Förderverein Stadtbibliothek Rottenburg

31.01.2022: Aufbruch und Fortschritt – was verspricht die Ampelkoalition?

 

1. Begrüßung und Einführung

Herr Schneiderhan begrüßt die Teilnehmer der Veranstaltung mit den besten Wünschen zum neuen Jahr.

Thema heute ist der Koalitionsvertrag der neuen Ampelregierung. Knapp acht Wochen sind vergangen, seitdem die neue Regierung ihre Arbeit aufgenommen hat. Angesichts der noch andauernden Corona-Pandemie und gravierender außenpolitischer Verwerfungen war in den Medien des Öfteren von einem ‚Kaltstart‘ die Rede, wie bisher keiner neuen Regierung zugemutet.

„Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“, so lautet die Überschrift des immerhin 177 Seiten umfassenden Koalitionsvertrags. Manche Schlagworte haben sich rasch eingeprägt: Fortschritt, Zukunft, Innovation, Modernisierung oder Entfesselung. Die Digitalisierung, so wird der Eindruck erweckt, scheint das Allheilmittel zu sein, um künftige Herausforderungen zu meistern und nicht zu vergessen einer der zentralsten Herausforderungen, der Klimawandel. Die Botschaft der Koalitionäre war: Gestern war gestern, jetzt bricht eine neue Zeit an verbunden mit vielen Versprechungen. Dabei sei nur am Rande erwähnt, die SPD war immerhin bereits acht Jahre Teil der Bundesregierung. Bei so viel an Vorhaben und Versprechungen ist die Frage berechtigt, wie diese beabsichtigten Vorhaben in welchem Zeitrahmen praktisch überhaupt umgesetzt werden können und wie diese finanziert werden sollen.

 

2. Impuls (Prof. em. Dr. Winfried Thaa)

Auszüge

Im Folgenden werde ich mich auf den Koalitionsvertrag konzentrieren. Er umfasst mehr als 170 Seiten und kann deshalb in diesem Rahmen nicht vollständig dargestellt werden. Konzentrieren werde ich mich deshalb auf die Aussagen zur ökologischen Transformation und die Politikbereiche, die damit unmittelbar zu tun haben. Darüber hinaus werde ich auch auf Aussagen zu Reformen von Staat und Demokratie und zur Familien- und Einwanderungspolitik eingehen.

Der erste und stärkste Eindruck des Koalitionsvertrages und des Auftretens der Koalitionsparteien lässt sich vorneweg in einem Satz formulieren:

So viel Anspruch war selten

Man muss schon bis 1969 zurückgehen, um einen ähnlich hohen Anspruch auf Neuanfang und Aufbruch zu finden.  Damals hieß es mehr Demokratie wagen, heute mehr Fortschritt wagen. Und die neue Koalition setzte alle medialen Mittel ein, um ihr Aufbruchspathos zu „kommunizieren“.

Herr Thaa präsentiert das oben gezeigte Bild der Ampel-Koalitionäre, das ihn an den Film „Die glorreichen Sieben“ erinnert, siehe das Bild unten.

 

 

Über das Pathos des Neuanfangs darf man sich schon wundern. Vordergründig, weil die SPD schließlich über 12 der 16 Jahre Merkel hinweg mit in der Regierung war und zuletzt mit Olaf Scholz ja auch den Finanzminister und Vizekanzler stellte. Und auch die FDP war ja vier Jahre lang mit Merkel in einer Regierungskoalition.

Grundsätzlicher jedoch ist erstaunlich, wie die neue Koalition auf ein Fortschritts- und Modernisierungspathos zurückgreift.

So heißt es etwa in der Präambel des Koalitionsvertrags:

 „Wir haben unterschiedliche Traditionen und Perspektiven, doch uns einen die Bereitschaft, gemeinsam Verantwortung für die Zukunft Deutschlands zu übernehmen, das Ziel, die notwendige Modernisierung voranzutreiben, das Bewusstsein, dass dieser Fortschritt auch mit einem Sicherheitsversprechen einhergehen muss und die Zuversicht, dass dies gemeinsam gelingen kann.“

Hier sind also Fortschritt und Modernisierung genannt. Noch deutlicher formulierte Scholz bei der Vorstellung der neuen Regierung, und er wiederholt das seither mehrfach:

„Uns eint der Glaube an den Fortschritt“

Glaube ist so eine Sache, und man fragt sich doch, welcher Fortschritt gemeint ist. Soll hier etwa ein wachstumsbasiertes Fortschrittsmodell neu belebt werden? Ein Fortschrittsmodell, das schon in den 70er Jahren die NSB kritisierten (und auf das bezogen etwa Erhard Eppler schon vom „Elend der Progressiven“ sprach, die auf die Frage, was Fortschritt inhaltlich sei, keine wertbezogene Antwort wüssten. (Ende oder Wende 1975, zitiert nach: Blätter für deutsche und internationale Politik 11/21, S. 9).

Oder ist es den drei Parteien doch gelungen, was der Untertitel des Koalitionsvertrags verspricht, nämlich Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit in einer neuen Fortschrittsvorstellung zusammenzubringen?

Ich werde diese Fragen in der Folge nicht abschließend beantworten, aber die Aussagen des Koalitionsvertrags zu einzelnen Politikbereichen darauf hin genauer anschauen. Was ich weitgehend weglassen werde sind die sicher auch nicht unwichtigen Auseinandersetzungen zur Verteilung der Ministerien zwischen den Parteien und ihrer Besetzung durch einzelne Politiker.

 

Die wichtigsten Herausforderungen laut Koalitionsvertrag

  • Pandemie besiegen
  • Klimakrise gefährdet unsere Lebensgrundlagen
  • Verschärfung des globalen Wettbewerbs erfordert Neubegründung der ökonomischen Stärke Deutschlands und Europas
  • Unsere Werte sind im internationalen Systemwettbewerb gemeinsam mit demokratischen Partnern entschlossen zu verteidigen
  • Digitalisierung vorantreiben
  • Gesellschaftliche Spannungen reduzieren und Vertrauen in Demokratie stärken

 Der Koalitionsvertrag nennt am Anfang, gleich nach der zitierten Feststellung über die notwendige Modernisierung eine ganze Reihe konkreter Herausforderungen, vor denen das Land stehe.

Dagegen ist ja nichts einzuwenden. Man könnte allerdings fragen, was nicht drin steht. Vorneweg: Ökologie (jenseits der Klimakrise), Soziale Fragen, Gleichstellung, Migration, Demokratieentwicklung  u.a. haben es nicht in die Liste der vorrangigen Herausforderungen geschafft. Was jedoch, wie wir gleich sehen werden, nicht heißen soll, dass sie im Vertrag gar nicht auftauchen würden. Unter der Überschrift „Was wir voranbringen wollen“ wird dann eine breitere Liste politischer Ziele aufgeführt.

 

Als vorrangig bezeichnete Ziele (1)

  • Modernisierung des Staates und Digitalisierung der Verwaltung
  • Innere Einheit sozial und wirtschaftlich vollenden
  • Gute Lebensverhältnisse in Stadt und Land schaffen
  • Die Klimaziele des Pariser Abkommens erreichen
  • Wohlstand sichern und Innovationskraft der Wirtschaft stärken
  • Faire Besteuerung und Bekämpfung der Steuerhinterziehung
  • Umfassende Investitionen in die Modernisierung des Landes (öffentlich und privat) im Rahmen der bestehenden Schuldenregeln

 

Als vorrangig bezeichnete Ziele (2)

  • Bessere Bildungschancen
  • Erhöhung der Erwerbsbeteiligung
  • Modernisierung des Einwanderungsrecht
  • Stärkung der Familien und Kindergrundsicherung
  • Erhöhung des Mindestlohns auf 12 €
  • Einsetzen für Entgeltgleichheit von Männern und Frauen
  • Grundsicherung durch Bürgergeld ablösen
  • Bekenntnis zu Respekt und Pluralismus

Bemerkenswert scheint mir, dass dabei an erster Stelle die Modernisierung des Staates und die Digitalisierung der Verwaltung genannt werden. Es folgt dann jedoch eine lange Liste von Zielen, die, wir sind immer noch in der Präambel, einfach aufgelistet werden. Diese Liste, die hier noch nicht einmal vollständig ist, scheint mir erst mal nicht kritisierenswert. Zum Teil bleiben die Ziele recht pauschal, z.T. dürfte es bei ihrer Konkretisierung noch erhebliche Konflikte zwischen den Parteien geben.

Jetzt genauer zu einzelnen Politikbereichen: Dabei als erster Bereich im Vertrag

Moderner Staat, digitaler Aufbruch und Innovationen

Das kann man ev. von der Sache her begründen. Es entstand bei mir aber durchaus der Eindruck, dass dies eine relativ unumstrittene Gemeinsamkeit der drei Parteien ist. Darauf konnte man sich vermutlich recht problemlos einigen, und das steht auch für einen guten Teil der Gemeinsamkeiten zwischen ihnen.

 

Moderner Staat

  • „Für die vor uns liegenden Aufgaben braucht es Tempo beim Infrastrukturausbau. Die Verfahren, Entscheidungen und Umsetzungen müssen deutlich schneller werden. Wir werden deshalb Planungs- und Genehmigungsverfahren modernisieren, entbürokratisieren und digitalisieren sowie die Personalkapazitäten verbessern. Indem wir Bürgerinnen und Bürger früher beteiligen, machen wir die Planungen schneller und effektiver.“

 

Lebendige Demokratie

  • „Demokratie lebt vom Vertrauen in alle staatlichen Institutionen und Verfassungsorgane. Wir werden daher das Parlament als Ort der Debatte und der Gesetzgebung stärken.“
  • „Wir werden ein digitales Gesetzgebungsportal schaffen, über das einsehbar ist, in welcher Phase sich Vorhaben befinden. Dort werden wir öffentliche Kommentierungsmöglichkeiten erproben.“
  • „Wir wollen die Entscheidungsfindung verbessern, indem wir neue Formen des Bürgerdialogs wie etwa Bürgerräte nutzen, ohne das Prinzip der Repräsentation aufzugeben. Wir werden Bürgerräte zu konkreten Fragestellungen durch den Bundestag einsetzen und organisieren“

Stärkung des Parlaments, mehr Bürgerbeteiligung und gleichzeitig Beschleunigung der Entscheidungen. Das darf man sich alles wünschen, aber es zusammenzubringen dürfte nicht einfach sein. Eine rundum lobenswerte Absicht steckt dann zweifellos im Teil zur Transparenz.

 

Transparenz

  • „Für Gesetzentwürfe der Bundesregierung und aus dem Bundestag werden wir Einflüsse Dritter im Rahmen der Vorbereitung von Gesetzesvorhaben und bei der Erstellung von
    Gesetzentwürfen umfassend offenlegen (sog. Fußabdruck). Die Regelung findet ihre Grenzen in der Freiheit des Mandats.“
  • „Wir werden den Straftatbestand der Abgeordnetenbestechung und -bestechlichkeit wirksamer ausgestalten.“

Hier machen allerdings die Formulierungen auch deutlich, dass in einigen der Parteien doch Vorbehalte gegenüber einer konsequenten Reglementierung des Lobbyismus und der Zusatzverdienst-möglichkeiten für ehemalige Abgeordnete und Amtsinhaber bestehen.

Nach meinem Eindruck wenig kommentiert und öffentlich diskutiert wurden die Vorschläge zum Wahlrecht. 

 

Wahlrecht

  • Im ersten Regierungsjahr soll das Wahlrecht überarbeitet werden. Dazu werden folgende Ziele genannt:
  • Effektive Verkleinerung des Bundestags, ohne Verzerrung durch Überhangmandate
  • Ziel einer paritätischen Vertretung von Frauen und Männern im Parlament
  • Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre und Begrenzung der Amtszeit des Bundeskanzlers sollen geprüft werden
  • Grundgesetzänderung angestrebt, um das aktive Wahlrecht auf 16 Jahre zu senken

Worauf ich jetzt gar nicht eingehen werde, sind die Seiten zur Verwaltungsreform und zur Digitalisierung. Da wird durchweg beschleunigt, ob Planungs- oder Verwaltungsgerichtsverfahren. Ich gestehe auch gern, dass dieser Teil für mich zu viel Fachchinesisch enthält. Etwa Standardisierung von IT-Verfahren nach dem „Einer für Alle“ (Efa)-Prinzip. Es soll ein allgemein anwendbares Identitätsmanagement geben u.v.m.

 

Klimaschutz in einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft

  • „Wir sehen die Aufgabe, der ökonomischen Stärke unseres Landes eine neue Dynamik zu verleihen.“
  • „Der Industrie kommt eine zentrale Rolle bei der Transformation der Wirtschaft mit Blick auf Klimaschutz und Digitalisierung zu. Wir werden die Investitions- Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der Industrie stärken, um weiter Hochtechnologieland zu bleiben.“
  • Konkret genannte Ziele u.a.:
  • D soll bis 2030 Leitmarkt für Wasserstofftechnologien werden
  • 15 Mio vollelektrische PKW bis 2030
  • Stärkung des Luftfahrtproduktionsstandorts sowie des Schiffbaus, verbunden mit der Förderung klimafreundlicher Antriebe

Es wird betont, dass die industrielle Basis in der ökologischen Transformation nicht nur erhalten, sondern gestärkt werden soll. Diese Perspektive, Stärkung der Industrie durch ökologischen Umbau wird dann eigentlich für alle Branchen durchexerziert. Nicht nur neue Wasserstoffindustrie, sondern Stärkung eigentlich von allem, Luftfahrtindustrie, Schiffsbau usw. Da darf man schon fragen: Brauchen wir mehr Autos, Flugzeuge, Kreuzfahrtschiffe etc? Ein weiteres Beispiel für dieses Muster ist die Chemieindustrie. Schaut man sich das an, so sieht das doch nach Wunschdenken aus: Wettbewerbsfähigkeit, Arbeitsplatzsicherheit, Nachhaltigkeit, Klimaschutz und Verringerung des Risikos werden einfach aneinandergereiht.  

 

Beispiele zur Wirtschaftspolitik

  • Chemikalienpolitik: „Die Chemieindustrie steht in einem weltweiten Wettbewerb. Wir stärken ihre Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft, Nachhaltigkeit und Klimaschutz sowie den Produktionsstandort Deutschland, sichern Arbeitsplätze und reduzieren die Risiken des Einsatzes gesundheitsgefährdender Stoffe.“
  • Kreislaufwirtschaft: „Wir fördern die Kreislaufwirtschaft als effektiven Klima- und Ressourcenschutz, Chance für nachhaltige Wirtschaftsentwicklung und Arbeitsplätze. …. Wir stärken die Abfallvermeidung durch gesetzliche Ziele und ökologisch vorteilhafte Mehrweg- Rücknahme und Pfandsysteme…“

 Ich möchte nicht unterschlagen, dass auch klassisch grüne Themen aufgeführt werden, wie Abfallvermeidung etc. Allerdings: Die Versöhnung von Ökologie und Ökonomie, die die Grünen ja schon lange auf ihre Fahnen geschrieben haben, soll offensichtlich unterm Primat der Ökonomie geleistet werden. Wachstumszentrierung steht im Vordergrund. Und das auch in anderen Bereichen.

Beispielhaft in der Familien- und der Zuwanderungspolitik.

 

Primat Wachstumsförderung

  • Wir „streben eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen an. Diesem Ziel dient unsere Arbeitsmarkt-, Gleichstellungs- und Familienpolitik.“
  • „Deutschland braucht mehr Arbeitskräfteeinwanderung.“ Dazu sollen das Einwanderungsrecht weiterentwickelt werden, eine Chancenkarte auf Basis eines Punktsystems eingeführt, die Hürden bei der Anerkennung von ausländischen Abschlüssen gesenkt und Verfahren beschleunigt werden.

 Ich will hier nicht gegen die Erwerbstätigkeit von Frauen argumentieren. Aber die unverblümte Eindeutigkeit, mit der hier Ziel und Mittel bestimmt werden ist doch erstaunlich.

 

Umwelt- und Naturschutz

In diesem Kapitel bezeichnet die Koalition die Nachhaltigkeitsziele der VN als Richtschnur ihrer Politik und nennt den Erhalt der Artenvielfalt als eine „Menschheitsaufgabe und eine ethische Verpflichtung“.

 

Beispiele für einzelne Naturschutzmaßnahmen

  • Im Rahmen der Europäischen Konvention über biologische Vielfalt „setzen wir uns dafür ein, 30 Prozent Schutzgebiete zu erreichen.“
  • Es soll ein nationales Artenhilfsprogramm aufgelegt werden, das „insbesondere dem Schutz derjenigen Arten dient, bei denen es Konflikte mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien gibt.“
  • Der Einsatz von Pestiziden soll deutlich verringert werden
  • Bündelung der bestehenden Bundesprogramme zum Naturschutz
  • Für einen gezielten Umbau des Waldes
  • „Schutz, Sicherheit und nachhaltige Nutzung der Ozeane wollen wir miteinander in Einklang bringen.“ (Konkret: 10% der Außenwirtschaftszone sollen geschützt werden. S. 39)

Typisch hier: Schutz und nachhaltige Nutzung in Einklang bringen. Das sieht dann so aus, dass 10 Prozent der Meeresflächen in der Küstenzone geschützt werden sollen. Sind damit 90% für wirtschaftliche Nutzung freigegeben?

 

Landwirtschaft

  • „Eine nachhaltige Landwirtschaft dient zugleich den Interessen der Betriebe, des Tierwohls und der Natur und ist Grundlage einer gesunden Ernährung.“
  • Konkret: Die gesamte Landwirtschaft soll an den Zielen Umwelt- und Ressourcenschutz ausgerichtet werden
  • Einführung einer verbindlichen Tierhaltungskennzeichnung
  • Tierbestände sollen sich an der Fläche orientieren
  • „Wir stärken Alternativen zu chemisch-synthetischen Pflanzenschutzmitteln“. Glyphosat wird bis Ende 2023 vom Markt genommen
  • Auf EU-Ebene sollen Direktzahlungen durch die Honorierung von Umweltleistungen angemessen ersetzt werden

Wenn ich da jetzt die Zielsetzung vorlese, sehen sie, dass sich das Muster ständig wiederholt. Ich setze das Adjektiv nachhaltig vor den Begriff Landwirtschaft, und schon sind die Gegensätze versöhnt.

Es werden dann allerdings doch konkrete Maßnahmen genannt, auffallend oft aber nur als Ziele, mit einer Sollen-Formulierung. Das mag nicht nur an den Gegensätzen der Koalitionsparteien liegen, sondern auch daran, dass Landwirtschaftspolitik zu einem großen Teil Sache der EU ist.

 

Ernährung

  • Bis 2023 soll „mit den Akteuren eine Ernährungsstrategie“ beschlossen werden
  • Lebensmittelverschwendung soll verbindlich branchenspezifisch reduziert werden
  • Stärkung pflanzlicher Alternativen zum Fleischkonsum
  • „An Kinder gerichtete Werbung für Lebensmittel mit hohem Zucker- Fett- und Salzgehalt darf es in Zukunft bei Sendungen für unter 14-Jährige nicht mehr geben.“
  • Weiterentwicklung eines EU-weiten Nutriscore

Beim Punkt Ernährung möchte ich mit Blick auf die Zeit nur den Punkt Zucker rauspicken. Das ist sicher ein Beispiel für den Einfluss der FDP und die insgesamt beobachtbare Scheu, ins Marktgeschehen regulatorisch einzugreifen. Freiheitsverlust, wenn die Limonade nicht mehr 30% Zucker hat? Im Vergleich dazu geht ein Land wie GB mit seiner Zuckersteuer deutlich weiter.

 

Mobilität

  • „Ein generelles Tempolimit wird es nicht geben.“
  • Keine Änderungen am Dienstwagenprivileg, KfZ-Steuer und Entfernungspauschale
  • Wenig Maßnahmen gegen den zunehmenden LKW-Verkehr. Der Absatz zum Güterverkehr enthält keine Transformationsziele. Aber der Schienengüterverkehr soll bis 2030 auf 25% steigen.
  • D soll Leitmarkt für Elektromobilität werden
  • Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur sollen weiter erhöht werden. Dabei soll mehr in die Schiene als in die Straße investiert werden.

Am meisten Enttäuschung hat bereits vor Veröffentlichung des Koalitionsvertrags der explizite Verzicht auf ein generelles Tempolimit verursacht. Ich war erstaunt, wer sich darüber alles empört und die Grünen als Umfallerpartei kritisiert hat.

Aber richtig ist sicher: das Tempolimit wäre eine hochgradig symbolische Sache für eine ökologische Verkehrswende gewesen. Umgekehrt ist der Verzicht darauf jedoch auch hochgradig symbolisch für die Botschaft, die die Koalition insgesamt aussenden möchte: Der Bürger darf im Großen und Ganzen weitermachen wie bisher, niemand soll auf irgendwas verzichten müssen – und sei es das Rasen auf der Autobahn. Noch krasser finde ich, dass sich am sog. Dienstwagenprivileg nichts ändern wird – die Interessen der Automobilindustrie bleiben weiterhin das Maß der Dinge.

 

Klima, Energie und Transformation 1

  • „Wir müssen die Klimakrise gemeinsam bewältigen. Darin liegen auch große Chancen für die Modernisierung unseres Landes und den Industriestandort Deutschland: Neue Geschäftsmodelle und Technologien können klimaneutralen Wohlstand und gute Arbeit schaffen.“
  • Klima-, Energie und Wirtschaftspolitik werden auf 1,5 Grad-Pfad ausgerichtet. Am Atomausstieg wird festgehalten.
  • Klimaschutzsofortprogramm noch 2022
  • Ausbau der erneuerbaren Energien „wird drastisch beschleunigt“.

In den Einzelmaßnahmen verbirgt sich aber einiges an Konfliktstoff. Ausbauziele lassen sich leicht festlegen, wenn aber der Begriff Schutzgüterabwägung fällt, wird klar, dass alle Beteiligten mit Konflikten rechnen. Einen kleinen Vorgeschmack gab es jetzt ja auch schon bei Habecks Antrittsbesuch in Bayern

 

Klima, Energie und Transformation 2

  • Bis 2020 sollen 80% des Strombedarfs aus Erneuerbaren Energien stammen
  • Bei „Schutzgüterabwägungen“ soll es einen Vorrang für Erneuerbare Energien geben
  • Solarenergie wird für gewerbliche Neubauten verpflichtend
  • 2% der Landesfläche für Windenergie
  • Offshore Anlagen werden stark ausgeweitet
  • Beschleunigung des Netzausbaus
  • Sozial gerechte Energiepreise (EEG Umlage bis 2023 gestrichen)

Ehrgeizige Ziele in diesem Bereich. Konflikte sind jedoch vorprogrammiert, u.a. mit Naturschützern

 

Gleichstellung und Familie

  • „Gleichstellung von Frauen und Männern muss in diesem Jahrzehnt erreicht werden.“
  • Entgelttransparenzgesetz wird weiterentwickelt
  • Familienbesteuerung soll wirtschaftliche Unabhängigkeit für alle Familienformen stärken
  • 219a wird gestrichen
  • Adoption auch durch unverheiratete Paare
  • Soziale Elternschaft soll ermöglicht werden
  • Möglichkeiten der Legalisierung altruistischer Leihmutterschaft sollen geprüft werden

Hier scheint mir eine vergleichsweise große Schnittmenge zwischen den Parteien zu bestehen.

Man könnte sagen, es herrscht Einigkeit, den Schutz der klassischen Familie zugunsten des Experimentierens mit neuen Lebensformen aufzugeben. Hier sehe ich eher größere Konflikte zwischen den Koalitionsparteien und der Union, auch zu Teilen der Öffentlichkeit (Leihmutterschaft).

M.E. liegt hier ein Potential zur Polarisierung der Gesellschaft, und es bleibt abzuwarten, ob die Parteien der Versuchung zu einem Kulturkampf à la USA widerstehen können.

Ähnliches gilt für den Bereich Migration.

 

Migration und Diversität

  • Mehrfachstaatsbürgerschaft wird erleichtert.
  • Das Einbürgerungserfordernis „Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse“ wird ersetzt.
  • Einbürgerung nach 5, bei bes. Integrationsleistungen nach 3 Jahren
  • „Ganzheitliche Diversity-Strategie“ in Bundesverwaltung und –unternehmen

 

 Vorläufiges Fazit 1

  • Der Koalitionsvertrag enthält eine beeindruckend große Zahl anspruchsvoller Reformvorhaben, allem voran ehrgeizige energiepolitische Ziele. 
  • Die Widersprüche zwischen ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Zielen werden durch Aufbruchs- und Modernisierungsrhetorik verdeckt. Die ökologische Transformation wird so zu einem Projekt, das internationale Wettbewerbsvorteile verspricht und den Wohlstand aller weiter mehrt.
  • Im Grunde ist die Wirtschaftspolitik der neuen Koalition strukturkonservativ: Das Modell Deutschland, durch Exporterfolge Wohlstand zu sichern, soll durch klimaneutrale Innovationen weitergeführt werden.

 

Vorläufiges Fazit 2

  • Der erste Eindruck, wonach sich in den Verhandlungen vor allem die FDP durchgesetzt hat, scheint in diesem Festhalten an einer marktgetriebenen, exportorientierten und Wachstum sichernden Modernisierung einen tieferen Grund zu haben.
  • Neben dem Glauben an ein weiterhin grenzenloses Wirtschaftswachstum eint die Parteien vor allem ein liberales, auf individuelle Selbstverwirklichung und beruflichen Erfolg geprägtes Menschenbild.

 

Vorläufiges Fazit 3

Mögliche Bruchstellen sind unverkennbar, so etwa:

  • In der Frage der Finanzierung des hohen Investitionsbedarfs zahlreicher Maßnahmen und deren sozialen Folgen
  • in den Ungereimtheiten eines auf Wirtschaftswachstum verpflichteten ökologischen Transformation – etwa in den Bereichen Verkehr und Landwirtschaft
  • allgemein in den weiter bestehenden Wertdifferenzen, etwa bei der Pandemiebekämpfung, wo stärker gemeinwohlbezogene auf individuelle Orientierungen stoßen, aber auch zur Menschenrechts-Familien- und Außenpolitik

 

 

3. Diskussion

Herr Schneiderhan leitet die Diskussion ein mit der Fragestellung nach einem Gesamtfazit des Gehörten – nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund des Themas unserer letzten Sitzung, Nico Peachs „Befreiung von Überfluss“.

  • Mehrere Teilnehmer bedanken sich für den ausgezeichneten Vortrag und verweisen darauf, dass man die Regierung wird an ihren Taten messen müssen.
  • Dem Regierungsprogramm fehle eine ganzheitliche Betrachtung im Hinblick auf die Energie- wende. Der Ausbau von Sonnen- und Windenergie erfordert die Schaffung von Speichermöglichkeiten für elektrischen Strom. Solche Technologien seien aber derzeit nicht vorhanden. Außerdem sei völlig offen, wie die fehlenden 80% unseres Energiebedarfs erzeugt werden sollen.
  • Die Gesellschaft braucht für solche Fragen einen offenen Diskurs. Von einem Koalitionsvertrag können wir nicht die Lösung aller Probleme erwarten. Welches Wirtschaftsmodell wollen wir? Die Orientierung an der Wettbewerbsfähigkeit sei richtig, die politische Rahmensetzung soll Wirtschaften auf eine intelligente Weise steuern. Das Regierungsprogramm ist ambitioniert und gegenüber der Regierung von Frau Merkel ein Fortschritt.
  • Es wird eingewendet, die Orientierung an der Wettbewerbsfähigkeit sei aus ökologischen Gründen problematisch, ebenso wie es zumindest fragwürdig ist, aus Ländern wie z.B. Bulgarien die Fachkräfte nach Deutschland zu locken. Das führt zu internationalen Ungleichgewichten, sichert aber unseren Wohlstand.
  • Bei der Orientierung an Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum müsse die Politik schauen, wo das weitere Wachstum zu verstärkten ökologischen Schäden führt und an diesen Stellen deutlicher gegensteuern. Müssen wir z.B. Schweine nach China exportieren und die damit verbundenen Schäden in Kauf nehmen?
  • Es sei einfach, die Politik, z.B. in diesem Kreis, zu kritisieren, man müsse eher die Frage beantworten, wo wir hinwollen und dann die möglichen Optionen konkret durchrechnen. Die Bürger müssen ihre Entscheidungen selber treffen und dürften nicht – wie in Deutschland leider oft üblich - als unmündige Kinder betrachtet werden.
  • Die Gesellschaft droht sich zu spalten. Nach einer aktuellen Umfrage haben nur noch 32% der Deutschen Vertrauen in unsere Regierung. Kann der Koalitionsvertrag dazu beitragen, wieder mehr Vertrauen schaffen?
  • Politik ist immer interessengeleitet und unterliegt Zwängen. Es ist daher normal, dass in einer Demokratie ein Teil der Menschen wenig oder kein Vertrauen und den Staat hat. Insgesamt seien die Vertrauenswerte in die deutsche Demokratie eher stabil, wogegen das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates zurückgegangen ist.
  • Es wird gefragt, ob die Regierung etwas gegen den Einfluss der digitalen Großkonzerne zu tun gedenke. Der Koalitionsvertrag enthalte Aussagen zur Medienpolitik, diese wurden aber vom Referenten für seinen Impuls nicht berücksichtigt.
  • Im Hinblick auf die Rente kann man das Festhalten an bestehenden Regelungen feststellen. Die Bürgerversicherung hat es nicht in den Koalitionsvertrag geschafft. Offenbar hat man es vorgezogen, sich nicht mit den betroffenen Interessengruppen (Beamte, Selbständige) anzulegen.

 

 

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