Förderverein Stadtbibliothek Rottenburg

05.05.2020: Was lernen wir als Gesellschaft und als Einzelne aus der Corona-Krise und den damit verbundenen Einschränkungen für unser Zusammenleben?

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Der politische Gesprächskreis kann wegen der Einschränkungen im Zusammenhang mit der Corona-Krise derzeit nicht stattfinden. Aus diesem Grund hat das Organisationsteam Teilnehmerinnen und Teilnehmer um eine schriftliche Einschätzung zu folgender Frage gebeten:

Was lernen wir als Gesellschaft und als Einzelne aus der Corona-Krise und den damit verbundenen Einschränkungen für unser Zusammenleben?

Dabei sollten, um einen Gesamtüberblick der aktuellen Entwicklung zu erhalten, die verschiedenen gesellschaftlichen Systeme beleuchtet werden wie Demokratie und Politik, Gesundheit und Medizin, Wirtschaft und Arbeit, Medien und Presse, Erziehung und Bildung sowie Ökologie und Klima, verbunden mit der Empfehlung, sich auf maximal zwei Bereiche zu beschränken. Die Rücklaufquote betrug über 40%, was ein repräsentatives Stimmungsbild erlaubt. Die Statements werden im Folgenden nach Handlungsfeldern zusammengefasst dargestellt, jeweils untergliedert in Ausgangslage und Handlungsbedarf. Dabei kommen teils widersprüchliche Meinungen zur Sprache und somit nicht unbedingt von jedem jede der vertretenen Positionen geteilt wird.

 

1. Staat - Demokratie - Politik

Ausgangslage

  • Bereits 2013 wurde die Bundesregierung über die vom Robert-Koch-Institut (RKI) erstellte Risikoanalyse zum Katastrophenschutz unterrichtet, in der eine solche Pandemie vorausgesagt wird und darin zu treffende Präventionsmaßnahmen beschrieben werden. Seitens der Politik wurde dennoch keine Vorsorge getroffen. Auch die Chronologie der Entstehung dieser Pandemie zeigt, wie Politik, Wissenschaft und Medien in den ersten Wochen dieses Virus als nicht bzw. wenig gefährlich einstuften, die Gefahr sei gering und es gebe keinen Anlass zur Unruhe oder zur Panikmache.
  • Zunächst zeigt der Verlauf der Krise, die Gesellschaft kann über ihre demokratisch legitimierten politischen Institutionen effektiv auf sich selbst einwirken. Es besteht eben doch ein Primat der Politik gegenüber den Teilsystemen der Gesellschaft, der es erlaubt, ethische Grundnormen auch gegen starke und für sich genommen durchaus gerechtfertigte Interessen durchzusetzen. Es zeigt sich, dass wir nach wie vor in politischen Gemeinschaften leben und die entscheidende politische Gemeinschaft nicht die EU, sondern der demokratische Nationalstaat ist. Denn nur dieser verfügte über die erforderlichen Ressourcen, um derart drastische Eingriffe in das Leben der Bürger durchsetzen zu können: die erforderliche legitime Autorität, das Vertrauen seiner Bürger sowie die Glaubwürdigkeit für die gemachten Solidaritätsversprechen. Die Entscheidungen traf die Politik, nicht Experten und Lobbyisten. Dabei findet die Auseinandersetzung über Ziel- und Wertkonflikte im Kontext der mit den Bürgern geteilten Kommunikationsgemeinschaft statt. Diese Vermittlung auf ein Gemeinwohl hin kann die repräsentative Demokratie unter Beteiligung der Bürger bisher leisten. Allerdings wird in Statements auch kritisch angemerkt, dass in dieser Krise jede Nation zuerst sich selbst der Nächste ist (Grenzschließungen, Reiseverbote, Verbot des Exports von Schutz- bzw. Hilfsgütern) und von einem vereinten Europa bisher wenig zu spüren ist.

 

  • Die weltweite Corona-Pandemie ist eine tiefgreifende Krise und stellt unsere Gesellschaftsordnung mit ihren Glaubensgrundsätzen umfassend infrage. Es stellen sich auf einmal Fragen wie: Wie stabil ist der gesellschaftliche Zusammenhalt und unsere freie westliche Wertegemeinschaft? Gelten Menschenrechte und Grundrechte unseres Grundgesetzes für Jeden, unabhängig von Alter, Geschlecht, Hautfarbe, Religionszugehörigkeit, Nationalität und Vorerkrankungen? Trotz aller Handlungs-fähigkeit der Politik in der Anfangsphase der Krise deckt diese mit der Zeit schonungslos Defizite, Schwächen und Fehler der Vergangenheit auf und wir erkennen nun, wie unzulänglich unser gelebtes Gesellschaftsmodell und dessen Strukturen sind und mangels Stabilität dies zu Fehleinschätzungen gegenüber Störungen führt. Wir erfahren zudem, wie brüchig überholte Heilsversprechen von Sicherheit und Wohlstand für alle sind. Wir haben uns daran gewöhnt, dass alles funktioniert und alles vorrätig ist, was wir zum täglichen Leben brauchen. Wir neigen dazu, die Fehler eher in der Modellstruktur bzw. bei den an den falschen Entscheidungen beteiligten Schuldigen zu suchen. Bei der Suche nach Lösungen dürfen gesellschaftliche Systeme nicht als voneinander abgeschlossene oder nur als in sich verbesserbare verstanden werden. Daher sind diese bei Entscheidungsprozessen und Interessensausgestaltungen hinsichtlich ihres vielschichtigen Zusammenwirkens und ihrer Verschränkungen zu sehen.
  • Nachdenklich bei der Entwicklung dieser Krise stimmt, wie einfach es handelnden Politikern mit tatkräftiger Unterstützung der mit passenden Bildern agierenden Medien gemacht wird, zahlreiche Grundrechte außer Kraft zu setzen und dies in einer Gesellschaft, die sich ansonsten über jeden ‚Firlefanz‘ maßlos empören kann.

 

Handlungsbedarf

  • In der Krise liegt die Chance der Veränderung, weg von einem über Jahre gehuldigten neoliberalen Grundzug und das bis hinein in Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge, hin zu einer gemeinwohlorientierten Sichtweise betriebswirtschaftlichen Handelns. Politiker müssten jetzt in der Lage sein, auf die durch die Pandemie zu Tage getretenen politischen, praktischen wie logistischen Defizite nachhaltig zu reagieren. Beispiele dafür sind: Einheitliche Standards für Katastrophenszenarien, Digitalisierung in Schulen und Verwaltungen und Ausstattung von Sicherheits- und Rettungsdiensten sowie Sicherung der Bereitstellung von lebenswichtigen Gütern und Waren in Medizin und Lebensmittelversorgung, Stellenwert des Gesundheitswesens sowie Verbesserung nationaler und internationaler Zusammenarbeit. Den ‚Schwachen‘ und ‚Wehrlosen‘ sollten wir wieder eine hörbare Stimme geben, Kinder, Betagte, Kranke, Alleinerziehende oder Einkommensschwache. Es wäre zu wünschen, dass der demokratische Staat über diese Krise hinaus unter Beachtung ökologischer Notwendigkeiten und sozialer Gerechtigkeit wirtschaftspolitisch wieder stärker regulierend tätig wird.
  • Die von der Politik getroffenen Entscheidungen sind aktuell durch Mediziner beeinflusst, vor allem Virologen, und das weitgehend ohne die üblichen parlamentarischen Beratungsprozesse. Anfangs sicherlich gerechtfertigt, wird es künftig darauf ankommen, neben medizinischer Kompetenz auch die ethische, philosophische, pädagogische, ökonomische und pflegefachliche Kompetenz einzubeziehen, um eine fachübergreifende Perspektive gesellschaftlichen Handelns zu erreichen sowie in einer breiten öffentlichen Debatte den Konsens über Demokratie, Machtstrukturen und soziale Sicherheit neu auszuhandeln.

 

2. Wirtschaft und Arbeitswelt

Ausgangslage

  • Zum Glück hatte Deutschland zum Zeitpunkt des Ausbruchs der Krise ein sattes finanzielles Polster im Vergleich zu Ländern wie Italien und Spanien. Gleichzeitig sind angesichts des drohenden Wirtschaftseinbruchs ‚schwarze Null‘ sowie Schuldenbremse zu Staub zerfallen.
  • Die gesellschaftliche und weltweite Arbeitsteilung wird in ihrer ganzen Fragwürdigkeit offenkundig, insbesondere hinsichtlich ihres materiellen Status und der Einkommensverteilung. Systemrelevante Tätigkeiten sind am schlechtesten bezahlt und gesellschaftlich wenig anerkannt. Dies betrifft auch die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern. So arbeiten in Krankenhäusern, Pflegeheimen, auf den ‚Brummis‘, an den Kassen und in den Lagern der Supermärkte die wahren „Alltagshelden“ und halten unser Land ‚am Laufen‘ und dank deren Einsatz wir die Krise bisher relativ gut bestanden haben.
  • Die Produktion lebenswichtiger Güter wie Medikamente oder Schutzausrüstungen haben wir aus Kostengründen fast vollständig ins Ausland verlagert. Das zeigt, wie abhängig Deutschland vom Export geworden ist, was in der Krise teilweise zum Zusammenbruch bzw. zu langen Lieferketten geführt hat. Auch die jährliche Ernte kann nur noch mit tausenden ausländischen Osteuropäern eingefahren werden.
  • In der Bewältigung dieser Krise zeigt sich auch die Relevanz der Rolle des Staates. Manch liberale Positionen haben in der Vergangenheit staatliches Handeln als schwerfällig und inkompetent abqualifiziert und gleichzeitig den ‚freien Markt‘ glorifiziert. Nun erleben wir, der ‚Markt‘ kann eine solche Krise nicht managen, was auch der Ruf aus der Wirtschaft nach staatlicher Unterstützung beweist. Leider hat es die Politik bisher nicht geschafft, den nötigen Veränderungsbedarf in vielen Politikfeldern in Handlungsoptionen umzusetzen, so z. B. in der Klimakrise durch ein Verbot von Flügen oder höherer Besteuerung von Flugbenzin bis hin zu Tempolimits auf Autobahnen. Steht dabei der Schutz des Menschen nicht in gleichem Maße im Fokus?

 

Handlungsbedarf

  • Diese Krise fordert dazu heraus, unseren Arbeits- und Lebensstil zu überdenken und zu verändern. Das täglich erlebte ‚Hamsterrad‘ mit der Devise „Immer schneller, höher, weiter“ ist nicht nur für uns schädlich, es hat vor allem in Drittländern Millionen Menschen verarmt. Mit der Verlagerung von Billigproduktion in diese Länder hat dieser Stil zur Zerstörung von Natur und Landwirtschaft geführt sowie zur Ausbreitung von Viren und zur Gefährdung der Gesundheit beigetragen. Es muss Schluss sein mit ‚Fast Food‘ und ‚Fast Fashion‘! Gerade in diesen Ländern sind es die Ärmeren, die am schwersten unter den Folgen dieser Krise leiden. Sie zu unterstützen, ist nicht nur eine Frage von Menschlichkeit, sondern angesichts der Schäden, die unser Wirtschaftssystem ihnen zugefügt hat, unsere Verantwortung.
  • Systemrelevante Berufe (Gesundheitswesen, Pflege, Sicherheits- und Rettungsdienste, Zustelldienste, Einkaufsmärkte usw.) sind besser zu bezahlen und gesellschaftlich anzuerkennen. Auch gilt es, die soziale Spaltung zu überwinden und die weitere Zerstörung unserer Umwelt zu stoppen, indem wir eine regionale Kreislaufwirtschaft mit guter Landwirtschaft und Nahversorgung aufbauen. Wohnungsbau, Gesundheit, Pflege sowie Gas, Wasser und Elektrizität dienen der Daseinsvorsorge und müssen daher für alle erschwinglich sein und gehören unter demokratische Kontrolle. Nötig wird auch sein, Vorsorge zu treffen und Kapazitäten vorzuhalten sowie Eigenkapital, um für unvorhergesehene Ereignisse gerüstet zu sein.
  • Die Binnenkonjunktur und die Kommunen sind mit einem Schutzschirm zu stärken, da letztere den Wiederaufbau nach der Pandemie entscheidend zu organisieren haben. Dies gelingt nicht durch den privaten Goldschatz einiger deutscher Milliardäre. Dazu braucht es armutsfeste Renten und Löhne sowie den Abbau prekärer Beschäftigungsverhältnisse. An den Kosten des Wiederaufbaus müssen sich Milliardäre mit einer Sondergabe beteiligen.
  • Die Krise zeigt auch, wie anfällig, risikobehaftet und wenig antifragil Entwicklungen und Innovationen sind. Rechnen wir bei geplanten Innovationen (5G-Netze, E-Autos, KI, selbstfahrende Autos) auch mit möglichen Risiken und haben wir dafür geeignete Strategien? (z. B. Stromausfall, Terroranschläge)
  • Gefragt ist in dieser Krise unser „Ethos“. Solidarität heißt heute Händewaschen! So schützen wir uns gegenseitig. Stimmt das wirklich? Genügt es, biblisch gesprochen, unsere Hände ‚in Unschuld zu waschen‘? Wir sind dafür verantwortlich, zu erkennen, dass wir nicht alles beherrschen können. Sind wir bereit, uns wirklich zu wehren, z. B. gegen die Diskriminierung durch Ausbeutung systemrelevanter Arbeit, Videoüberwachung, Lohnraub oder die Praxis von Großunternehmen, die am Ende einer 10-jährigen Hochkonjunkturphase mit Leiharbeitern Gewinne maximieren und deren Arbeiterschaft jetzt in Krisenzeiten nicht Kurzarbeitergeld, sondern Arbeitslosenhilfe beziehen sollen. Wir brauchen jetzt eine Transformation hin zu einer ökologischen, gemeinwohlorientierten Wirtschaft. Staatliche Förderungen dürfen nicht mehr zu einträglichen Finanzspekulationen oder in eigene Pfründen umgewidmet, sondern müssen zu ökologisch verträglichen Förderungen genutzt werden.
  • Die Sozialsysteme sind durch ein bedingungsloses Grundeinkommen zu entbürokratisieren, Steuergesetzte erheblich zu vereinfachen, demokratische Mitbestimmung zu erweitern und Leih- und Saisonarbeit sozialer zu regeln. Die Arbeitswelt ist vom eigentlichen ‚Arbeit-Geber‘ her neu zu definieren, aus der Sicht derer, die ihre Arbeitskraft in den Dienst der Gesellschaft stellen. Dazu ist eine Voraussetzung, dass Wirtschaftswissenschaften und Sozialwissenschaften sich einander annähern und mit ihrer jeweiligen Sichtweise auf das ökonomische System sich gegenseitig bereichern. Mathematik allein reicht nicht mehr aus bei Untersuchung und Prüfung wirtschaftlicher Prozesse oder bei der Erstellung von Prognosen, sondern muss vorrangig dem Ziel dienen, so weit wie möglich soziale Gerechtigkeit zu garantieren. Nötig ist eine neue Balance zwischen Betriebswirtschaft und Volkswirtschaft sowie zwischen Rechten (Ansprüchen) und Pflichten (Mitverantwortung).
  • Die Transnationalisierung der Arbeitsmärkte mit den damit verbundenen gesellschaftlichen Spaltungsprozessen steht neu zur Debatte, auch das gepriesene und alternativlos geltende Modell der Globalisierung in seiner ganzen Komplexität und Widersprüchlichkeit.

  

3. Ökologie und Klima

 Ausgangslage

  • Der aktuelle Covid-19-Virus ist einer von zahllosen Corona-Viren, die sich in immer kürzeren Abständen ausbreiten. Geleugnet wird, dass dies mit der Zerstörung der Umwelt zu tun habe. Viren brauchen für ihre Entwicklung und Verbreitung immer einen „Wirt“ und entwickeln sich zuerst in Tieren, bevor sie auf Menschen überspringen (Zoonose). Das ist bei Influenza, Ebola, dem SARS-Virus von 2002/03, MERS, der Schweinegrippe usw. der Fall. Die Ausbreitung der Viren zeigt einen engen Zusammenhang mit der Zerstörung der Lebensräume von Tieren, z. B. durch Palmölplantagen oder Regenwaldrodungen für Soja-Anbau. Je näher Mensch und Tier durch die Globalisierung aufeinander rücken, desto wahrscheinlicher werden Ausbruch und Verbreitung von Viren-Erkrankungen mit der Folge weiterer Natur- und Klimazerstörung und direkter Bedrohung der Menschheit.
  • Einen Nutzen hat diese Krise für das Klima aufgrund des massiven Rückgangs des CO2 Ausstoßes erreicht. Wird jetzt das Klimaziel erreicht? Wäre es unter dieser Prämisse nicht denkbar, unsere Kraftwerke länger in Betrieb zu lassen und das dadurch eingesparte Geld für die immensen Lock Down Kosten zu verwenden?

 

Handlungsbedarf

  • Reiseeinschränkungen der vergangenen Wochen, sowohl für Privat- wie Dienstreisen, zeigen, Reisen können in nicht geringem Umfang reduziert werden, so Flüge und Autofahrten. Verbunden damit wären weniger Stau und Unfälle sowie bessere Luft und gut fürs Klima. Dazu gehört auch ein Tempolimit auf Autobahnen und Bundes-/Landstraßen. Was in der Arbeitswelt undenkbar schien, in der Krise sind Videokonferenzen und Homeoffice gängige Praxis geworden. Man kann auch die Frage stellen, ob man in jedem Urlaub um den Erdball reisen muss.

 

4. Gesundheitswesen und Medizin

 Ausgangslage

  • Krankenhäuser, Kliniken und Einrichtungen der Altenpflege wurden in den letzten Jahrzehnten zu Profitcentern umfunktioniert, tausende Pflegestellen abgebaut, die Zahl der Patienten pro Pflegekraft erhöht und die Verweildauer in Kliniken reduziert. Die Folge ist eine extreme Belastung des Pflegeberufs, ungenügende Bezahlung (v. a. in der Altenpflege), die Stellung der Pflege im medizinischen Alltag und mangelnde gesellschaftliche Anerkennung.
  • In einem Statement wird bemängelt, dass es in einem Rottenburger Altenpflegeheim keinen Garten unmittelbar am Haus gibt, was gerade in dieser Zeit der Ausgangs- und Besuchssperre eine zusätzliche Einschränkung darstellt.

 

Handlungsbedarf

  • Im Blick auf die auch in Zukunft nötigen Schutz- und Hygienemaßnahmen gilt es, differenziert und entsprechend einer möglichen Ansteckungsgefahr vorzugehen. Einsichtige und überzeugende Maßnahmen mit entsprechenden Begründungen sind künftig Voraussetzung, wenn die Politik bei den Bürgern weiterhin Akzeptanz ihrer Entscheidungen erreichen will. So sind bei nötigen Einschränkungen regionale Unterschiede zwischen Ballungsräumen und Ländlichem Raum sowie die Situation in öffentlichen Verkehrsmitteln zu berücksichtigen. An den Hotspots sind passende Maßnahmen zu ergreifen, um das Ansteckungsrisiko zu minimieren. Welchen Sinn macht es, wenn in Supermärkten das Tragen einer Maske vorgeschrieben wird und Einkaufswägen, wo jeder hin greift, ungeschützt sind?
  • Wir brauchen eine Neuausrichtung des Gesundheitswesens, das fast ausschließlich auf Krankheit ausgerichtet ist und zu wenig auf Prävention bzw. Salutogenese. Daraus folgt die Verantwortung des Staates, Strukturen und Rahmenbedingungen zu schaffen, die den Erhalt der Gesundheit fördern, wie saubere Luft, sauberes Wasser oder gesunde Ernährung. Zur Verantwortung des Staates gehört auch, verstärkt dort Grenzen zu setzen (z. B. durch Rauchverbot, Tempolimits, Alkoholverbot, Lebensmittelkennzeichnung), wo durch das Verhalten Einzelner unangemessener hoher volkswirtschaftlicher Schaden oder durch Sorglosigkeit und Egoismus chronische Krankheiten entstehen.
  • Die künftige Ausgestaltung des Gesundheitswesens braucht zudem ein neues Verständnis von Pflege hinsichtlich Aufgaben- und Kompetenzprofil, Vergütung, politischer Regulierung und dem Verhältnis von ärztlicher Profession und Pflege. Dies erhöht die Attraktivität der Pflegeberufe. Die Zeit nach der Krise sollte genutzt werden für eine neue Vision eines Gesundheitswesens jenseits von Profitmaximierung und geleitet von der Gemeinwohlidee.
  • Wir müssen dagegen protestieren, dass Profifußballer mehrfach aufwändig getestet werden. Es muss sichergestellt sein, dass zur Eindämmung der Pandemie zuerst Testkapazitäten für relevante Fälle bereitstehen, z. B. für pflegende und medizinische Berufe sowie Berufen, wo enger Personenkontakt gegeben ist. In Altenheimen wurde anfangs viel versäumt, Personal wie Bewohner fahrlässig gesundheitlichen Gefährdungen ausgesetzt.
  • Bei allen Entscheidungen gilt es, zwischen Gesundheitsschutz und Ermöglichung wirtschaftlichen Lebens, von Bildung und öffentlicher Kommunikation abzuwägen. Bei jeder Entscheidung sind auch die Fakten hinsichtlich der negativen Folgen für andere Lebensbereiche zu prüfen. Neben Medizinern muss die Politik bei ihren Entscheidungen verstärkt interdisziplinäre Kompetenzen und Sachverstand zu Rate ziehen.

 

5. Erziehung und Bildung

 Ausgangslage

  • Während der Krise kristallisierte sich eine Erkenntnis heraus: Unser Gesundheitssystem ist belastbar und gut, unser Bildungssystem jedoch ist miserabel. Dieses vernichtende Urteil, einstimmig von fünf Journalisten im Presseclub am 19. 04.2020 verkündet, ist sicher zu pauschal, in diesem Vergleich werden aber Schwachstellen in unserem Bildungssystem sichtbar.
  • Der Netzausbau hat in keiner Weise das Niveau erreicht, das ein moderner Staat braucht. Zudem ist beschämend, den Schulen keine Baden-Württembergweit einheitliche, bedienerfreundliche Lernplattform bereit zu stellen. Die Lehrer arbeiten in einem rechtlich unsicheren Raum, z. B. mit Microsoft-Plattformen, deren Server in den USA stehen. Warum muss jede Schule das „digitale Rad“ selbst erfinden? Zukünftig ist dafür Sorge zu tragen, dass jede Schülerin/jeder Schüler ein eigenes digitales Gerät (Eigentum oder Leihgerät) zur Verfügung hat.
  • Sowohl Lehrkräfte als auch Schüler sind auf das digitale Lernen und digitale Interaktion untereinander nicht vorbereitet. Viele Lehrer wünschen sich Fortbildungen für das E-Learning. Die Frage ist: Wer kann fortbilden? Müssten nicht zuerst Lehrer ihre Erfahrungen miteinander teilen sowie Methoden und Inhalte entwickeln? Wo ist weiteres Knowhow zu erwerben? Es gibt mindestens zwei Quellen. Eine Quelle ist in der Wirtschaft zu finden, die bereits seit Jahren ihre Mitarbeiterschaft digital weiterbildet, wie entsprechende Messen bestätigen. Die zweite Quelle sind die inzwischen immer beliebteren Angebote zum Fernstudium. Die Methoden einer „Mobile University“ bieten ein großes Reservoir an Formen, Methoden und Präsentationen von Lernstoff für das eingeständige Lernen. Dieses Wissen sollte angezapft und unter angepassten Vorzeichen übernommen werden.

 

Handlungsbedarf

  • Digitales Lernen erfordert große Selbstständigkeit. Mit dem selbstständigen Lernen zu Hause waren die meisten Schüler überfordert. Ein Ziel künftiger Pädagogik wird selbstständiges Lernen sein. Ist diese Selbstständigkeit erlernbar, in der der Unterricht in großen Lerngruppen mit bis zu 30 Schülern stattfindet? Müssen nicht Lernarrangements entwickelt werden, wo Schüler in kleinen Gruppen das Lernen einüben, diskutieren und sich austauschen? In solchen Arrangements werden Zeiten der Einzelarbeit eingebaut. Gleichzeitig lernt der Schüler sein Lernen selbstständig zu rhythmisieren, eigenständig Erholungsphasen einzubauen, so wie es im „Homeoffice“ erforderlich ist. Sollten wir in Zukunft - mit den Erfahrungen der Corona-Zeit - nicht Schule mutiger denken, damit eine Mutter nicht mehr sagen kann: Sie haben uns unsere Kinder mitsamt der Digitalisierung vor die Füße geschmissen!
  • Oben genannte Erkenntnisse münden in die grundsätzliche Frage: Wohin erziehen wir? PISA testet weitgehend den Output der Schüler. Hat die jetzige Krise uns nicht gezeigt, dass es auf viel mehr ankommt, nämlich: Wie befähigen wir Menschen, Krisen zu bestehen. Wie können wir in einer Welt leben und zurechtkommen, die als chaotisch (viele Meinungen auch in der „doch so objektiven Wissenschaft“) und unberechenbar wahrgenommen und erlebt wird (Ende der Krise nicht sichtbar)? Wie sehe ich mich in der Welt und verorte mich in ihr? Wie schaue ich positiv in die Zukunft mit ihren Herausforderungen? Wie kann ich unvorhergesehene Überraschungen einordnen, ohne mich in eine Opferrolle drängen zu lassen? Wie kann ich mein Leben als so sinnvoll ansehen, dass es sich lohnt, in Probleme und Anforderungen Energie zu investieren, diese Probleme gar als willkommene Herausforderungen zu sehen und nicht als Last, die ich gerne loshätte? Ist es nicht eine genuin pädagogische Aufgabe, Menschen dazu zu befähigen, in solchen Krisen stabil und gesund zu bleiben?

 

6. Presse und Medien (Information und öffentliche Kommunikation)

 Ausgangslage

  • Der Umgang mit der derzeitigen Pandemie ist zu hysterisch, die 24ig stündigen Horror-Berichterstattungen versetzen Menschen in Angst und Schrecken und alles scheint alternativlos. Tägliche Bilder über Beatmungen in Kliniken und Verstorbenen, insbesondere aus anderen Ländern verstärken die Angst, ein schlechter Begleiter beim Finden von Lösungen, also keine Panik, aber interdisziplinär verantwortete Entscheidungen, die soweit heute möglich auf Fakten basieren, aber auch nicht alternativlos für das gesamte Land gleichermaßen gelten, ebenso auch Berichte über das, was in dieser Krise auch erreicht wurde.
  • Entscheidungen zu treffen angesichts eines hohen Grades von Ungewissheit und Nichtwissen ist für die politischen Entscheidungsträger eine Herausforderung. Nachvollziehbar ist, dass zunächst auf Sicht gefahren wurde. In der öffentlichen Debatte wie Berichterstattung zeigen sich aber Unterschiede, Widersprüche und Unsicherheit in der Einschätzung der Corona-Pandemie hinsichtlich Entstehung, Verlauf und Weiterentwicklung. Das macht es für den Bürger schwierig, verantwortlich und angemessen damit umzugehen. Nur klare und sachlich begründete Informationen und Entscheidungen wirken vertrauensbildend, sind hilfreich und erzeugen weniger Ängste. Politik und Wissenschaft müssen dem Bürger transparent erklären, was gesicherte Datenbasis und was letztlich Spekulation ist. Dazu braucht es eine gemeinsame Sicht von Wissenschaft und Politik (jenseits von Parteipolitik), von EU und Nationalstaaten, von Jung und Alt, von Kapital und Arbeit sowie von Religionen und Konfessionen. Wenn wir dazuhin noch eine bessere Verteilungsgerechtigkeit schaffen, wird es zum Wohle der ganzen Schöpfung eine bessere Welt geben.
  • Die Kontaktsperre bringt für Ältere den Abbruch aller lebenswichtigen Bezüge, wie Enkeldienst, Ehrenamt, Freundschaften, Kultur oder Sport. Daher kommen sie in der öffentlichen Kommunikation in ihrer breiten Mehrheit nur rudimentär vor. Wir brauchen eine Kommunikation zwischen Generationen, u. a. zur Frage, wie sich jene Altersgruppe, die zum Teil noch nicht digital unterwegs ist, unter den Bedingungen von räumlichen und sozialen Einschränkungen zu Problemen der Gesellschaft wie sie selbst betreffende Themen äußern kann. Dabei sind miteinander Lösungen zu suchen und besonders Menschen mit Migrationshintergrund, Alleinstehende ohne Netzwerke, Menschen mit Behinderungen und andere verletzliche Bevölkerungsgruppen einzubinden. Wir müssen mehr jene zu Wort kommen lassen, die eine schwache Interessenvertretung haben und diese durch Paten unterstützen, um eine Spaltung der Gesellschaft zu verhindern.
  • Aktuell zeichnet sich ein Kampf ab um die Deutungshoheit über gesellschaftliche Zustände. Vordergründig geht es dabei um Gesundheitsverhalten und Wirtschaft, im Kern aber um die Ethik menschlichen Zusammenlebens. Die beiden Narrative, die pandemische Krankheit und das wirtschaftliche Chaos, befördern weltweit die unverhältnismäßige Zerrissenheit in allen Gesellschaften. Mit Fake News und Verschwörungstheorien polarisiert das Corona-Virus-Narrativ radikale Ängste in uns. Die einen behaupten, Corona müsse als Rechtfertigung staatlichen Handelns herhalten und würde totalitäre Verhältnisse etablieren, andere wiederum schüren Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (‚Chinesischer Virus‘). Verschwörungsängste können als Projektion gemeinschaftsbildend wirken, wenn den Menschen kein objektives Bild von der Wirklichkeit vermittelt wird. Verstärkt wird dieses Angstphänomen vor dem Hintergrund gewaltiger Klimaveränderungen, nicht nachlassender Migrationsströme und zunehmender Hungerkatastrophen. Menschen reagieren nach ängstigenden und tragischen Ereignissen umso mehr angstgetrieben. So fordern z. B. in den USA bewaffnete Demonstranten die Aufhebung von Schutzmaßnahmen in der Arbeitswelt.
  • Ernster zu nehmen und kritischer zu bewerten sind Risiken der Ausprägung von Spezialisierung und Expertentum, von patriarchalen, auf Macht und Kontrolle ausgerichteten Strukturen, des reduktionistischen Wissenschaftsansatzes, des Widerspruchs zwischen Erkenntnis und Umsetzung, eines unreflektierten Glaubens an ‚Marken‘, der wachsenden Abgabe von Eigenverantwortung durch Mitarbeiter und Bürger sowie die Risiken der Delegation der Demokratie bzw. von Entscheidungen an Dauer-Politiker und wachsender Forderungen an den Staat.

 

Handlungsbedarf

  • Der Umgang mit Zahlen in der Corona-Krise durch Politik, Wissenschaft und Medien ist unbefriedigend. Die absolute Zahl von Infizierten besagt wenig. Erst wenn diese Zahl in Beziehung zu anderen Größen gesetzt wird ist diese aussagekräftig, z. B. im Verhältnis zu 100.000 Einwohnern, Ballungsraum und Ländlicher Raum oder Veranstaltungen mit Nahkontakten. Auch ist die Zahl der Corona-Toten differenzierter darzustellen und im Vergleich zu weiteren Todesursachen wie Rauchen, Alkohol oder Influenza zu interpretieren. Wie viele Menschen sterben jährlich an anderen Krankheiten, z. B. Influenza, Krebs, Unfälle, Herz-Kreislauf? Sind die Menschen durch oder mit Corona gestorben? Dazu können Pathologen einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung leisten.
  • Entgegen der anfänglich breiten Zustimmung zu restriktiven Maßnahmen zeichnet sich neben den Kontroversen um ein sinnvolles, die verschiedenen Interessen berücksichtigendes Vorgehen zugleich eine Fragmentierung der Öffentlichkeit ab, u. a. durch im Internet auftauchende Verschwörungstheorien. Nötig ist daher die Herstellung einer Öffentlichkeit, die noch eine Unterscheidung von objektiver Wirklichkeit und subjektiver Meinung zulässt. Dass dies hierzulande bisher relativ gut gelungen ist, ist ein Verdienst der nach wie vor starken Qualitätsmedien, aber auch der Lokalzeitungen vor Ort. Unter diesem Aspekt sind Lokalzeitungen wie öffentlich-rechtliche Medien vor einem weiteren Bedeutungsverlust zu schützen.
  • Als Bürger müssen wir wieder eine aktivere Rolle in der Demokratie übernehmen und breitere Möglichkeiten der Mitentscheidung einfordern, auch hinsichtlich einer qualitativ guten und die gesamte Wirklichkeit abbildenden Informationspolitik. Krisen sind auch mit verursacht durch Überlassen bzw. Delegation von Entscheidungen an Politik, Experten, Verbände und NGOs. So wurden aus wirtschaftlichen Interessen trotz des Wissens um mögliche Katastrophen (vgl. SARS 2002, MERS 2012) und der dafür nötigen Prävention seitens der Politik Gelder gekürzt bzw. nicht rechtzeitig aufgestockt, z. B. in Krankenhäusern. Wie schaffen wir es künftig, gewonnene Erkenntnisse rechtzeitig und vorausschauend umzusetzen? Dazu brauchen wir auch unter Beteiligung möglichst vieler Bürger einen organisierten politischen Diskurs darüber, wohin wir als Gesellschaft wollen und welche Prämissen uns dabei leiten, z. B. das neoliberale Gedankengut oder die Gemeinwohlidee.
  • Wir brauchen eine freie und qualitativ hochwertige Informationsbereitstellung. Aktuell entsteht angesichts einer globalen Pressemacht der Eindruck einer ‚Gleichschaltung‘. Hier ist unsere Zivilgesellschaft gefordert, eine breite Plattform aufzubauen, um vielfältige und kritische Stimmen zu Gehör zu bringen. Wir müssen genau hinschauen, was die Stellung der global agierenden Medien betrifft. (vgl. Google, Amazon, Alibaba)

 

 7. Haltungen und Verhalten

  • Neben politischen und strukturellen Rahmenbedingungen kommt es aber nicht weniger auf das Lebensmodell des Einzelnen an. Die von dieser Krise erzwungene Reduktion auf Wesentliches hat bei vielen Menschen einen distanzierten Blick auf ihr bisheriges Lebensmodell gefördert. Was hindert uns wirklich daran, unser Leben an eigenen Prioritäten auszurichten? Wo liegt für uns als Individuum und Bürger das größte Verführungspotential in Bezug auf fremdbestimmtes Leben?
  • Eine der Kernfragen ist, wie wir künftig wieder das richtige Maß finden. Was ist wirklich wichtig und was weniger? Wie finden wir die Balance zwischen arbeiten und ruhen, tun und lassen? Unter welchen Voraussetzungen beteiligen wir uns an welchen Aktionen? (z. B. Unterstütze ich weiterhin den ‚Wahnsinn’ Profi-Fußball?) Wo verfolgen wir Eigeninteressen und wo bringen wir uns solidarisch ein? Wo und wie kaufen wir ein? (regional, online?) Wie tarieren wir das Miteinander der Generationen so aus, dass Menschenwürde und gesellschaftliche Wirkungs- und Entfaltungsmöglichkeiten für alle ethisch verantwortet werden können?
  • Die Ökonomie ist um das natürliche Umfeld zu ergänzen. Denn die Alternativen pro Lebensentscheidung nehmen überproportional zu. Handlungsmöglichkeiten werden immer stärker von der begrenzten Wahrnehmungsfähigkeit der Menschen abhängig. Erfahrungs- und Deutungsgemeinschaften formen sich zu Meinungsgruppierungen mit dem Ziel, durch gegenseitige Unterstützung ein Sicherheitsgefühl und mehr Erfolg zu erreichen als es ein Einzelner kann. Dabei sollte die Arbeitsteilung nicht nur die produktiven Bereiche des Wirtschaftens einschließen, sondern als Ressourcen auch emotionale Lebensbereiche. Diese zeigen sich u. a. in Haltungen gegenüber Bedarfen, Regelungen, Anordnungen oder Gesetzen, die dann zur Diskussion gestellt werden müssten. Allerdings stößt unser individuelles Deuten von richtigen oder sinnhaften Entscheidungen an Grenzen, weil das Gefüge sich situativ von jetzt auf nachher oder auch durch unser Zutun verändert. Angesichts dieser Grenzen sollten wir uns fragen, wie wir bessere situationsangepasste Anwendungen zur Entscheidungsfindung institutionalisieren können. (Debatte, klare Mehrheit, Transparenz, Regulierung von Macht, Subsidiarität, Handlungsfreiheit) Auch bleibt die Frage, ob/wie die sogenannte Künstliche Intelligenz ohne/mit Einbeziehen menschlicher Kreativität hinreichend/interstützend für künftige Entwicklungen sein kann.
  • Wir sollten den Tod wieder als normales menschliches Risiko in unsere Kultur integrieren. Wie gehen wir als Gesellschaft mit dem Thema Sterben und Tod um? Wo und wie machen wir dieses zu einem öffentlichen Thema, raus aus der Tabuzone. Sterben gehört zum Leben wie geboren werden. Dürfen Menschen sterben, wenn die Kraft zum Leben nicht mehr reicht? Wir brauchen eine neue Sterbekultur in einer Zeit der Hochleistungsmedizin. Ein solcher Blick würde auch eine breitere und offenere Diskussion der Risiko- und Schadensabwägung zur Bewältigung der Krise erlauben und sog. Risikogruppen könnten sehr wohl selbst entscheiden, wie sie leben möchten. (vgl. dazu die Aussagen von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble)

 

 

8. Fazit

Unter Berücksichtigung der in den Statements vorgenommenen Gewichtungen lassen sich folgende 10 Merksätze als Fazit formulieren:

  1. Die Pandemie ist Chance und Aufforderung zur Veränderung. (Änderung des Lebensstils, gemeinwohlorientierte Strukturen, Arbeitswelt)
  2. Die Politik kann Entscheidungen im Interesse der Allgemeinheit gegen Partikularinteressen und Lobbyismus durchsetzen. (Primat der Politik vor Lobbyismus)
  3. Die Stärke unserer Gesellschaft wird künftig davon abhängen, wie gut es den Schwachen geht. (mehr Solidarität und soziale Gerechtigkeit, allen eine Stimme geben, Globalisierung der Solidarität)
  4. Gemeinwohlorientiertes Wirtschaften ist nachhaltiger und sozialer als profitorientiertes neoliberales Gedankengut. (u. a. Neuaufstellung des Gesundheitswesens und der öffentlichen Daseinsvorsorge, ebenso zu überdenken ist eine rein nach Profitkriterien vorangetriebene Globalisierung der Ökonomie.)
  5. Mündige Bürger sind die Garanten unserer Demokratie. (Transparenz politischer Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse, Zulassen kritischer Stimmen, breite Beteiligung der Bürger)
  6. Die Angst vor dem Virus darf die Demokratie nicht auffressen. (Abwägen der verschiedenen zu schützenden Gütern und Menschen)
  7. Der Klimawandel macht keine Pause. (Weniger Reisen, regionaler Einkauf)
  8. Das richtige Maß finden. (Entschleunigung, raus aus dem Hamsterrad, nicht immer schneller, höher und mehr)
  9. Sterben und Tod gehören ins Leben. (Zulassen von Sterbeprozessen, Palliativmedizin vs. Apparatemedizin)
  10. Leben gibt es nicht ohne Risiko.

 

Zusammenstellung der Dokumentation: Karl Schneiderhan

 

Rottenburg, 05.05.2020

Für den Politischen Gesprächskreis

Wolfgang Hesse

Prof. Dr. em. Winfried Thaa

Karl Schneiderhan

 

Kommentare

Name: Martin
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Diese Form des "Politischen Gesprächskreises" war neu, aber das Ergebnis ist ziemlich gut. Man wünschte sich, dass in Bereichen, in denen Entscheidungen fallen, ebenso breit gefächert und kontrovers Fragen aufgeworfen würden. Das war ja die große Hoffnung: dass die Pandemie neues Denken hervorruft. Aber dazu hätten viele, die für Entscheidungen verantwortlich sind, Barrieren in ihren Köpfen abbauen müssen. Viele der Punkte, die zu Gedankenspielen hätten hinführen können, sind politisch so weit links, dass Personen, die Entscheidungen treffen, es nicht wagen, solche Gedanken zuzulassen. Schade. Aber vielleicht könnte dieser Text von jungen Menschen, also Schülern, als Anregung benutzt werden, Denk-Grenzen zu überwinden.

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