht nur ein Planungsmodell geben, sondern es bedarf einer ständigen politischen Auseinandersetzung um das beste Verhältnis von Markt und Plan. So unterschiedlich die möglichen Planungssysteme auch aussehen mögen, sie werden sowohl die positiven als auch die negativen Externalitäten in die Preisgestaltung und das ökonomische Anreizsystem aufnehmen und so das nichtkapitalisierte Andere schützen. 
  1. Eine Sozialistische Gesellschaft kann nur nachhaltig und einer kapitalistischen Marktwirtschaft überlegen sein „wenn die Umstellung auf eine ressourcenschonende, kohlenstoffarme Produktion mit langlebigen Gütern […] in einer Kreislaufwirtschaft gelingt.“ (S. 143). Dies muss durch die Herstellung langlebiger, reparaturfreundlicher Qualitätsgüter geschehen. Dazu bedarf es aber auch der Rückverteilung des gesellschaftlichen Reichtums zugunsten niedriger Einkommen, da diese Schichten ein entsprechendes Einkommen benötigen, um solche - sicher auch teuren - Artikel auch kaufen zu können. 
  1. Ein weiterer Baustein für das Fundament einer ökologisch- sozialistischen Gesellschaft ist die zureichend finanzierte soziale Infrastruktur, die Gesundheit, Pflege, Erziehung, Bildung und Mobilität zu öffentlichen, für alle zugänglichen Gütern erklärt. Dies kann nur erfolgen, wenn das Zwangsgesetz der Konkurrenz und des Strebens nach ständiger Erhöhung der Arbeitsproduktivität in diesen Bereichen allmählich außer Kraft gesetzt wird. 
  1. Die wöchentliche Arbeitszeit soll, abhängig von Produktivität, Qualifizierungsniveau und sozialen Bedürfnissen schrittweise auf 32, 30, und schließlich auf 28 Wochenstunden reduziert werden. Es wird eine 4 Tage-Woche geben, die aber bei Bedarf und Zustimmung der Beschäftigten erhöht werden kann. Mehrarbeit wird, wenn gewünscht, im Lebensverlauf durch arbeitsfreie Zeit in zukünftigen Lebensabschnitten abgegolten. Arbeitszeiten werden den Familienverhältnissen angepasst, junge Menschen arbeiten mehr, ältere weniger. Eine bedingungslose Grundzeit steht jedem zur Verfügung. Ein höheres Maß an Zeitsouveränität wird den Menschen helfen ein weitgehend selbstbestimmtes Leben zu führen. 
  1. Angestrebt wird eine sukzessive Aufhebung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, wobei die funktionale Arbeitsteilung bestehen bleibt. Die Möglichkeiten zwischen den verschiedenen Berufszweigen zu wechseln werden auf der Grundlage einer guten Allgemeinbildung und eines entsprechenden Qualifikationsniveaus deutlich verbessert und gefördert. Jeder soll und kann im Laufe seines Lebens unterschiedliche Tätigkeiten in verschiedenen Sektoren ausüben. 
  1. Eine Arbeitszeitverkürzung wirkt nur dann ökologisch nachhaltig, wenn zugleich eine Ausweitung des Konsumierens vermieden wird. Der heute überwiegend aus Statusgründen erfolgende Konsum hat seinen Ursprung in ungleichen Gesellschaftsformen, in denen die feinen Unterschiede, das ständige Vergleichen mit dem Nachbarn Mechanismen symbolischer Herrschaft hervorbringen (Pierre Bourdieu). In egalitären Gesellschaften wird dieses distinktive Prinzip zumindest abgemildert. 
  1. Nachhaltig sozialistische Gesellschaften werden Produzentengesellschaften sein. In Ihnen wird viel mehr als heute kreativ und selbstbestimmt gearbeitet. Arbeit kann wieder als lebenspendenter Prozess betrachtet werden. 
  1. Es bleibt am Ende noch die Frage, wie die angestrebte gesellschaftliche Transformation zu erreichen ist. Grundsätzlich gilt für Klaus Dörre: Eine ökologisch-sozialistische Transformation kann nur gelingen, wenn sie sich auf gesellschaftliche Mehrheiten stützt. Der Übergang zum Sozialismus wird nicht durch ein singuläres Ereignis wie etwa das der russischen Oktoberrevolution stattfinden. Ebenso wenig darf man aber auch einfach nur darauf warten, dass der Kapitalismus von sich aus zusammenbricht. Um eine sozialistische Handlungsfähigkeit zu erreichen, plädiert Dörre für ein breites Bündnis von Beschäftigten und Gewerkschaften. 
  1. Nur etwa 24% der Erwerbstätigen sind aktuell noch im produzierenden Gewerbe beschäftigt, 74,5% der Erwerbstätigen arbeiten dagegen im Sektor Dienstleistungen in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Verwaltung, Verkehr, Finanzen, Handel, IT (Quelle: Datenreport 2021, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2021). Das zeigt, dass die klassische Industriearbeiterschaft als revolutionäres Subjekt an Durchschlagskraft verloren hat. Dörre sieht deshalb ein erwachendes Selbstbewusstsein einer neuen, auch akademisch gebildeten Lohnarbeitsklasse, die möglichweise eine Avantgarde ökologischer Klassenpolitik darstellen könnte. Eine weitere ansprechbare Gruppe sieht der Autor in den städtischen Unterklassen, die unterhalb einer Schwelle gesellschaftlicher Anerkennung in oft prekären Verhältnissen leben. Das seien immerhin 15 % der Bevölkerung. Weil also eine große, einheitliche Klasse aller Lohnabhängigen nicht mehr existiert, kann sozialistische Handlungsfähigkeit nur noch innerhalb eines temporären, immer wieder neu herzustellenden sozialen Blocks unterschiedlicher Lohnarbeitsklassen entstehen. 
  1. Sozialistische Entwicklungen können im marktwirtschaftlich-kapitalistischen Gesellschaften auf unterschiedlichen Wegen entstehen: Sozialdemokratische Regulation, Reformen von oben sind u. U. ebenso zielführend wie kooperative Unternehmensgründungen, genossenschaftliche Produktion oder die Gründung einer Journalistenkollektives in einer Nische der digitalen Ökonomie. Das eine schließt das andere nicht aus. Eine substanzielle Entwicklung könnte auf ganz verschiedenen Wegen zusammen zu einer fundamentalen Transformation der kapitalistischsten Klassenbeziehungen führen.
  1. Heute müssen Sozialisten alles entschieden unterstützen, was einer Nachhaltigkeitsrevolution zum Durchbruch verhilft. Manche organisieren sich bei den Grünen, andere in NGOs, Umweltverbänden, Fraueninitiativen, Menschenrechtsorganisationen, bei den Gewerkschaften oder in den Kirchen. Die meisten dieser Menschen haben kein Parteibuch, denn eine Bindung an eine bestimmte politische Partei spielt heute beim politischen Engagement eine kleinere Rolle. 
  1. Schließlich macht Dörre deutlich, dass sein Projekt eine stabile Weltordnung voraussetzt. Weitergehende militärische Aufrüstung behindert die Ressourcen, die für den gesellschaftlichen Umbau notwendig sind. Sein Buch wurde geschrieben vor dem Krieg in der Ukraine und vor der Energiekrise.

 

3. Diskussionsbeiträge

In der sich anschließenden Diskussion wird in mehreren Beiträgen das Grundanliegen von Klaus Dörre grundsätzlich geteilt, was die Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse und die Auswirkungen des Kapitalismus (u. a. Vermögenskonzentration; Sozialisierung von Verlusten Privatisierung von Gewinnen) sowie gemeinwohlorientierte Handlungsziele betrifft, andererseits aber seine Sicht des Sozialismus als Gesellschaftsmodell eher kritisch bewertet. Im Einzelnen wurden folgende Aspekte benannt:

  • Der Sozialismus als Gesellschaftssystem habe in früheren Zeiten ausschließlich wegen des geschlossenen Systems funktioniert.
  • Vergangene Krisen hätten u. a. gezeigt, dass diese eher vom Gedanken des Sozialismus wegführten, so im Kontext der Finanzkrise 2009, wonach sich in der Folgezeit eher der Neoliberalismus durchgesetzt habe, was z. B. das gute Wahlergebnis für die FDP bei der Bundestagswahl 2009 bestätigt. Krisen verstärken Egoismen und weniger die Solidarität bzw. den Zusammenhalt.
  • Der Begriff ‚Sozialismus‘ wird eher als Worthülse gesehen. Auch der methodische Ansatz von Dörre scheint eher willkürlich gewählt, wenn er zunächst behauptet, einen wirklichen Sozialismus habe es noch nie gegeben, diesen dann aber methodisch als normative Setzung voraussetzt. Die Frage ist, ob und wie auf demokratischem Wege das Problem zwischen bedürfnisorientierter und wertschöpfungsorientierter Produktion entschieden werden kann.  
  • Kritisch bewertet wurde, so sympathisch das Ziel von mehr direkter Demokratie erscheint, dass mit diesem Modell ein Bedeutungsverlust der repräsentativen Demokratie verbunden ist. Mehr direkte Demokratie setze, wie von mehreren Teilnehmenden geäußert, bei allen Akteuren politisches Wissen voraus, um politische Sachverhalte sachgerecht und verantwortet bewerten zu können. Ansonsten besteht die Gefahr, insbesondere bei aufkeimender Unzufriedenheit, dass sich Bürger zu sehr von Stimmungen und unbewusst wirksamen Triebkräften (vgl. S. Freud) leiten lassen. Nicht zuletzt die bestehende Medienlandschaft, sei es durch Privatsender oder die Nutzung von Messangerdiensten, führt zu einer kaum mehr steuerbaren, kontrollierbaren öffentlichen Kommunikation. Welche Konsequenzen dies für politische Entwicklungen hat, dafür wird als Beleg die zunehmende Tendenz zu rechtsradikalen Parteien genannt sowohl bei uns (s. Zunahme der AfD bei Umfragen) wie in anderen Ländern Europas, so aktuell in Italien. Der politischen Bildung komme daher ein hoher Stellenwert zu.
  • Der Aspekt der Kontrolle komme in diesem Modell basisdemokratischer Strukturen zu kurz.
  • Es wird grundsätzlich bezweifelt, dass Menschen wirklich gleich sein wollen, bzw. bei Durchsetzung weitgehender materieller Gleichheit kein Bedürfnis mehr vorhanden wäre, sich in Status oder Ansehen gegenüber anderen hervorzuheben.
  • Das Engagement der jungen Generation, so in der Bewegung ‚Fridays for Future‘, ist ein hoffnungsvolles Zeichen dafür, dass sich in der Gesellschaft etwas ändern kann.
  • Bereits heute gibt es entsprechende Zielvorgaben und einen Rahmen, u. a. die UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung oder unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung.
  • Ein gravierendes Problem im politischen Geschehen ist der Vertrauensverlust der etablierten Parteien bei einer nicht geringen Zahl von Bürgern, ebenso der Hang der Parteifunktionäre zum Machterhalt und weniger die konsequente Ausrichtung auf die Lösung der drängenden Probleme.
  • Die Frage ist, ob und inwieweit weitreichende demokratische Mitbestimmungsprozesse in Wirtschaft und Unternehmen nötige Innovationen behindern und zeitnahe Entscheidungen blockieren. Eine zentralere Planung allein garantiere noch nicht automatisch höhere Produktivität. Man dürfe Kreativität und Innovation nicht abwürgen.
  • Ein Teilnehmer weist auf zwei Veröffentlichungen von Ulrike Hermann hin: ‚Das Ende des Kapitalismus‘ und ‚Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung‘.

 

Stellungnahmen von Wolfgang Hesse als Impulsgeber:

  • Im Blick auf die zum Teil kritischen Anfragen zum Konzept von Klaus Dörre sieht Wolfgang Hesse in den Beiträgen dennoch eine Übereinstimmung darin, dass wir so wie bisher nicht mehr weitermachen können und die Nachhaltigkeitskrise dringend angehen müssen.
  • Klaus Dörre möchte die repräsentative Demokratie nicht schwächen. Er plädiert vielmehr für eine regionale Planungsebene mit entsprechenden demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten, denn Prozesse und Entscheidungen dürften nicht am Menschen vorbei organisiert werden. Daher sollten Prozesse demokratischer werden, was aber auch schwierig werden kann, da diese im Produktionsbereich nicht in allen Fällen und zum Teil nur begrenzt tauglich sind, so auch wenn Beschäftigte z. B. von solchen Entscheidungen existentiell betroffen sind. Daher brauche es immer Anreize, um Bürger und Betroffene für neue Entwicklungen zu gewinnen.
  • Unbestritten ist zudem, dass kapitalistische Entwicklungen zu immer mehr, fast nicht mehr lösbaren Problemen und Konflikten führen, u. a. Umweltkrise, Finanzkrise, soziale Ungleichheiten. Dörre benennt durchaus, um diese Konflikte zu lösen bzw. zu minimieren, einige zeitnah umzusetzende Reformen wie Finanztransaktionssteuer, Dezentralisierung und Entflechtung von Privatbanken, Beendigung hochspekulativer Transfers, strengere Regulierung privater Kreditvergabe, Verbot von hochspekulativen Leerverkäufen beim Handel mit Wertpapieren, progressive Steuern auf ererbte Vermögen, demokratisch-politische Kontrolle oder Vermögensabgaben der großen Geldeigentumsbesitzer. Produktionsentscheidungen sollten sich nicht mehr ausschließlich an Gewinnmaximierung orientieren. Auch berge die zunehmende Spreizung der Vermögen erheblichen gesellschaftlichen Sprengstoff.
  • Trotz der grundsätzlichen kritischen Bewertung dieses sozialistischen Gesellschaftsmodells sind manche Vorschläge von Klaus Dörre durchaus bedenkenswert. Die nötigen Veränderungen lassen sich durch unterschiedliche Wege und Modelle umsetzen, wobei der Verzicht dabei auf jeden Fall eine zentrale Rolle einnehmen wird.

 

Rottenburg, 24.10.2022

Karl Schneiderhan

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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