Förderverein Stadtbibliothek Rottenburg

27.06.2022: Brauchen wir eine Wende in der Bau- und Wohnungspolitik?

 

1. Einführung (Karl Schneiderhan)

Ich begrüße Sie herzlich zu unserem heutigen Gesprächskreis zu einem Thema, das nicht nur hoch aktuell ist, sondern vor allem eine spannende und möglicherweise auch kontroverse Diskussion verspricht. Zum Einstieg zwei Zitate, sozusagen als Appetitanreger, zum ersten von Johann Gottfried von Herder (1744 – 1803), er war Philosoph, Theologe und Dichter: „Wie Menschen denken und leben, so bauen und wohnen sie.“, zum zweiten eine Volksweisheit aus Schweden: „In sehr großen Häusern wohnen oft kleine Leute.“

In der Ausschreibung haben wir beschreiben, warum wir dieses Thema ausgewählt haben und es sich lohnt, dieses ausführlicher zu diskutieren. Inzwischen ist unbestritten: Wir haben ein Problem, denn der Bedarf an Wohnraum einerseits und der in unserer Gesellschaft bestehende Anspruch hinsichtlich Größe und Lage andererseits sind immer weniger in Einklang zu bringen. Möglicherweise erinnern sie sich noch an die durch Äußerungen des Grünen-Fraktionsvorsitzenden im Bundestag Anton Hofreiter im vergangenen Jahr ausgelöste Debatte um das Thema ‚Einfamilienhäuser‘. Dieser Vorgang hat gezeigt, wie emotional besetzt das Thema Wohnen ist. 

Erst in diesen Tagen war zudem in der Presse zu lesen, die demographische Entwicklung sei eine der Ursachen des hohen Verbrauchs an Wohnflächen. Ursprünglich von mehreren Personen bewohnte Familienwohnungen werden in der späteren Lebensphase noch von zwei oder gar nur noch von einer Person genutzt. Es fehlen aber noch Rahmenbedingungen für einen frühzeitigeren Wohnungswechsel, u. a. besteht ein Mangel an bezahlbarem und zentrumsnahem seniorengerechtem Wohnraum. Auf der anderen Seite suchen insbesondere junge Familien eine adäquate und bezahlbare Wohnung bzw. hegen den Wunsch nach einem Eigenheim. Die Frage der Wohnung ist in unserer Gesellschaft inzwischen auch zur neuen sozialen Frage geworden. Dabei gilt es, sowohl das Wohnen in der Stadt wie im ländlichen Raum zu beleuchten.

Die Bundesregierung hat nun im Koalitionsvertrag ein ambitioniertes Wohnbauprogramm angekündigt. Nicht nur für dieses Programm, auch für private und öffentliche Bauvorhaben türmen sich aber verstärkt Hindernisse auf, die eine zeitnahe Umsetzung verhindern, auf jeden Fall erschweren: Mangel an Bauflächen, an Fachkräften oder Baumaterial, zudem ein kaum mehr verlässlich planbarer Kostenrahmen aufgrund er Kostenexplosionen. Neben diesen Hindernissen stellen sich noch weitere Herausforderungen wie sozialstaatliche Notwendigkeiten (Einkommensschwache Familien oder sog. Benachteiligte Haushalte), die Erreichung der Klimaziele und der Schutz der Artenvielfalt. Zudem konfrontiert uns der Krieg in der Ukraine mit der Frage, ob und in welchem Maße künftig landwirtschaftlich genutzte Flächen für Siedlungsentwicklung entzogen werden darf, ob Wohnbau oder Gewerbe, wenn die Ausfuhr von Nahrungsmitteln nicht mehr garantiert werden kann.

Ist es angesichts solcher Rahmenbedingungen überhaupt noch realistisch, wie politisch gewollt, das geplante Soll an Wohnraum zu erreichen bzw. kostengünstigeren Wohnraum zu schaffen? Wie können wir als Gesellschaft, als Kommune, aber auch als Bürger diesen widerstreitenden Zielen gerecht werden? Gibt es Perspektiven und Wege, dennoch verträgliche Lösungen zu finden? Darüber wollen wir heute miteinander ins Gesprächs kommen und dabei auch die konkrete Situation in Rottenburg in Blick nehmen.  

Als Impulsgeber und Gesprächspartner darf ich herzlich Michael Lucke begrüßen. Er hat sich nicht nur in seiner früheren Funktion als Bürgermeister in Tübingen, sondern in jüngster Zeit auch in seiner Funktion als Vorsitzender des Kreisseniorenrates Tübingen und Mitglied des Vorstandes des Landesseniorenrates sowie in weiteren Gremien intensiv mit diesem Thema befasst.

 

2. Vortrag von Herrn Michael Lucke

 

 

3. Teilnehmerbeiträge

  • Auf Nachfrage erläutert Herr Lucke, dass in den von ihm genannten Zahlen auch Ferienwohnungen enthalten sind, weil man gar nicht so genau wisse, wie viele Wohnungen als Ferienwohnung genutzt werden.
  • Das Klimaziel einer durchschnittlichen Erwärmung von 1,5° C ist für Tübingen nicht mehr erreichbar, hier seien es bereits 3° C. Dadurch sind ältere Menschen schon heute besonders gefährdet. Wie könnte man Wohn- und Lebensformen gestalten, um diesen Menschen einen besseren Schutz vor der Erwärmung zu bieten? Eine Lösung ist auch deshalb schwierig, da ältere Menschen gerne in dem bisher bewohnten Haus bleiben möchten. Zudem bleiben ältere Menschen gern in ihren übergroßen, schon lang bewohnten Wohnungen, weil sie oftmals für kleinere, modernere Wohnungen mehr als bisher bezahlen müssen. Auch finden wir In Rottenburg keine Vielfalt des altersgerechten Wohnens. Positive Beispiele für seniorengerechtes Wohnen könnten zeigen, wie altersgerechtes Wohnen aussehen kann, ohne dass damit ein sozialer Abstieg oder eine Einbuße an Lebensqualität verbunden ist. Altersheime sollten in Ortszentren gebaut werden, ohne den Ortscharakter zu zerstören.
  • Die jungen Menschen sollten ihre Wünsche in Bezug auf Wohnqualität und Wohnfläche etwas reduzieren. Mit überzogenen Wohnungsbauprogrammen werden unrealistische Erwartungen geweckt.
  • Wie bei der E-Mobilität sollte eine staatliche Steuerung der Wohnungswünsche über ein System von Steuern und Zuschüssen erfolgen.
  • Langfristiges Planen ist schwieriger geworden, weil sich die Wünsche der Menschen immer kurzfristiger ändern. Wünsche in Beug auf das Wohnen sollten durch politische Vorgaben gesteuert werden.
  • Ein Modell für die Steuerung solcher Wünsche könnte ein 3. Mehrwertsteuersatz von z. B. 30% auf solche Produkte oder Dienstleistungen sein, die der dringend erforderlichen nachhaltigen Umgestaltung der Wirtschaft und des Wohnens entgegenstehen. Der erwähnte Zuwachs der Fahrzeuge mit E-Antrieb ist nicht zuletzt durch radikale Vorgaben der EU beschleunigt worden. Allerdings muss die EU-Kommission nicht aller 4 Jahre um eine Wiederwahl bangen, da haben es die nationalen Regierungen schon schwerer. Mit den Einnahmen aus einer solchermaßen erhoben Mehrwertsteuer könnten dann z. B. Maßnahmen zum Aufbau einer sozialen Infrastruktur im Wohnumfeld älterer Menschen finanziert werden.
  • Sowohl bei der Frage des Wohnens und Bauens, wie auch bei vielen anderen Fragen der Nachhaltigkeit muss die Politik auf jeden Fall steuernd eingreifen. Allerdings sollte man sich fragen, ob die Politik immer alles richtig überblickt.
  • Herr Lucke nimmt Stellung zum Spannungsfeld zwischen den Wünschen der Menschen und einer politischen Steuerung. Auf der einen Seite wollen wir möglichst flächensparend bauen, auf der anderen Seite will die überwiegende Mehrheit der Bauinteressenten Einfamilienhäuser mit den 3 G (Garten, Garage, Gäste-WC) bauen. Steuerungsversuche müssen sehr genau über ihre Wirkungen Bescheid wissen. So ist z. B. eine bloße Zusammenballung von Altenwohnungen ohne ein entsprechendes Umfeld wenig sinnvoll. 80% der Pflegebedürftigen werden daheim gepflegt – hier finden wir eine große Nachfrage für das Wohnen mit Assistenzbedarf. Weil das Thema Wohnen in Zukunft eine riesige gesellschaftliche Brisanz bekommt, müssen wir aufstehen und uns in politische Prozesse einmischen.
  • Es wird darauf hingewiesen, dass ein Rottenburger Gewerbegebiet nicht zuletzt durch eine Kiebinger Initiative per Bürgerentscheid mit dem Argument Flächenverbrauch verhindert wurde. Jetzt wird in Kiebingen ein Wohngebiet geplant, in dem überwiegend Einfamilienhäuser entstehen sollen, d. h. hier spielt nun der Flächenverbrauch keine entscheidende Rolle mehr.
  • In Rottenburg konnte im Neubau am Marktplatz (ehemaliges KSK-Gebäude) dank der Planungen der Kreissparkasse sowie der Intervention des Kreisseniorenrates Wohnraum für 32 Personen mit Unterstützungsleistungen erreicht werden. Träger wird die BeneVit-Gruppe Mössingen sein. Ursprünglich waren in den oberen Stockwerken des Gebäudes von der Stadt nur Geschäftsräume vorgesehen. Dem städtischen Seniorenzentrum I-Dipfele hat OB Neher neue Räume in der Rottenburger Stadtmitte zugesagt. Immer wieder muss man bei neuen Gebäuden in der Stadtmitte auf eine Mischung von Wohn- und Geschäftsräumen achten, so. z. B. auch im Haus Jeckel. In der Stadtmitte sollten ältere Menschen lang wohnen können, Pflegeangebote nutzen und alle benötigten Hilfsangebote vorfinden.
  • Von Bauträgern angebotene Seniorenresidenzen sind oft überteuert und verfügen nicht über die erforderlichen Hilfsangebote im Umfeld.

4. Abschluss

Zum Abschluss der Veranstaltung wird der neue Wohnberater des Kreisseniorenrates, Herr Schmid, vorgestellt. Sein Beratungsangebot soll es ermöglichen, dass Menschen möglichst lange in ihrem gewohnten Wohnumfeld bleiben können. Dabei sollen unterstützende soziale und technische Hilfsangebote erschlossen werden. Herr Schmid ist über den Kreisseniorenrat zu kontaktieren.

Herr Schneiderhan bedankt sich bei dem Referenten für seinen interessanten Impuls und bei den Teilnehmern die lebhafte Diskussion.

Der nächste Politische Gesprächskreis findet am 25.07.2022 statt.

 

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