Förderverein Stadtbibliothek Rottenburg

28.11.2022: Ökonomisierung des Gesundheitswesens: Was hat sich verändert – was muss sich ändern?

1. Begrüßung und Einführung (Winfried Thaa)

Herr Thaa weist eingangs darauf hin, dass wir es heute in mehrfacher Hinsicht mit einem besonderen Thema zu tun haben: Jeder ist davon unmittelbar betroffen, und wir alle halten uns, wie sonst vielleicht nur noch beim Thema Schule, für ausgemachte Experten. Zudem ist das Thema brandaktuell. Die Covid-Pandemie hat die schon länger bestehenden strukturellen Probleme des Gesundheitswesens offengelegt. Als Hinweis dazu genügt das Stichwort „Pflegenotstand“. Wir sind also in einer Situation, in der sich die bestehenden Probleme und Missstände nicht mehr verharmlosen lassen.

Vor diesem Hintergrund versucht sich zur Zeit auch das Gesundheitsministerium an einer Reform, mit der die ambulante Behandlung gestärkt und die Fallpauschalen überwunden werden sollen. Die Fallpauschalen und etwas allgemeiner, die Ökonomisierung des Gesundheitswesens und ihr Spannungsverhältnis zu einer ärztlichen Ethik sollen die nächste halbe Stunde im Zentrum stehen.

Dazu begrüßen wir Dr. Klaus Wild. Er hat während der 70er Jahre in Tübingen Medizin studiert, war dann Facharzt für Innere Medizin an der Klinik in Reutlingen und schließlich leitender Arzt am Zentrum für Altersmedizin in Bad Urach. Er hat also die Veränderungen im Gesundheitswesen während der letzten Jahrzehnte hautnah erlebt.

 

2. Impuls Dr. Klaus Wild

3. Teilnehmerbeiträge

  • Welche internationalen Gruppen stecken hinter den 3 im Gesundheitswesen dominanten privaten Anbietern? Es sind im Wesentlichen die privaten Krankversicherungen (bei Sana) und Hersteller von Geräten und Medizinprodukten (bei Friesenius). Als Ideengeber in dieser Richtung fungiert die Bertelmann-Stiftung.
  • Mythos Kostenexplosion: Obwohl die Krankversicherungen im Laufe der Jahre immer mehr Geld für Gesundheitsleistungen ausgeben müssten, sind die Gesundheitskosten nur etwa im gleichen Maß gestiegen wie das BIP. Ein wesentlicher Kostentreiber ist die demographische Entwicklung. Jeder Mensch verursacht in seinem letzten Lebensjahr die höchsten Gesundheitskosten.
  • Der Zwang zur Rentabilität regiert in den medizinischen Alltag hinein: Operationen und medizinische Leistungen müssen gewinnbringend sein. „Unrentable“ Abteilungen werden aus wirtschaftlichen Gründen gern geschlossen. Dabei müssen solche Abteilungen oft hohe Vorhaltungsleistungen erbringen, um auf unvorhersehbare Notfälle reagieren zu können (Geburts- und Kinderkliniken, Geriatrie).
  • Der Grund für die Ökonomisierung des Gesundheitswesens liegt im Rückzug des Staates aus der Finanzierung der Gesundheitskosten. Plötzlich mussten Krankenhäuser bauliche Maßnahmen aus den laufenden Einnahmen bestreiten, da sich die Länder aus der Finanzierung dieser Kosten zurückgezogen hatten.
  • Aus Sicht der Politik ist es aber sinnvoll auf die Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen zu dringen. Während in Italien z.B. pro Jahr und Person nur 3.600 € Gesundheitskosten aufgewendet werden, sind das in Deutschland immerhin 6.500 €. In das Gesundsystem fließt also in Deutschland sehr viel Geld. Die Marktorientierung erreicht keine Kostenreduzierung, sondern erzeugt neue Player, die alle Geld verdienen wollen.
  • Gewinne, die mit Gesundheitsleistungen erzielt werden, sollten begrenzt oder rückinvestiert werden müssen. Eine gesamtgesellschaftliche Gesundheitsplanung sollte Über- oder Unterversorgung verhindern. Im Gesundheitssystem muss ein Umdenken stattfinden, es muss wieder der Patient im Mittelpunkt stehen.
  • Am Anfang der Untersuchung des Gesundheitssystems müsste geklärt werden, was Gesundheit eigentlich ist. Erst danach können wir die laufenden Prozesse verstehen und ändern.
  • Bei der Höhe der Gewinne von staatlichen und privaten Pflegeeinrichtungen gibt es wohl kaum Unterschiede.
  • In Deutschland hatten wir ein solidarisch finanziertes Gesundheitssystem. Davon ist seit den 80iger Jahren abgewichen worden. Wir stecken heute 10% unseres BIP in das Gesundheitssystem und wo viel Geld ist, werden auch Gewinne gemacht. Das gilt auch für den ambulanten Bereich, in dem zunehmend auch Kapitalgesellschaften auftreten. Diese investieren in medizinische Versorgungszentren oder Praxen und beschäftigen Ärzte dann als Angestellte, mit dem Ziel hohe Gewinne zu erzielen. Das führt dann u.a. dazu, dass - etwa bei Augenarztpraxen - nur noch die Leistungen erbracht werden, die  profitabel sind. Das Gesundheitssystem muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Die nachfolgende, junge Ärztegeneration hat überwiegend bloß noch Zahlen im Kopf. Viele junge Ärzte steigen frustriert aus der Medizin aus oder wandern ab.  Hier entwickelt sich ein gesellschaftlicher Sprengstoff.
  • Eine mögliche Richtungsänderung wäre die öffentliche Finanzierung von „Gesundheitszentren“, wie sie in den 70-iger Jahren angedacht waren. Auf jeden Fall ist das Thema Gesundheit aktuell und es müssen Alternativen entwickelt werden. Ob das die von Karl Lauterbach angekündigte Reform und der geplante Abschied von den Fallpauschalen leisten wird, kann man heute noch nicht beurteilen, dazu müssen erst noch die Details veröffentlicht werden.

 

 

 

 

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