Förderverein Stadtbibliothek Rottenburg

25.06.2019: Zwischen ‚Höhenflug’ und ‚Sinkflug’ - Veränderungen in der Parteienlandschaft durch Europa- und Kommunalwahl

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Impuls und Moderation: Karl Schneiderhan

Karl Schneiderhan begrüßt die Teilnehmenden, insbesondere die Vertreter/innen der in den Gemeinderat gewählten Parteien bzw. Listen, Diana Arnold (CDU), Gabriele Mauthe (FaiR) und Hermann Steur (SPD). Die weiteren eingeladenen Parteien bzw. Listen haben keine Rückmeldung gegeben.

 

A. Impuls zum Einstieg

I.  Daten und Fakten zur Europawahl 2019[1]

Union und SPD sinken auf historische Tiefststände. Die Grünen werden erstmals zweitstärkste politische Kraft bei einer bundesweiten Wahl. Die AfD legt zu (+3,9), Linke und FDP bleiben schwach. Auffallend ist: Die sonstigen Parteien erhalten im Vergleich zu früheren Wahlen mehr Zuspruch. Im Vergleich zum Bundesdurchschnitt zeigen sich in BW leichte Veränderungen: Die CDU ist etwas stärker (+1,9%), ebenso die Grünen (+2,8%) und die FDP (+1,4%), die SPD schwächer (-2,5%), ebenso die AfD  (-1,0%). In Bayern konnte sich die CSU leicht verbessern, möglicherweise bedingt durch den Spitzenkandidaten der Union. Die Wahlbeteiligung beträgt 61,4% (+13,3%), die höchste seit der Wiedervereinigung Deutschlands im Jahre 1990.

Die hohen Verluste von CDU und SPD sind insbesondere verursacht durch Defizite bei Parteiansehen, Regierungsarbeit, Sach- und Lösungskompetenz sowie Spitzenpersonal. Zwar werden die Europa-Kandidaten von Union und SPD, Manfred Weber und Katharina Barley, durchaus positiv bewertet, aufgrund ihres geringen Bekanntheitsgrades entwickelten die beiden aber nur bedingt Zugkraft.

Die CDU/CSU bleibt stärkste Kraft insbesondere dank der älteren Generation: Unter den Wählern 60+ holt sie 41% (-1%), bei den 18- bis 29-Jähr. erreicht sie aber nur noch 14% (-14%). Die Grünen werden bei den 18- bis 29-Jähr. mit 31% klar stärkste Kraft (in BW noch höher) und liegen jetzt bei den unter 60-Jähr. Wählern knapp vor CDU/CSU. In der Generation 60+ legen die Grünen zwar zu, bleiben aber mit 13% (+9%) eher schwach. Die SPD erreicht bei der Generation 60+ trotz hoher Verluste noch 22% (-12%). Von den unter 60-Jähr. wählen nur noch 9% SPD (-10%). Dagegen haben die Grünen, was das Parteiansehen betrifft, die CDU eingeholt, die SPD gar überholt und beim Thema Klimaschutz beide regelrecht deklassiert. Zudem sehen viele die Arbeit der GroKo im Vergleich zu 2014 kritisch und sich von Union oder SPD in europapolitischen Fragen weniger vertreten. Auch bemängeln viele einen zu geringen Einsatz der Bundesregierung für ein starkes Europa.

Befördert durch Themen, insbesondere Klimawandel (‚fridays for future’) und die beschworene Bedrohung durch den (Rechts-) Populismus, aber auch Flüchtlinge und Brexit, war das Interesse an der EU höher als bei vorangegangenen Wahlen. Die Mehrheit sieht in der EU-Mitgliedschaft Vorteile für Deutschland und 71% (56%) halten Entscheidungen des EU-Parlaments für wichtig, obwohl nur 40 % (26%) mit der EU-Politik zufrieden sind. Trotz dieser positiveren Bewertung europäischer Themen zeigt sich im Wahlergebnis, dass auch bei dieser Wahl eher innenpolitische Themen das Wahlverhalten bestimmten. Dies zeigt die erkennbare weitere ‚Polarisierung’ zwischen westlichen und östlichen Bundesländern. Bestimmendes Thema im ‚Westen’ war der Klimaschutz, im ‚Osten’ die Sorge um die wirtschaftliche Entwicklung (Kohleausstieg) oder die Sicherheit, was die Stimmen für die AfD erklärt. Konträr zur derzeitigen pro-europäischen Grundstimmung sehen AfD-Anhänger die EU-Mitgliedschaft kritisch, beklagen zu viel Einfluss der EU und fordern mehr nationale Eigenständigkeit. Allerdings sehen 80% der Befragten im Erfolg europakritischer, populistischer und rechter Parteien ein Problem für die EU.

Das Wahlergebnis bestätigt weiterhin einen seit längerem anhaltenden Trend: Die Akzeptanz der Grünen ist in der ‚politischen Mitte’ stark angewachsen. Sie stehen für eine moderne, zukunftsfähige und bürgerliche Politik. Das Ergebnis zeigt aber auch, die Wählerschaft ist in zwei Lager geteilt, auf der einen Seite die Veränderungswilligen und Modernisierer, auf der anderen Bürgerinnen und Bürger, die eher Angst vor Veränderungen haben und mit Sorge in die Zukunft blicken. Die Teilung in die früheren Lager ‚links’ und ‚rechts’ ist überholt. Allerdings handelt es sich bei der ersten Gruppe überwiegend um die gut gebildeten, kosmopolitisch orientieren Globalisierungsgewinner. Diese bilden die neue Mittelschicht, wogegen die andere Gruppe ihr Leben eher an einem festen Ort führt und sich von der Globalisierung eher bedroht sieht und überwiegend ‚konservativ’ wählen. In dem Maße, wie sich die soziologische Mittelschicht auflöst, verlieren auch die Parteien der Mitte an Zugkraft. Möglicherweise hat das YouTube-Video von Rezo, das  kurz vor der EU-Wahl auftauchte und ca. 14 Mio. Klicks hatte, bei jüngeren Wählern das Wahlverhalten beeinflusst. Dieser Vorgang zeigt die große Breitenwirkung solcher Medien und CDU und SPD die jungen Leute nur noch schwer erreichen, wie das Wahlergebnis zeigt.

 

II. Wahlergebnisse Europa- und Kommunalwahl Rottenburg

1. Europawahl 2019 Stadt Rottenburg - Vorläufiges Endergebnis[2] 

 

 

2. Kommunalwahlen 2019

Für Kommunalwahlen liegen keine Umfragen bzw. Analysen vor (mit Ausnahme der Großstädte) wie bei Europa-, Bundes- oder Landtagswahlen, was eine verlässliche Analyse bzw. Diagnose hinsichtlich des Wählerverhaltens z. B. für die Stadt Rottenburg erschwert. In Einzelfällen lassen jedoch die Wahlergebnisse in den 42 Wahlbezirken Rückschlüsse auf das Wählerverhalten zu.

 Der bei der Europawahl sich abzeichnende Trend (unabhängig von den freien Wählerinitiativen) bestätigt sich aber auf kommunaler Ebene gleichermaßen: Hohe Verluste für die Volksparteien CDU und SPD und enorme Zugewinne für die Grünen, insbesondere in den Großstädten. Gleiches gilt für die Stadt Rottenburg. Allerdings gibt es  im Landkreis TÜ Abweichungen: Mössingen CDU +4,8, SPD etwa gleich (-0,5%); Ammerbuch SPD +2,4% und in Gomaringen gleiches Ergebnis wie 2014.   

 

2.1 Kreistagswahl 2019 – Ergebnisse Wahlbezirk 2

(Rottenburg mit Neustetten, Hirrlingen, Starzach)

       Wahlbeteiligung: 59,1% (Europawahl 64,9%)

  • FWV 12,2%
  • CDU 31,1%
  • GRÜNE 24,0%
  • SPD 11,0%
  • TÜL/DIE LINKE 6,5%
  • FDP 6,9%
  • Die PARTEI 2,8%
  • AfD 5,6% 

 

2.2 Gemeinderatswahl 2019 – Ergebnisse Stadt Rottenburg[3]

 

Wahlbeteiligung: 59,5% (Europawahl 64,9%) - Briefwähler ca. 30%

 

Beiträge bzw. Bewertungen aus dem Teilnehmerkreis:

  •  Positiv zu werten sind das stärkere Interesse an Europa und die Zunahme der Wahlbeteiligung. Eine wesentliche Rolle dafür spielen die aktuellen Themen wie Brexit, Flüchtlinge, Klimawandel oder (Rechts-) Populismus.
  • Eindeutiger Sieger der Wahlen sind die Grünen, die für gesellschaftlich relevante Zukunftsthemen stehen wie Klimawandel, Mobilität, Moderne. Die CDU habe z. B. diese Themen verschlafen.
  • Die Erfolge der AfD sind überwiegend Ausdruck von Frust und Protest über die seit Jahren nicht aufgearbeiteten Probleme.
  • CDU und SPD hatten sowohl bei der Europawahl wie bei der Kommunalwahl keine überzeugenden Konzepte, bei in Bezug auf Europa beim Klimawandel oder für Rottenburg in Bezug auf eine Gewerbeansiedlung.
  • Die Veränderungen in der Parteienlandschaft zeigen, die Zeit der sog. Volksparteien ist vorbei und vieles ist im Fluss (vgl. Heraklit), das Neue ist noch nicht erkennbar.
  • Die Grünen haben es besser verstanden, Empfindungen, Befindlichkeiten und Gefühle der Bürger anzusprechen.
  • Die Kommunalwahl werten zahlreiche Teilnehmer als Persönlichkeitswahl bzw. nicht selten entscheidet der Bekanntheitsgrad über die Höhe der Stimmenanteile, nicht Qualifikation oder Engagement.
  • Nicht wenige haben inzwischen den Eindruck, dass die Politik bzw. die Administration die Bürger nicht genügend mitnehmen in ihren Sorgen, Interessen und Bedürfnissen, auch in Rottenburg.
  • Die Grünen haben insbesondere auf Kosten von CDU und SPD zugenommen. Ein Grund liegt darin, dass die Personalfrage bei den Grünen geklärt war und diese mit den beiden Spitzen zwei kompetent und sympathisch wirkende Politiker haben.
  • Im Rottenburger Wahlergebnis zeigt sich auch Protest gegenüber der Verwaltungsspitze und dem Gemeinderat. Bürger hatten in der Vergangenheit öfter das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden. Als Beispiel wird der Umgang der Verwaltung und einzelner Gemeinderäte mit Bürgern im Rahmen des Bürgerentscheids zum Gewerbegebiet genannt. CDU und SPD werden zudem als verlängerter Arm der Verwaltungsspitze gesehen.
  • Vergleicht man das CDU-Ergebnis für Rottenburg mit früheren Wahlen (z. B. errang die Partei 1999 bei der Kommunalwahl noch über 50%), so geht der Stimmenanteil mit ca. -25%. seit damals dramatisch zurück. Insofern ist die CDU auch gegenüber der weiteren Wahlverliererin SPD der eigentliche große Verlierer dieser Wahl. So landeten die beiden Parteivorsitzenden (Stadtverband und Ortsverband), also das Spitzenpersonal der CDU auf kommunaler Ebene nicht einmal auf den Ersatzplätzen. Die CDU verliert insbesondere massiv an Vertrauen in der Kernstadt. Dazu kommt, dass die CDU in der Nachkriegsgeschichte erstmals nicht mehr den Stimmenkönig stellt. Dramatische Verluste erlitt die CDU in Kiebingen, in einer ihrer früheren Hochburgen. Aber auch in weiteren Stadtteilen ist der Vorsprung erheblich geschrumpft.
  • Insbesondere CDU und SPD haben es versäumt, auf kommunaler Ebene frühzeitig jüngere Nachwuchskräfte aufzubauen. So gleichen z. B. SPD und Linke eher einem Seniorenclub, auch in der CDU gibt es zu wenig Jüngere. Zudem seien einzelne Stadträte zu lange im Gemeinderat und weit weg vom Bürger. Im Grundsatz sollte die Amtszeit begrenzt sein.
  • Auffallend ist, dass die AfD bei der Europawahl (übrigens bei der Bundestagswahl 2017 und bei der Landtagswahl 2016 noch höhere Anteile) in einzelnen Stadtteilen überdurchschnittliche Werte erzielt hat. Was können die Gründe dafür sein? (Es gibt in diesen Stadtteilen im Unterschied zu den anderen keine nennenswerten Probleme.)
  • Trotz des auch bei der Kommunalwahl wirkenden Landestrends zeigen Ergebnisse in Mössingen, Ammerbuch und Gomaringen, dass lokale Gegebenheiten bzw. Persönlichkeiten offensichtlich den Landestrend verändern bzw. aufhalten können. (Mössingen +4,8% für die CDU, in Ammerbuch hat sich die SPD sogar verbessert und in Mössingen und Gomaringen ihre Stimmenanteile gehalten.)
  • Die Frage ist, worin für die politische Arbeit im Gemeinderat der strategische Vorteil von acht Parteien bzw. Listen liegt. Um eigene Akzente zu setzen braucht es in einer Demokratie Mehrheiten, die bei solchen Verhältnissen nur schwer zu erreichen sind. Denkbar wäre, dass sich Listen zu einer Fraktion zusammenschließen, um mehr Schlagkraft zu entwickeln.
  • Die Frage ist, wie angesichts des Nutzerverhaltens, insbesondere der jüngeren Generation, künftig politischen Meinungs- und Willensbildungsprozesse sach- und themengerecht organisiert werden. Die Parteien scheinen dabei überfordert zu sein bzw. werden diesen nicht mehr ausreichend gerecht. Es braucht mehr parteiübergreifende Diskursstrukturen.

 

Rottenburg, 26.06.2019

Karl Schneiderhan

 

[1] Die Umfragenwerte beziehen sich auf die Analyse der Forschungsgruppe Wahlen des zdf. Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf die Ergebnisse der Europawahl 2014. Vgl. dazu auch die beigefügte PP mit weiteren Daten und Fakten.

[2] Quelle: Wahlamt der Stadt Rottenburg

[3]  Quellen: Statistisches Landesamt BW/SWR und Schwäbisches Tagblatt 28.05.19

 

 

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