Förderverein Stadtbibliothek Rottenburg

26.07.2021: Wir haben die Wahl! – Bundestagswahl 2021 Analyse aktueller Trends im Wahlkampf

 

1. Begrüßung und Einführung (Winfried Thaa)

 

Winfried Thaa begrüßt die anwesenden Teilnehmerinnen und Teilnehmer und weist in seiner Einführung insbesondere auf die Besonderheiten dieser Bundestagswahl gegenüber früheren Wahlen hin. So geht dieses Mal keine/r der Kanzlerkandidaten/in mit einem Amtsbonus in die Wahl. Dies könnte entgegen dem Trend der Personalisierung von Wahlen einen offeneren Wettbewerb um inhaltliche Positionen ermöglichen.

 

2. Impuls und Präsentation (Karl Schneiderhan)

1. Was kennzeichnet bisherige Wahlen und Wahlkämpfe?

Seit Gründung der BRD 1949 ist dies die 20. Bundestagswahl. Die Wahlbeteiligung sinkt seit vierzig Jahren, bis 1983 lag diese meist über 85%, seit 1987 meist unter 80%, jedoch höher als bei Landtagswahlen, Europa- und Kommunalwahlen. Ihren Höhepunkt hatte die Wahlbeteiligung bei der vorgezogenen Bundestagswahl 1972 mit 91,1%. Die Wahl war geprägt von den Auseinandersetzungen um die neue Ostpolitik Willy Brandts. Ihren historischen Tiefstand erreichte die Wahl­beteiligung 2009 mit nur 70,8%. 2017 stieg diese wieder auf 76,2%, nachdem Nichtwähler, bedingt durch den Erstauftritt der AfD bei einer Bundestags­wahl, aktiviert werden konnten. Die Höhe der Wahlbeteiligung variiert nach Altersgruppen (bei Älteren höher als bei den Jüngeren), sozialem Status, nach Bundesländern und war seit der Wiedervereinigung im Westen immer höher als in ostdeutschen Bundesländern. Laut einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung sind Teile der Nichtwähler durchaus politisch interessiert und informiert. Hauptmotive für Wahlenthaltungen sind Unmut über Politiker sowie Unzufriedenheit mit Programm und Arbeit der Parteien.

Bei der ersten Wahl zum Deutschen Bundestag mit 420 Abgeordneten und 12 politischen Gruppierungen (!) wurde die CDU unter Konrad Adenauer mit 31% stärkste Kraft, der Frauenanteil lag bei 7%, aktuell bei ca. 32.%, von 2013 bis 2017 bei 36,5%. Adenauer wurde damals mit nur einer Stimme Mehrheit zum Kanzler gewählt. 1957 erringen CDU/CSU mit dem Slogan „Keine Experimente“ und „Wohlstand für alle“ die absolute Mehrheit der Stimmen und Sitze, während die SPD, die sich mit dem Slogan „Raus aus der Nato“ vehement gegen die Westintegration stemmte, beim Wähler nicht überzeugen konnte. Die Hauptkonfliktlinie damaliger Lagerwahlkämpfe verlief noch über Jahre zwischen den Positionen Westintegration oder Neutralität mit dem Ziel nationale Einheit sowie freie soziale Marktwirtschaft oder Planwirtschaft. Die Union konnte mit ihrem Konzept der sozialen Marktwirtschaft, bekannt auch als Düsseldorfer Leitsätze der CDU von 1949, die Mehrheit der Wähler überzeugen und die Entwicklung gab ihr recht.

Mit der Wahl 1961 beginnt für die SPD mit dem Godesberger Programm und ihrem neuen Spitzenkandidaten Willy Brandt, damals Regierender Bürgermeister in West-Berlin und durch den Bau der Mauer weit darüber hinaus bekannt, der Aufschwung, der 1969 zu einem ersten Machtwechsel führte. Willy Brandt wurde Bundeskanzler und nach einem überstandenen Misstrauensvotum bei der vorgezogenen Wahl 1972 als Bundeskanzler eindrücklich bestätigt, die SPD wurde sogar stärkste Fraktion. In der Folgezeit war die Außenpolitik geprägt von gegensätzlichen Positionen in der Ostpolitik. 1980 nominieren CDU/CSU erstmals mit Franz-Josef Strauß einen CSU-Politiker zum Kanzlerkandidaten verbunden mit erheblichen Stimmenverlusten für CDU/CSU bei der Wahl 1980.

Seit Gründung der Bundesrepublik konnten sich amtierende Bundeskanzler bei 15 Wahlen behaupten, lediglich bei drei Wahlen erfolgte eine Abwahl, 1969 von Kiesinger zu Brandt (SPD/FDP), 1998 von Kohl zu Schröder (SPD/Grüne) und 2005 von Schröder zu Merkel (CDU/SPD). Im Verlaufe einer Wahlperiode gab es drei Kanzlerwechsel: 1966 von Erhard zu Kiesinger (Union/SPD), 1974 von Brandt zu Schmidt und 1982 von Schmidt zu Kohl (Union/FDP).

1983 ziehen erstmals die Grünen in den Bundestag ein und 1990, ein Jahr nach dem Fall der Mauer und dem Ende der DDR, finden die ersten gesamtdeutschen Wahlen statt, bei der die Grünen knapp an der 5% Hürde scheitern. Diese erste gesamtdeutsche Wahl und die zuvor vollzogene Einheit Deutschlands waren eine der markantesten Einschnitte in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. 2002 nominiert die Union ein zweites Mal einen bayerischen CSU-Politiker als Kanzlerkandidaten, den damaligen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber, verliert aber erneut die Wahl. Das Nord-Süd-Gefälle war auch im Stimmverhalten der Wähler deutlich erkennbar. Mit Angela Merkel wird 2005 erstmals eine Ostdeutsche zur Bundeskanzlerin gewählt und kann vermutlich die längste Amtszeit aller Bundeskanzler für sich beanspruchen. Die FDP verfehlt, nach einem fulminanten Wahlsieg 2009 mit 14,9% (allerdings war dies die Wahl mit der niedrigsten Wahlbeteiligung, was der FDP zugutekam), erstmals den Einzug in den Bundestag, ein herber Rückschlag für die freiheitliche Partei, die sich über Jahrzehnte als verlässlicher Mehrheitsbeschaffer für Regierungsbildungen gesehen hat, sowohl mit Union wie SPD.

Aufgrund von Ausgleichs- und Überhangmandaten hat die Zahl der Abgeordneten stark zugenommen, 1949 waren es noch 450, aktuell sind es 709, ebenso die im Bundestag vertretenen Parteien mit derzeit 6 Fraktionen, nachdem abgesehen von der ersten Wahlperiode das Dreiparteiensystem die Parlamentsarbeit prägte.   

Der Stil der Auseinandersetzungen unter den Parteien war in den ersten Jahrzehnten weit aggressiver und konfrontativer als heute, zum Teil geradezu feindselig. Bekannt sind u. a. Wortausbrüche von Herbert Wehner (SPD) gegenüber CDU-Politikern wie ‚Übelkrähe‘ oder ‚geistiges Eintopfgericht‘ und anlässlich des Wahlkampfes 1980 erinnerte der damalige Bundestagspräsident Richard Stücklen in mahnenden Worten die Parteipolitiker daran, auch der politische Gegner habe eine menschliche Würde. Diese Ermahnung richtete sich auch gegen seinen Parteifreund Franz-Josef Strauß, der über den politischen Gegner SPD einmal sagte: „Irren ist menschlich. Aber immer irren ist sozialdemokratisch.“ Mit Beginn der 70er Jahre ist eine zunehmende Personalisierung der Wahlkämpfe zu beobachten, was sich insbesondere in den Wahlplakaten widerspiegelt.

 

2. In welchem politischen Umfeld findet die Wahl 2021 statt?

  • Neben der Pandemie-Krise sind Demokratien, national, in Europa und global, zeitgleich mit zunehmend sich verschärfenden Herausforderungen und Konflikten konfrontiert wie soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten, Klimawandel und die damit verbundenen Katastrophen, Flucht und Vertreibung, Digitalisierung, Terrorismus oder autoritär-nationalistische Dynamiken.
  • Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts kam es zudem in nahezu allen europäischen Demokratien zu einer Instabilität der Parteiensysteme verbunden mit einem Niedergang großer Volksparteien. In Italien lösten sich die beiden größten Parteien, die ‚Democracia Christiana‘ und die ‚Kommunisten‘ schon während der 90er Jahre ganz auf, in Frankreich verloren Gaullisten und Sozialisten ihre dominante Stellung im Parteiensystem. In vielen anderen Ländern, so auch in Deutschland, ist eine Ausdifferenzierung des Parteiensystems zu beobachten, verbunden mit beachtlichen Stimmenverlusten für die Volksparteien. Ursache für diese Entwicklung ist u. a. eine Erosion der großen sozio-kulturellen Milieus der Gesellschaft, die in Verbindung mit den beiden Konfliktlinien Arbeit-Kapital und säkular-kirchliche Orientierung in der Nachkriegszeit entstanden waren. An die Stelle der alten, sozio-kulturell und programmatisch identifizierbaren Parteien traten in mehreren Ländern personenbezogene „Bewegungen“ - etwa Berlusconis „Forza Italia“ oder Macrons „En Marche“. In weiteren Ländern gelang es medienwirksam agierenden Politikern, traditionelle Parteien zu dominieren und teilweise zu transformieren (Sebastian Kurtz in Österreich, Boris Johnson in GB). Zusätzlich erzielen rechtspopulistische Bewegungen teils spektakuläre Wahlerfolge. In Deutschland setzten sich solche Tendenzen nur teilweise durch, auch wenn das „Phänomen Merkel“ bisweilen mit der Schwächung der Parteiorganisation und der entsprechenden Tendenz zur Personalisierung der Politik erklärt wird.
  • Ein Blick auf die Wahllisten für die Bundestagswahl 2021 bestätigt diesen Trend der Ausdifferenzierung des Parteienspektrums. Während sich 2017 noch 63 Parteien und politische Vereinigungen bewarben, haben dieses Mal 87 Anzeige über eine Beteiligung beim Bundeswahlleiter gestellt, wobei 44 anerkannt und 43 wegen Nichterfüllung der Voraussetzungen nicht zugelassen wurden. Voraussetzung für die Zulassung sind u. a. die Anerkennung als Partei sowie eine Mindestanzahl von Unterstützerunterschriften. Pandemiebedingt wurde die Anzahl der zu erbringenden Unterschriften von 2000 auf 500 gesenkt, was u. a. die Zunahme der Zahl der Bewerber erklärt. Zudem erhalten diese Kleinstparteien bei Erreichen einer bestimmten Stimmenzahl, auch wenn diese die 5% Hürde nicht erreichen, erhebliche finanzielle Zuschüsse. Diese Form der Finanzierung machte es auch möglich, dass sich von neu aufkommenden Themen neue kleinere Parteien etablieren konnten.
  • Es besteht, so die Sicherheitsbehörden, die berechtigte Sorge über Cyber-Attacken und extremistische Straftaten, u. a. auf Wahlstände zwischen linken und rechten Gruppen, sowie hinsichtlich von Desinformationen durch Kampagnen in den sozialen Medien.

 

3. Was sind die Besonderheiten bei dieser Bundestagswahl?

Im Vergleich zu früheren Wahlen unterscheiden sich Wahl und Wahlkampf 2021 durch fünf Besonderheiten, die es so bisher bei keiner Bundestagswahl gegeben hat.

  • Öffentliche Präsenzveranstaltungen mit Spitzenpolitikern oder direkte Kontakte mit Wahlkreiskandidaten/innen sind pandemiebedingt nur begrenzt möglich. Eine Folge davon ist, Wahlplakate werden als Teil der Wahlwerbung wieder bewusster wahrgenommen, wie eine Umfrage der Universität Hohenheim i. V. mit der Landtagswahl 2021 in BW bestätigt.
  • Erstmals wurden drei Kanzlerkandidaten gekürt, wie bisher von Union und SPD sowie erstmals eine Kandidatin von den Grünen.
  • Keine der Kandidaten geht mit dem Amtsbonus in die Wahl.
  • Auffallend ist der bisher weitgehend respektvolle und faire Umgang der Kanzlerkandidaten untereinander.
  • Aufgrund dieser Konstellation könnte angesichts der gesellschaftspolitischen Herausforderungen, auch bedingt durch die Pandemie sowie einer Stagnation des Rechtspopulismus, ein offenerer Wettbewerb um inhaltliche Positionen entstehen.

 

4. Wie entwickeln sich Umfragewerte zu Parteien und Wahlthemen?

Die Umfragewerte unterliegen im Laufe einer Wahlperiode größeren Schwankungen, insbesondere bei gesellschaftlich relevanten Veränderungen oder Verwerfungen, was sich auf regierende Parteien meist negativer auswirkt, so auch die Corona-Maßnahmen in Verbindung mit dem zweiten Lockdown für CDU/CSU oder die Vorgänge um Sonderzahlungen, Lebenslauf und Plagiatsvorwürfe ihrer Kanzlerkandidatin für die Grünen. (vgl. Folie 9)

Bei der Frage: „Wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre…“ ergeben die aktuellen Mittelwerte der Umfragen des Monats Juli (bis 16.07.2021) für die Parteien folgende Prozentanteile: CDU/CSU ca. 29%, Grüne ca. 19%, SPD ca. 16%, FDP ca. 11%, AfD ca. 10% und DIE LINKE ca. 7% sowie Sonstige ca. 8%. Dabei ist eine Fehlerquote von 2-3% zu berücksichtigen.

Allerdings sollte nicht voreilig der Schluss gezogen werden, die Vorwürfe gegenüber der Kanzlerkandidatin seien ausschließlich für den Rückgang der Zustimmung für die Grünen verantwortlich. In diesen Zahlen scheint sich vielmehr ein seit längerem bestehender Trend abzuzeichnen, wie eine Umfrage der Universität Hohenheim in Verbindung mit der Landtagswahl in Baden-Württemberg 2021 ergibt. Dabei wurde gefragt, welcher Partei sie auf Landesebene die höhere Problemlösungskompetenz zutrauen. Danach sprachen 38% den Grünen die höhere Kompetenz zu, der CDU dagegen nur knapp 20%. Genau umgekehrt war das Ergebnis bei der Frage, wem sie im Bund die höhere Lösungskompetenz zutrauen. Knapp 40% der Befragten sprachen diese der Union zu, während den Grünen nur knapp 20%.

Bedeutsam für einen Wahlkampf ist zudem die von Bürgern vorgenommene Einstufung des Handlungsbedarfs in Bezug auf die zu lösenden Aufgaben bzw. Probleme. So wurden im Juni 2021 in einer im Auftrag des Spiegels durchgeführten Umfrage Bürger gefragt: „Welche drei politischen Themen werden Ihre Wahlentscheidung bei der Bundestagswahl 2021 am meisten beeinflussen?“ Neben der Aufarbeitung der Auswirkungen der Corona-Pandemie wurden dabei folgende Themen genannt:

Renten- und Sozialsysteme (57%)

Umwelt- und Klimapolitik (45%)

Wirtschaft- und Arbeitsplätze (39%)

Innere Sicherheit (30%)

Gesundheitspolitik (29%)

Digitalisierung und Modernisierung (28%)

Bildung und Forschung (26%)

Migration (24%)

Je nach Parteipräferenz unterscheiden sich die Schwerpunkte erheblich:

Linke- und SPD-Wähler: Renten- und Sozialsysteme (70 bis 75%)

GRÜNE: Umwelt und Klima-Politik (90%)

CDU und FDP: Wirtschaft und Arbeitsplätze (56-57%)

GRÜNE: Digitalisierung (40%) und FDP (33%)

AfD: Migration (65%)

 

5. In welchen Politikfeldern sind gemeinsame Ziele der Parteien erkennbar?

Bei der Bewertung der in den Wahlprogrammen veröffentlichten Positionen ist die Unterscheidung von Zielen, Maßnahmen und Strukturen hilfreich. Mit Blick auf die politischen Ziele gibt es trotz unterschiedlicher Akzentuierungen Gemeinsamkeiten, z. B.

  • Gestaltung der Transformation und des Wandels als Leitmotiv (Modernisierung)
  • Belebung der Wirtschaft und Sicherung von Arbeitskräften
  • Verantwortung für Klimaschutz und Umwelt und Mobilität (Ausbau ÖPNV, Radwege)
  • Schaffung von Wohnraum incl. öffentlicher Förderung
  • Digitalisierung, u. a. Bildung, Schule, Gesundheitswesen und Verwaltung
  • Stärkung des Gesundheitswesens: Versorgung (ambulant-stationär, Stadt-Land), Anerkennung Pflegeberufe (Personalschlüssel, Vergütung), Sicherung der Altersvorsorge (Rente)
  • Stärkung der Familien sowie Verbesserung Vereinbarkeit von Beruf und Familie
  • Stärkung der Demokratie, u. a. Beteiligung, Bekämpfung Extremismus und Hass im Netz
  • Verlässlichkeit in der Beziehung zur EU und der internationalen Zusammenarbeit

 

6. Welche programmatischen Akzente setzen die Parteien?

Wahlprogramme der im Bundestag vertretenen Parteien umfassen insgesamt ca. 650 Seiten. Es ist davon auszugehen, die große Mehrzahl der Bürger wird diese umfangreichen Programme nicht lesen, sondern sich bei ihrer Wahlentscheidung eher im Rahmen öffentlich-medialer Auseinandersetzung über Positionen der Parteien informieren und sich auch daran orientieren, wie glaubwürdig und überzeugend Spitzenkandidaten/innen sind. Der frühere US- Präsident Bill Clinton soll gesagt haben: Die Botschaft muss auf eine Scheckkarte passen. Insofern lohnt es, einmal die Überschriften bzw. Wahlslogans der Parteien in den Blick zu nehmen. (vgl. Folie 13)

Eine Studie der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg sieht in den Wahlprogrammen der Parteien insbesondere folgende Themenschwerpunkte:

  • Arbeit und Soziales
  • Klima, Umwelt und Verkehr
  • Wirtschaft, Steuern und Finanzen
  • Demokratie und Sicherheit
  • Digitalisierung
  • Integration und Zuwanderung
  • Außenpolitik und EU

In den genannten Politikfeldern zeigen sich durchaus Unterschiede in den Positionen der Parteien, sowohl hinsichtlich des Politikverständnisses wie der geplanten Maßnahmen, so z. B. bei den Themen Steuern, Investitionen, Schuldenbremse, Bürgerversicherung, Rente, Tempolimit, Klimaneutralität oder Mobilität. An den ausgewählten Themenfeldern Gesundheit/Rente, Klimaschutz und Steuern sind diese Unterschiede dargestellt. (vgl. Folien 15 bis 17)

An die Parteiprogramme aller Parteien stellt sich die Frage: Wo sehen diese die finanziellen Ressourcen zur Finanzierung ihrer geplanten Vorhaben?  

 

7. Welches Verständnis von Politik ist in den Wahlprogrammen erkennbar?

  • CDU/CSU: Stabilität und Wandel, Dreiklang von Wirtschaft, Klima und Soziales sowie von Personalität, Solidarität und Subsidiarität, Ausgleich von Leistungs- und Verteilungsgerechtigkeit;
  • SPD: Plädoyer für soziale Gerechtigkeit im Sinne von Verteilungs- und Chancengerechtigkeit, starke Rolle des Staates;
  • GRÜNE: Klimaschutz oberstes Ordnungsprinzip staatlichen Handelns, sozial-ökologische Marktwirtschaft als Leitprinzip verbunden mit Klima- und Chancengerechtigkeit, Vielfalt und Feminismus, Regeln und Verbote vor Freiwilligkeit;
  • FDP: „Jeder ist seines Glückes Schmid.“, Freiheit und Verantwortung des Einzelnen, Ausprägung der Leistungsgerechtigkeit, Verantwortung des Einzelnen vor Verordnungen und Verboten;

 

8. Wie komme ich zu einer verantworteten Wahlentscheidung?

  • Welche Themen bzw. Herausforderungen sollte die Politik vorrangig lösen?

       (z. B. Klimawandel, Arbeitswelt, Digitalisierung, Familie, Rente, Wohnen, Mobilität, Bildung, Gesundheit, Sicherheit, Europa)

  • Welche inhaltlichen Lösungen sowie deren Finanzierbarkeit überzeugen mich am meisten?

       (Vergleich der Lösungen anhand einer Synopse erkennen und bewerten)

  • Welches Menschenbild und welches Verständnis von Staat und Politik sollen das politische Handeln leiten?

       (z. B. Freiheit und Verantwortung des Individuums, Solidarität und Zusammenhalt, Dimensionen der Gerechtigkeit als Prinzip politischen Handelns, Ordnungs- und Lenkungsfunktion des Staates, liberales oder soziales Wirtschaftskonzept oder mehr Planwirtschaft)

  • Welche Persönlichkeit unter den (Spitzen-) Politikern überzeugt mich am meisten?

(Qualifikation, Erfahrung, Strategische Kompetenz, Überzeugungskraft, Begeisterungsfähigkeit, innere Unabhängigkeit, Krisenmanagement, ethische bzw. religiöse Einstellung)

 

3. Zusammenfassung der Diskussionsbeiträge

 

Besonderheiten dieses Wahlkampfes und der Stil der politischen Auseinandersetzung

  • Von mehreren Teilnehmern wird die auffallende Mäßigung im Wahlkampf festgestellt. Harte inhaltliche Duelle, wie etwa 1980 mit Schmitt gegen Strauß, seien kaum mehr vorstellbar. Die Medienorientierung und die Medienkompetenz der Politiker spielten eine immer entscheidendere Rolle. Niemand wolle mehr eine falsche Äußerung machen oder in irgendeiner Weise anecken. Betrachte man die Selbstdarstellung der Parteien auf ihren Parteitagen falle auf, dass alles darauf angelegt wird, positive Bilder zu vermitteln: Das Grüne Führungsduo zeigt sich einträchtig auf dem Sofa in einem auf der Bühne eingerichteten Wohnzimmer, Janine Wissler und Dietmar Bartsch von den Linken setzen sich gar vor eine Fototapete (s. Südwest-Presse), auf der die Ostsee zu sehen ist, in den Strandkorb.
  • Ein anderer Teilnehmer findet die Nüchternheit im bisherigen Wahlkampf gut. Überhaupt würde der Wahlkampf vermutlich überbewertet. Das gelte sowohl für die Personalisierung und Konzentration auf die sog. Kanzlerkandidaten, weil wir in Deutschland keinen Kanzler, sondern ein Parlament wählen, aber auch deshalb, weil wir eigentlich alle aus den letzten vier Jahren durch Beobachtung unserer Abgeordneten genügend Kriterien hätten, um uns entscheiden zu können.
  • Mit Hinweis auf eine Initiative junger Leute im Netz mit Namen „Die Zerstörung der Union“ wird der Befund eines doch eher gemäßigten Wahlkampfes aber auch relativiert.

Die Parteien und ihre programmatischen Alternativen

  • Herr Schneiderhan führt aus, dass ein aggressiver Ton zwischen den Parteien nichts Neues sei und nennt Beispiele aus früheren Wahlkämpfen. Neu seien allerdings die Art der Auseinandersetzungen in den sozialen Medien und die Kampagnen, die diese ermöglichten einschließlich der damit verbundenen Skandalisierung, auch von Nebensächlichkeiten. Bemerkenswert sei jedoch eine fehlende inhaltliche Polarisierung, insbesondere, dass es eine unbestreitbare soziale Polarisierung gebe, diese aber politisch kaum artikuliert werde, bzw. auf die Ränder des Parteienspektrums beschränkt bleibe. Obwohl nach Umfragen das Thema Renten und soziale Sicherung bei den Wählern durchaus hohe Priorität genieße, stehe es nicht im Zentrum der Auseinandersetzungen und erhalte auch gegenüber weiteren politischen Handlungsfeldern nicht diese Priorität.
  • Weitere Beiträge thematisieren die Tendenz zur politischen Mitte. Gefördert werde diese auch durch die weit verbreitete Ambivalenz der Menschen gegenüber drängenden Problemen, insbesondere gegenüber dem Klimawandel. Man sei einerseits dafür, dass endlich mehr getan würde, andererseits wolle man selbst weiter zum Skifahren, den Zweitwagen behalten etc. Insofern sei es womöglich eine erfolgversprechende Strategie, wie die Union zwar Ziele zu benennen, konkrete Maßnahmen zur Umsetzung aber offen zu lassen, weil damit die Gefahr verbunden sei, die durch diese Maßnahmen negativ betroffene Menschen gegen sich aufzubringen. Ein Beispiel hierfür seien etwa die Reaktionen auf die Ankündigung der Grünen, den Benzinpreis zu erhöhen.
  • Herr Schneiderhan ergänzt dies mit der Beschreibung des unterschiedlichen politischen Stils der Parteiprogramme. Hier falle auf, dass die Union erbrachte Leistungen hervorhebt, an Gemeinschaftsgefühle appelliert, in Hinblick auf konkrete Maßnahmen jedoch unverbindlich bleibt. Die SPD dagegen gehe von Problemen aus und liste sie auf, die Grünen führten zahlreiche Einzelmaßnahmen an.
  • Es wird dann die Frage formuliert, ob darin nicht auch eine Polarisierung liege: Zwischen der Einsicht in die Notwendigkeit, unseren Lebensstil zu ändern einerseits und der lediglich verbalen Akzeptanz des Phänomens bei gleichzeitigem Festhalten am Gewohnten.
  • Dieser Befund führt zur Feststellung, es gebe keine prophetischen Stimmen mehr in unserer Gesellschaft. Die Wahrheit bleibe unausgesprochen. Aber wer soll in einer Demokratie die Gesellschaft mit Wahrheiten konfrontieren und Alternativen zur Diskussion stellen, wenn erfolgversprechende Wahlkampfstrategien darin bestehen, kontroverse Themen möglichst zu vermeiden.
  • Möglicherweise wäre eine Voraussetzung, um mehr innere Bereitschaft zur Veränderung zu erreichen, so Herr Schneiderhan, die zu lösenden Probleme anhand existentieller Fragestellungen zu diskutieren, z. B. Worin besteht letztlich der Sinn des Lebens? Was brauche ich wirklich, um glücklich zu sein? Dabei geht es weniger um Quantität, sondern um Qualität. Zudem brauchen Menschen, um sich auf Veränderungen einzulassen, immer gleichzeitig stabilisierende Faktoren, die ihnen im Wandel Halt geben.

 

Mit dem Dank für die engagierte Diskussion und dem Wunsch für eine gute Wahlentscheidung endet der Gesprächskreis.

 

Rottenburg, 02.08.2021

Winfried Thaa/Karl Schneiderhan

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