Förderverein Stadtbibliothek Rottenburg

25.07.2022: Gesellschaft ohne Religion - Welchen Beitrag können Religionen zum Gemeinwohl leisten?

1. Einführung (Karl Schneiderhan)

Es gibt wohl derzeit kaum ein Thema, das so viel Zündstoff in sich birgt und kontrovers diskutiert wie das Verhältnis von Religion und Gesellschaft bzw. Staat und Kirchen. Wieviel Brisanz darin steckt, zeigte erst vor wenigen Tagen die öffentliche Auseinandersetzung um die kirchliche Trauung von Christian Lindner. Für unsere Themenstellung ist aber weniger die daraufhin fast skurril und grotesk geführte öffentliche Diskussion entscheidend. Vielmehr zeigt dieser Vorgang, auch für liberale Freigeister kann sich in existentiellen Lebensübergangen die religiöse Dimension des Menschseins eröffnen. Möglicherweise hat Max Horkheimer doch nicht ganz unrecht: ‚Einen unbedingten Sinn ohne Gott zu retten, sei eitel.‘  Anhand zweier Zugänge möchte ich zum Thema hinführen:   

Bereits beim Propheten Jeremia im Alten Testament lesen wir über die gegenseitige Verwiesenheit von Religion und Gesellschaft: „Bemüht euch um das Wohl der Stadt, … denn in ihrem Wohl liegt auch euer Wohl.“ (29,7) Auch wenn im Laufe der Geschichte Religionen, so auch das Christentum, schmerzhafte und dunkle Kehrseiten gezeigt haben wie die Mentalität von Kreuzzügen, Inquisition und kirchliche Machtpolitik oder wenn durch Fundamentalisten und radikale Schwärmer die Glaubwürdigkeit in Frage gestellt und der Friede unter den Menschen nicht gefördert wurde. Gleiches gilt für die in jüngster Zeit aufgedeckten Missbrauchsskandale mit den damit verbundenen Vertuschungen durch kirchliche Amtsträger, erschreckend dabei ist vor allem das Ausmaß. Es gibt im Verlaufe der Geschichte aber nicht wenige Beispiele, wo Religionen einen wertvollen Beitrag zum Gemeinwohl leisteten und bis heute leisten. Beispiele dafür sind z. B. die Spitäler für Kranke und Alte, Kultur- und Bildungseinrichtungen oder die im 19. Jh. in Verbindung mit der aufkommenden Industrialisierung entstandene katholische Sozialbewegung, die später entscheidend sozialpolitische Weichenstellungen mitgeprägt hat. Ein bekannter Vertreter dafür ist Adolf Kolping mit den Kolpinghäusern und dem bis heute bestehenden Kolpingbildungswerk. Als Beispiele für den Beitrag zum Gemeinwohl in unserer Stadt nenne ich exemplarisch Rottenburger Tafel und Vesperkirche. 

Nach dem Grundgesetz gründet unser Gemeinwesen auf Werten der jüdisch-christlichen Tradition wie des europäischen Humanismus. Dafür stehen Grundwerte wie Freiheit der Person, Achtung der Menschenwürde, Ehrfurcht vor dem Leben, Schutz von Ehe und Familie, Solidarität oder Gerechtigkeit.  Trotz dieser gemeinsamen Wurzeln und einer partnerschaftlich geprägten Verwiesenheit besteht dennoch eine Trennung von Staat und Kirche, was sich u. a. darin zeigt, wie der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt dies auf den Punkt brachte: ‚Bundespräsident und Bundeskanzler leisten ihren Eid auf das Grundgesetz, nicht auf die Bergpredigt Jesu.‘ Auch wird seitens der Politik und von Vertretern fast aller Parteien trotz des Rückgangs der Zahl der Kirchenmitglieder der Beitrag der Religionsgemeinschaften für das Gemeinwohl bekräftigt. Das bestätigt auch die Aussage eines Politikers, ich beziehe mich bewusst nicht auf einen christlich geprägten, nämlich die von Christian Lindner, bereits Jahre zuvor aus der Kirche ausgetreten, in einem Interview 2019 gegenüber der Zeitschrift ‚Christ und Welt‘. Er, Christian Lindner, betrachte Religion dennoch als wertvoll für die Gesellschaft. Sie sei eine Quelle für Zusammenhalt, Sinn und Wertvorstellungen. Dennoch brauche die Gesellschaft einen ethischen Minimalkonsens, unabhängig von einer einzelnen Religion, sozusagen ein Integrationskonsens, den sowohl säkulare als auch religiöse Bürger für sich begründen könnten. Sonst fliegt der Laden auseinander. 

Das Thema bietet also reichlich Stoff für einen spannenden Austausch. Ich freue mich, dass wir als Impulsgeber Karlheinz Rauch gewinnen konnten, einen seit Jahren dem Gesprächskreis verbundenen Teilnehmer. Karlheinz Rauch war bis zu seiner Pensionierung Schulleiter der Alice-Salomon-Schule* in Hechingen, ein berufliches Schulzentrum mit verschiedenen Schularten wie Berufsschule, berufliches Gymnasium, Fachschule für Pflege oder Berufskolleg. Wir sind gespannt auf deinen Impuls.

*Alice Salomon, 1872 – 1948, war eine Sozialreformerin in der deutschen Frauenbewegung und Wegbereiterin der Sozialen Arbeit als Wissenschaft, insbesondere mit dem Fokus auf soziale Gerechtigkeit.

 

2. Impuls (Karl-Heinz Rauch)

Von zwei Seiten möchte ich das Thema angehen:

  • Was passiert in unserer Gesellschaft? Der Versuch einer Bestandsaufnahme
  • Was passiert in globaler Perspektive?

Für das vergangene Jahr 2021 ist nach der Statistik der Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche klar:

Mehr als 359.000 Menschen haben die katholische Kirche verlassen.

Rund 280.000 Menschen sind aus der evangelischen Kirche ausgetreten.

Wir verzeichnen rund 650.000 Austritte für ganz Deutschland – Tendenz steigend. Im Jahr 2021 war erstmals weniger als die Hälfte der Deutschen katholisch oder evangelisch.

Das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD (SI) hat in einer bundesweiten Befragung Wege und Anlässe für Kirchenaustritte seit 2018 untersucht. Lediglich eine Minderheit benennt einen konkreten Anlass für den Kirchenaustritt (24 % vormals Evangelische, 37 % vormals Katholische). Dabei zeigt sich ein deutlicher Zusammenhang zum Alter: Jüngere Befragte nennen konkrete Anlässe seltener als Ältere, und sie geben häufiger an, sich für diesen Schritt schon länger entschieden zu haben, fast ein Fünftel unter ihnen nutzt eine sich ergebende „gute Gelegenheit“. Das zeigt: Man kann nicht einfach die Austrittswelle auf die Missbrauchsfälle oder die goldene Badewanne von Tebartz-van Elst allein schieben.

Seit geraumer Zeit erleben wir eine schleichende elementare Entfremdung der Kirchen von den Menschen und umgekehrt der Menschen von den Kirchen. Unlängst war in Zeit online zu lesen: Suchen die Gläubigen weiterhin ihr Seelenheil außerhalb der Kirchen, so werden deren überirdisch schöne Bauwerke in zwei, drei Jahrzehnten als Selfie-Kulissen in den Städten herumstehen, majestätische Überbleibsel eines verlogenen Ruhms, umgebaut zu Shoppingtempeln und Smart-City-Centern für Event-Fußpflege und Erlebnisgastronomie. (Was nach dem Glauben kommt, 28.11.2021)

Die kirchliche Trauung von Finanzminister Christian Lindner und Franca Lehfeldt auf Sylt ist ein aktuelles Beispiel. Eine Debatte ist nach dem Bekanntwerden entbrannt, denn beide gehören keiner Kirche an. Laut der Theologin und ehemaligen Bischöfin Margot Käßmann würden so traditionelle Räume zu billigen Eventlocations degradiert. "Weshalb wünschen zwei Menschen eine kirchliche Trauung, die bewusst aus der Kirche ausgetreten sind, ja öffentlich erklärt haben, dass sie sich nicht als Christen verstehen?", fragt Käßmann in ihrer Kolumne für "Bild am Sonntag". Statt einer Predigt gibt es die Rede eines Philosophen, fährt Käßmann fort. Peter Sloterdijk hat mal erklärt: „Das Christentum ist ein gescheitertes Projekt.“ Worüber hat der Mann dann geredet in St. Severin? Über die Liebe Gottes? Über die Ehe als Sakrament? Eines wird in jedem Fall deutlich, es rumort in der Gesellschaft, unsere Gesellschaft verändert sich.

Schauen wir uns die Veränderung genauer an. Werfen wir dazu einen Blick auf das Grundgesetz, das in einer Zeit formuliert wurde, als unsere Gesellschaft noch von Kirche und christlicher Religion geprägt und durchdrungen war. Zu erwähnen in diesem Kontext sind zudem die Artikel in der Landesverfassung von Baden-Württemberg zu Religion und Religionsgemeinschaften sowie zu Erziehung und Bildung. (Art. 4-22). Der deutsche Staat hat sich in seiner Verfassung verpflichtet, Religionen und Weltanschauungen neutral zu begegnen. Er darf sich selbst mit keinem religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis identifizieren. „Neutral“ bedeutet aber nicht, dass der Staat Religionen ablehnend oder gleichgültig gegenübersteht: Es ist vielmehr politischer Konsens, dass Religionen zum Zusammenhalt der Gesellschaft beitragen. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Staat daher eine „fördernde Neutralität“ gegenüber Religionen und Weltanschauungen nahegelegt.

Religionsunterricht ist daher fest verankert in unseren Schulen. „Fördernde Neutralität“ bedeutet, dass Staat und Religionen in vielen Bereichen partnerschaftlich zusammenarbeiten: Der Staat garantiert und finanziert im Rahmen der staatskirchenrechtlichen Regelungen Seelsorge und Bildung durch die Kirchen (u. a. Religionsunterricht, Medienarbeit, Bundeswehr, Vollzugsanstalten, Krankenhausseelsorge oder Theologische Fakultäten an den Universitäten). Zudem beteiligt er sich finanziell an Erziehungs-, Bildungs- und Sozialeinrichtungen, die von Religionsgemeinschaften eingerichtet worden sind (u. a. Kindertagesstätten, Erwachsenenbildung, Kultur). Kirchliche Einrichtungen werden also vom Staat genauso gefördert wie Einrichtungen von freien Trägern von Bildungs-, Erziehungs- und Sozialeinrichtungen (z. B. Arbeiterwohlfahrt oder DRK).

Deckt sich diese Vorstellung von einem Zusammenspiel Religion und Staat noch mit der gegenwärtigen Realität? Hat sich die Gesellschaft nicht so verändert, dass dieses Zusammenspiel nicht mehr passt? Die christlichen Feiertage wie Weihnachten, Ostern und Pfingsten sind laut Verfassung geschützt. Was ist mit den muslimischen Feiertagen? Es gibt Bundesländer, die schon weltliche Feiertage festgelegt haben, z. B. Weltfrauentag in Berlin. Einen Staat, in dem die Kirche eine bestimmende moralische Instanz ist und das Zusammenleben bis in die Familien hinein beeinflusst hat, gibt es nicht mehr. Stärkte die Religion früher nicht schon allein dadurch den Zusammenhalt in der Gesellschaft, dass im Gottesdienst oder in der kirchlichen Jugendarbeit Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft zusammenkamen? Und was haben wir heute: Die sozialen Milieus sind in sich homogener geworden und grenzen sich voneinander ab; sie durchmischen sich kaum noch. Abgegrenzte Milieus unterschiedlicher Wertesysteme prägen unseren modernen multikulturellen Staat. Soziologische Studien bestätigen das (u. a. Andreas Reckwitz, die Gesellschaft der Singularitäten).

Somit stellt sich die Frage: Hat also die Religion als die Agentur schlechthin, die die Werte für alle verbindlich vorgibt, ausgedient? Bezieht die Gesellschaft ihre Moral in Zukunft allein aus weltlichen Quellen? Dann bedeutet das: Der spirituelle Grundbedarf, also die grundsätzlichen Sinnfragen des Daseins, werden nicht mehr religiös beantwortet. Z.B. werden diese Sinnfragen nicht mehr durch die christliche Trinität beantwortet, sondern durch das „trinitarische Heilsversprechen“ des Kapitalismus: Wachstum, Wohlstand, Fortschritt oder durch den Fußballgott oder durch esoterischen Trostgemeinschaften bis hin zu Verschwörungsideologien.

Das klingt provokant, verfehlt allerdings das Thema nicht. Die Einstellungen, was im Leben wichtig ist und wonach man sein Leben ausrichtet, haben sich verändert. Mit den Werten ist es heute komplexer geworden, meint der Berliner Kommunikationswissenschaftler Norbert Bolz. Er beschreibt verschiedene Wertetypen, die miteinander im Widerstreit stehen oder sich gegenseitig beeinflussen. Zentrale Werte unserer Gesellschaft sind nach ihm Freiheit, Familie, Erfolg und Selbstverwirklichung. Jeder gewichtet sie unterschiedlich. Jeder entscheidet selbst, was ihm wichtig ist. Doch zentral ist die Selbstverwirklichung. Dieser Wert steht bei der gegenwärtigen Generation stärker im Mittelpunkt als bei den Älteren.

Ja: Jeder entscheidet letztlich über seine Werte selbst. Endlich ist die moderne Gesellschaft vom Stachel, den Geboten und Verboten der Religion befreit. Es gibt sogar Stimmen, die die Religion ganz abschaffen wollen. Ist das die Lösung für eine freie Gesellschaft? Wer darüber nachdenkt, muss allerdings auch bedenken: Würden wir heute die Religion aus der Welt schaffen, würden morgen neue Religionen entstehen. Religionen gibt es, weil der Mensch die Fähigkeit hat, über das Heute hinaus zu denken und erkennen muss, dass er endlich ist. Der Mensch sucht nach Antworten auf die großen Fragen des Lebens, auf die Fragen nach Glück und Leid, Gelingen und Scheitern, nach einem konstruktiven Umgang mit Schicksalsschlägen und alltäglichen Lebensrätseln. Wir Menschen müssen und wollen uns ständig mit diesen Fragen auseinandersetzen.

Es gibt einen bekannten Satz des  ehemaligen Juristen am Bundesverfassungsgerichts Ernst-Wolfgang Böckenförde (1930 – 2019): „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Theologen haben sehr schnell triumphierend diesen Satz so ausgelegt: Ohne religiöse Voraussetzungen kann unser Staat seine Werte nicht und sein Handeln nicht begründen. Böckenförde hat mit seinem Satz das so nicht gemeint. Diese fehlende Garantie einer gesellschaftlichen Basis ist das große Wagnis, das der Staat um der Freiheit willen eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er nur bestehen, wenn die Freiheit von innen heraus, aus der moralischen Substanz des Einzelnen bejaht und gelebt wird. Eine freiheitliche Gesellschaft kann allein mit Rechtsgewalt und Polizei nicht erzwungen werden, das ist ein Widerspruch in sich. Die Gesellschaft braucht Menschen mit moralischer Haltung und einem Wertekompass.

Wir haben die Kompetenzen. Viele Menschen handeln in ihrem Alltag nach humanen Überzeugungen, ohne dass sich die Motive aus religiösen Quellen herleiten lassen. Sie folgen der Stimme ihrer Empathie und ihres Gewissens, indem sie das Gute als gut, das Böse als bös begreifen, das Destruktive als destruktiv ablehnen und das Lebensfördernde als solches erkennen. Säkularisierung bedeutet nicht, dass Werte und Kultur verfallen.

Welche Funktion kommt dann der Religion in einer modernen hochkomplexen Gesellschaft noch zu? Eine moderne Gesellschaft kann sich nicht auf die Strukturen, die sie sich einmal gegeben hat, verlassen. Es gilt, diese Strukturen zu erhalten, immer wieder zu hinterfragen, neu auszufüllen und, wo nötig, zu ändern. In diesen Prozess könnten die Kirchen ihre religiösen Überzeugungen für die gesellschaftliche Neuorientierung und Wertebildung einbringen. So könnten die Kirchen einen Beitrag zur Stabilisierung der Gesellschaft leisten. Der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert fasst es wie folgt zusammen: „Aufgeklärte Religionen als herausragende Vermittler ethischer Standards – wer anders als sie könnte für Prinzipien wie Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Gewaltlosigkeit oder Gleichberechtigung im eigentlichen Sinn des Wortes ´glaubhaft´ einstehen?“

Für ein unser Gemeinwesen stabilisierendes Ethos tragen allerdings alle Bürgerinnen und Bürger Verantwortung – unabhängig von der Religionsgebundenheit. Diese Verantwortung ist nicht angeboren, Verantwortung muss gelernt werden. Elternhaus, Kindergarten und Schule haben die Aufgabe, die Einstellung junger Menschen zu unserer Gesellschaft in kritischer Auseinandersetzung zu prägen. Offensichtlich kommt der Kirche bei diesem Bildungsauftrag als Institution gegenwärtig doch eine große Bedeutung zu. Denn es ist zu beobachten: Immer mehr Menschen legen Wert auf eine Erziehung in einem konfessionellen Kindergarten oder einer konfessionellen Schule – auch solche Eltern, die sich von der Kirche bereits abgewandt haben. Wie sich dieses Verhalten in Zukunft weiterentwickelt, man darf gespannt sein. Denn die Kritik an Kirche und Religion ist und bleibt außerordentlich groß. Um in einem konstruktiven, hilfreichen Sinne ein Angebot zu sein, muss sich Religion an die Erwartungen und Bedürfnisse heutiger Menschen anpassen. Sie muss dabei zu einer völlig neuen Sprache finden und einer neuen Form von Weggemeinschaft finden.

Machen wir uns nochmals klar: Bisher war meine Fragestellung: Welche Bedeutung kommt der Religion in unserer Gesellschaft zu? Wir konnten sehen, dass im Chor aller am Zusammenleben beteiligter Stimmen die Religion ihren Beitrag einspeisen kann und muss, jedoch lediglich eine Stimme unter vielen ist.

Jetzt gehen wir der Frage nach: Wie stellt sich das Zusammenspiel von Gesellschaft und Politik und Religion in weltpolitischer Perspektive dar?

Global betrachtet hat sich die Säkularisierungsthese, also dass die Religionen in allen modernen Gesellschaften ihren Einfluss verlieren, nicht bewahrheitet: Trotz Liberalisierung wachsen die Religionen in den meisten Ländern der Welt. Religiöse Motive spielen in der internationalen Politik mit einer wachsenden Intoleranz und Gewaltbereitschaft eine unverkennbare Rolle. Leider! Putin bricht Völkerrecht und sagt die Unwahrheit. Der Patriarch von Moskau und der ganzen russisch-orthodoxen Kirchen Kyrill I. deckt dieses Verhalten. Donald Trump stehen viele christliche Kirchen, vor allem die evangelikalen zur Seite. Joe Biden scheitert mit einer landesweiten Durchsetzung des Rechts auf Abtreibung und der Senator von Alabama Clyde Champliss kann sagen: Ich glaube, dass wir uns an die Stelle Gottes setzen, wenn wir das Leben eines ungeborenen Kindes beenden. Polen und Ungarn legitimieren ihre Politik mit kirchlich-christlichen Argumenten. Orbán versteht sich als Verteidiger des Christentums gegen den Islam. Muslime in Saudi-Arabien, Ägypten oder den Golfstaaten sind sich weitgehend einig, dass der Islam im öffentlichen Raum Regeln setzen solle und alle Muslime ihre Zugehörigkeit zu ihm durch eine entsprechende Lebensführung öffentlich sichtbar machen sollten. 

Es fällt auf, dass meine Beispiele aus den Bereichen der prophetischen Religionen entnommen sind. Die Weltreligionen werden gern in mystische (Hinduismus, Buddhismus, Chinesische Weisheits-Religionen) und prophetische Religionen (Judentum, Christentum, Islam) unterschieden. Die prophetischen Religionen erschöpfen sich nicht in einer innerlichen Frömmigkeitskultur oder Mystik, nicht in der Suche nach dem eigenen Seelenfrieden und Kontemplation, sondern im Kampf für den Respekt vor dem Leben, für Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, unverbrüchliche Partnerschaftlichkeit und die Erhaltung der Erde. Sie greifen in das Weltgeschehen aktiv ein und wollen Gesellschaft gestalten. Ein solcher aktiver Impetus ist ambivalent und wird immer auch Kritik hervorrufen.

Wir tasten uns mit dieser Unterscheidung an ein grundsätzliches Problem heran. Dazu gehört eine Differenzierung im Blick darauf, wie real existierende Religion zu sehen ist. Es gibt nicht eine Religion, genauer: es gibt nicht eine Religion, die man auf den Labortisch setzen kann, um nach genauer Untersuchung zu sagen, die ist so oder so. Vielmehr gibt es Menschen, die nach einer Religion handeln. Keine Religion, und das gilt auch für die Politik, ist besser als die Menschen, die sie von innen her begreifen. Deswegen erscheinen Religionen immer ambivalent. Dies ist ein Dauerproblem.

Vor diesem Hintergrund kann ich sagen: Trotz einer Vielzahl von diktatorischen und korrumpierten Staaten und dem skrupellosen Verhalten mancher Staatsoberhäupter ist auf dem Fundament der Menschenrechte weltweit ein Rechtsbewusstsein entstanden, das von der unantastbaren Würde des Menschen ausgeht, so wie es in unserem Grundgesetz steht und dem die Religionen nur zustimmen können. Seit den 1990er Jahren sind alle Kulturen und Religionen in einen globalen Dialog eingetreten. Das in Tübingen angesiedelte Projekt Weltethos und andere Entwürfe sind zu einer epochalen Entdeckung durchgestoßen. Es gibt zwischen den Weltreligionen einen tiefen und bemerkenswerten Konsens über Welt- und Lebensgestaltung. 1993 kamen in Chicago 6 500 Menschen der verschiedensten großen und kleineren Religionen zusammen und verabschiedeten als Parlament der Weltreligionen eine Erklärung zum Weltethos. Ihre Ziele, Haltungen und Visionen sind alle von der Goldenen Regel getragen, die da heißt: Behandle andre so, sie du von ihnen behandelt werden willst. Große, inter- und überreligiöse Maßstäbe der Humanität wurden aus diesem Grundsatz entwickelt: Respekt vor dem Leben und Gewaltlosigkeit, gegenseitige Gerechtigkeit, unbedingte Wahrhaftigkeit, unverbrüchliche Partnerschaft und Gleichberechtigung und – als unabdingbare Voraussetzung dazu – Bewahrung der Erde, also Erhaltung unseres gemeinsamen Lebensraumes.

Diese Werte können eine erneuernde Kraft entfalten, weil sie unabhängig voneinander in allen großen Kulturräumen entdeckt wurden. Diese Vision wurde schon 1995 in dem Dokument der von der UNO eingesetzten Kommission für Weltordnungspolitik „Nachbarn in Einer Welt“ (Our Global Neighbourhood) in die Welt getragen. Globale Werte sind das Kernstück einer Weltordnungspolitik heißt es dort und das Dokument fährt fort: „Wir leben in einer Zeit, da die Weltgemeinschaft des Mutes bedarf, neue Ideen zu erkunden, neue Visionen zu entwickeln und ein deutliches Engagement für gemeinsame Werte beim Erdenken neuer Gestaltungsregeln zu zeigen.“(Kommission f. Weltordnungspolitik, 1995, S. XXII) Als ethisches Grundprinzip wird in diesem UNO-Dokument vor allem die Goldene Regel angegeben.

Die Zeit, in der Religionen die Lösung für Weltprobleme parat hatten, ist abgelaufen. Die Probleme in Gesellschaft und Politik von lokalen bis hin zu den globalen Dimensionen sind hoch komplex geworden. Unser menschliches Zusammenleben und Überleben sind vor ungeahnte Herausforderungen gestellt. Unsicherheit und Angst, die langfristige Unberechenbarkeit unseres Verhaltens und die Verführung zu Ideologien und falschen Versprechungen sind stets präsent. Gesellschaft und die in ihr lebenden Religionen müssen einen gemeinsamen Leben bejahenden Lösungsweg finden und gehen.

Wo sind die Quellen? Sie liegen in den kulturellen Ressourcen, den Einsichten, den emotionalen Erfahrungen, historischen Erinnerungen und spirituellen Orientierungen der Völker. Keiner Gesellschaft ist vor diesem Hintergrund geholfen, wenn sie religiöse Gestaltungskräfte außen vorlässt. Die Religionen schöpfen aus tiefen menschlichen Erfahrungen, die in Krisenfällen stark machen können. Wir leben in umfassenden Zusammenhängen, die menschliche Möglichkeiten und den Horizont des menschlich Machbaren überschreiten.

In unseren ethischen Werten liegen Religiosität und Säkularität näher beieinander als wir denken.  Die religiösen Kernwerte, die unser Handeln meist bestimmen, leben in den bekannten explizit humanen Werten weiter. Umgekehrt lebt die Gestaltung von Staat und Gesellschaft nicht einfach aus juristischen Regeln und Geboten. Z.B. könnte ein noch so strenger mit hohen Strafen belegter Rechtsschutz des Eigentums allein das je persönliche Eigentum nicht schützen. Die Bürger und Bürgerinnen müssen von innen heraus und in Freiheit den Respekt vor dem persönlichen Eigentum haben. Immanuel Kant (1724 - 1804) hat behauptet, eine gute Ethik habe rational vorzugehen, dürfe sich von keinen Neigungen, sondern allein von der Pflicht leiten lassen. Das ist zu wenig. Wir brauchen Emotionen, die von dieser Ethik durchdrungen sind, wir brauchen moralisches Handeln, das von den positiven Emotionen der Empathie, der Solidarität und der Versöhnung geprägt sind. Dazu können oder soll ich sagen: müssen die Religionen einen nicht zu unterschätzenden Beitrag leisten.

(Bei der Erarbeitung dieses Impulses hat mir ein Aufsatz von Prof. Dr. Hermann Häring viele entscheidende Gedanken geschenkt: H. Häring, Religion und Politik – Quellen von Gewalt? Eine Gewissenserforschung, 25.07.2019, zu finden auf der Homepage)

 

3. Beiträge der Teilnehmerinnen und Teilnehmer

  • Obwohl Christian Lindner und seine Frau aus der Kirche ausgetreten sind, haben sie auf Sylt kirchlich geheiratet. Anstelle eines Pfarrers hielt der Philosoph und Schöndenker Peter Sloterdijk die Hochzeitsrede. Anmerkung des Protokollanten: Eben jener Sloterdijk forderte vor Jahren die Abschaffung der gesetzlichen Einkommensteuer zugunsten freiwilliger Schenkungen. Zitat: „Die Revolution der gebenden Hand: Die Abschaffung der Zwangssteuern und deren Umwandlung in Geschenke für die Allgemeinheit.“ Wie muss es wohl um die Geisteshaltung der Pfarrerin bestellt sein, die diesem Dreamteam ihre Kirche zur Verfügung stellte?
  • Werden in einem solchen Fall, wo es um existentielle Lebensübergänge geht, religiöse Rituale doch noch - und sei es als Kulisse für eine überbordende Selbstdarstellung - geschätzt? Andererseits hat Bundeskanzler Scholz seinen Eid auf die Verfassung ohne den Zusatz „So wahr mir Gott helfe“ geschworen.
  • Die Kirchenaustrittszahlen geben kein vollständig zutreffendes Bild über die Religiosität der Bürger wieder. Nicht wenige, die aus den Kirchen austreten, bekennen sich nach wie zum Christentum oder wurden Mitglieder einer anderen Religionsgemeinschaft. Wie sieht das bei den nichtchristlichen Religionen aus?
  • Karl-Heinz Rauch: Dazu liegen ihm keine Zahlen vor. Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung gehört keiner Religion (mehr) an. Jedoch: ein Kirchenaustritt ist nicht unbedingt ein Glaubensaustritt.
  • Erfahrungen sind die Grundlage von Religionen. Andersartigkeit bzw. ein anderer Glaube ist der Anlass von Diskussionen. Religion ist eine Grundlage für die Bereitschaft zur Gewalt, mit der die eigene Besonderheit verteidigt wird. Religiöse Werte sind mit starken Emotionen verbunden, Religion strukturiert den Ablauf des Jahres. Jedoch werden heute durch das Internet Rituale zunehmend verändert.
  • Wir haben einen speziell westdeutschen Blick auf Religion. In Ostdeutschland wurden religiöse Inhalte von der Bildungspolitik ignoriert bzw. sogar bekämpft. Wie das Beispiel „Jugendweihe“ zeigt, wurden aber religiöse Rituale unter anderem Namen eingeführt. Mit dem Begriff der „Weihe“ wurde sogar ein religiöser Begriff offiziell übernommen.
  • In den letzten Jahren ist mehr Pluralität entstanden, das Aushandeln von offenen Fragen hat Festlegungen von oben ersetzt und trotzdem ist es schwer, moralische Grundsätze mit Vernunft zu begründen. Wie die Diskussionen um den Klimawandel zeigen, fehlt uns eine Verbindlichkeit von Werten. Es wäre eigentlich eine ethische Notwendigkeit, den Fortbestand der Welt mit mehr Nachdruck zu schützen. Der aktuelle Wertepluralismus erzeugt aber auch den Wunsch nach Wiederherstellung allgemein verbindlicher Werte.
  • In Hinsicht auf das von Karl eingangs angeführte Zitat Horkheimers stellt sich die Frage, ob wir ohne Religion, bzw. ohne Annahme von etwas Unverfügbaren nicht dabei landen, alles der willkürlichen Nutzung zu unterwerfen. Die schlimmsten Herrschftssysteme des 20. Jahrhunderts haben sich nicht zufällig gegen Religion und die vom religiösen Glauben gesetzten Schranken gewandt. Jedenfalls hat Hannah Arendt darauf hingewiesen, dass die totalitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts nicht passiert wären, wenn noch an absolute Werte geglaubt worden wäre.
  • Religiöse Wert- und Normsetzungen sind gesellschaftlich bedingt. Gott spricht nicht direkt zu seinen Gläubigen, sondern eine gesellschaftliche Schicht von Religionsexperten (Theologen, Gelehrte, Pfarrer) hat die Ausarbeitung und Verkündigung von Gottes Wort übernommen. Ihre Verlautbarungen sind dem demokratischen Diskurs entzogen, da sie ihre Inhalte ja von „oben“ empfangen. Eine Untersuchung von Religion muss also immer die Interessen dieser gesellschaftlichen Schicht mit einbeziehen. Die Kirche war oftmals mit der weltlichen Macht zu sehr verbunden. Bis zur Erfindung des Buchdruckes hatte die Kirche das Kommunikationsmonopol. Wollten die Menschen bis dahin etwas über die Welt wissen, mussten sie in die Kirche gehen und dem Pfarrer zuhören. Der Buchdruck schaffte dann die Möglichkeit, dass Meinungen, Ideen und Berichte ohne kirchliche Zensur veröffentlicht werden konnten. Letztendlich hat die Aufklärung die individuellen Freiheitsgrade und Rechte deutlich gestärkt. Werte wie Gleichheit, Brüderlichkeit und Gerechtigkeit wurden in die Verfassung von Staaten übernommen. Das Lossagen von kirchlichen Glaubensdogmen hat in Westeuropa einen Erkenntnisschub in Wissenschaft und Technik ausgelöst.
  • Was wäre, wenn es keine Religionen gäbe? Heute ist es üblich geworden, über alles zu verhandeln. Bei grundsätzlichen ethischen Fragen lässt sich jedoch die Erfahrung machen, dass wir zu ihrer Entscheidung letzte Werte brauchen, die sich nicht nach Nutzen und Interessenlage beliebig verhandeln lassen. Die Kirche prägt unsere Werte und Traditionen und hat hier etwas zu bieten, das die Aufklärung nicht leisten kann. Zudem ist auch in ihrem Namen, im Namen der Rationalität Schlimmes geschehen, man denke nur an den Kolonialismus. Heute haben wir eine relativ freie und offene Gesellschaft. Darauf muss die Kirche Antworten finden. Auch die Demokratie braucht eine innere Idee von Moral und Menschlichkeit.
  • Wir haben bereits allgemeinverbindliche Werte im Grundgesetz, die ihre Wurzeln in der jüdisch-christlichen Tradition sowie im europäischen Humanismus haben. In der Religion finden Menschen Antworten auf grundlegende, existentielle Fragen des Lebens wie Umgang mit Schuld oder der Frage, was nach dem Ende des Lebens passiert.
  • Was aber ist mit den vielen schweren historischen Verfehlungen kirchlicher Amtsträger wie z. B. Kreuzzüge, Kolonialsierungen, Kindesmissbrauch?
  • Heute ist es schwieriger geworden, Menschen für die Mitarbeit in sozialen bzw. karitativen Aufgaben zu finden. Bei allen Fortschritten ist die Aufklärung auch in ihrer Ambivalenz zu sehen, denn sie war auch eine Grundlage für die Entwicklung des Kapitalismus. Aufklärung wäre ohne die christlichen Werte von Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit nicht möglich gewesen.
  • Frauen werden von der katholischen Kirche immer noch als Menschen zweiter Klasse behandelt, dies ist schon lang ein Problem und muss dringend gelöst werden.
  • Die Entwicklung der modernen Gesellschaft lässt sich in drei Phasen aufteilen:
  1. Die Moderne bis Ende der 1970iger Jahre,
  2. die Spätmoderne mit ihrer radikalen Pluralität ab etwa 1980 und
  3. die Postmoderne, die durch weitere Freisetzungsprozesse gekennzeichnet ist.

         Diese Phasen können helfen, die Entwicklung der Religiosität in unserem Lande besser zu verstehen.

  • Abschließend fragt Karl-Heiz Rauch, wie die Stellung der Kirche im Grundgesetz ausgesehen hätte, wenn im Zuge der Wiedervereinigung das Grundgesetz zwischen Ost und West neu verhandelt worden wäre.

 

4. Abschluss

Der Moderator dankt dem Impulsgeber Herrn Rauch für seinen interessanten Impuls und den Teilnehmern die lebhafte Diskussion.

Im August ist Sommerpause, der nächste Politische Gesprächskreis findet am 26.09.2022 zum Thema ‚Energie und Energiewende‘ statt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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