Förderverein Stadtbibliothek Rottenburg

18.05.2021: Die Bürger als ‚Vetomacht‘ - Die Gegen-Demokratie. Politik im Zeitalter des Misstrauens. Zu Pierre Rosanvallons Buch "Gegendemokratie"

1. Einführung (Wolfgang Hesse)

Das Misstrauen in unsere Demokratie, die Zahl der Querdenker und immer aggressivere Auseinandersetzungen zwischen den Vertretern unterschiedlicher politischer und kultureller Lager scheinen unaufhaltsam zuzunehmen. Dies bestätigen z. B. die politischen Auseinandersetzungen in Tübingen um den OB Palmer sowie die Leserbriefseiten im Tagblatt. Mit Hilfe des Buches „Gegen-Demokratie“ von Pierre Rosanvallon wollen wir solche und ähnliche Entwicklungen näher betrachten, um diese besser verstehen zu können. 

In der letzten Veranstaltung hatten wir uns schwerpunktmäßig mit zwei praktischen Beispielen der Rottenburger Bürgerbeteiligung („Stadtentwicklung 2030“ und Bürgerrat in Verbindung mit dem Thema „Regionales Schlachten – aber wie?“) befasst. Heute steht die Entwicklung von Möglichkeiten der politischen Einflussnahme durch den Bürger aus wissenschaftlicher Perspektive im Mittelpunkt. Um gleich ein mögliches Missverständnis auszuräumen: Der Begriff “Gegen-Demokratie“ meint nicht das Abschaffen von Demokratie, er steht auch nicht für die Schwächung unseres demokratischen Systems, sondern für den Wandel der repräsentativen Demokratie. 

Als Bindeglied zwischen beiden Veranstaltungen und als ergänzende Datengrundlage für unser heutiges Thema, möchte ich drei Folien mit aktuellen Untersuchungsergebnissen zur politischen Partizipation der Bürger in Deutschland zeigen. Diese Folien sind dem aktuellen Datenreport 2021 der Bundeszentrale für politische Bildung entnommen.

 

2. Impuls (Winfried Thaa)

Warum lohnt die Besprechung dieses Buches?

Rosanvallons „Gegen-Demokratie“, 2006 in französischer Sprache erschienen und 2017 ins Deutsche übersetzt, ist aktuell eines der meistdiskutierten Bücher in der Demokratietheorie, , Frankreich erschienen Seine Hauptthese lautet, dass der seit Jahrzehnten zu beobachtende Vertrauensverlust der Bürger in die politischen Institutionen von einem Formwandel der Demokratie begleitet wird, einem Wandel, der einerseits durch die Schwächung der Wahldemokratie, des Parlamentarismus und der Parteien, andererseits durch die Verbreiterung und Intensivierung von kontrollierenden, verhindernden und verurteilenden Aktivitäten der Bürger charakterisiert ist. Seine Analysen werfen ein erhellendes Licht auf zahlreiche Tendenzen der jüngeren politischen Entwicklung: Der Zunahme themenbezogener Protestbewegungen, der Entfremdung zwischen Bürgern und Politikern, der Verbreitung einer diffusen Wut gegen „Die da oben“, dem Erfolg populistischer Parteien, aber auch der Forderung nach mehr Transparenz und Bürgerbeteiligung. 

Zur Person:

Rosanvallon ist derzeit einer der bekanntesten französischen Historiker und Sozialwissenschaftler und seit 2001 Professor für moderne und gegenwärtige Geschichte des Politischen am Collège de France. Sein Geburtsjahr 1948 legt nahe, dass er, wie andere Vertreter seiner Generation, durch die 68er Jahre und die darauffolgende Hegemonie des Neomarxismus geprägt wurde. Das trifft auch zu, allerdings hat er weder die für viele seiner Altersgenossen typische maoistische Phase mitgemacht noch die moskauhörige KPF unterstützt. Er arbeitete in den 70er Jahren für die den Sozialisten nahestehende Gewerkschaft CFDT und wurde zu einem wichtigen Theoretiker der in Frankreich zeitweise populären Arbeiterselbstverwaltung, der „Autogestion“. 

Zu seinen Veröffentlichungen zählen zwei weitere demokratietheoretisch bedeutende Werke. „Demokratische Legitimität“, Hamburg 2010 und „Die Gesellschaft der Gleichen“, Hamburg 2013. Jüngst ist zudem ein Buch zum Thema Populismus erschienen „Das Jahrhundert des Populismus“, Hamburg 2020.

Zum Buch von Pierre Rosanvallon

1. Misstrauen und Demokratie

Bevor Rosanvallon die zu Eingang erwähnte These ausführt und die drei Formen der Gegendemokratie genauer darstellt, erklärt er, welch wichtige Rolle das Misstrauen bereits in den Anfängen der modernen Demokratie spielte. Sowohl während der amerikanischen als auch der französischen Revolution hätten sich die Auseinandersetzungen nicht nur darum gedreht, die Qualität der Wahldemokratie zu verbessern. Es seien vielmehr immer auch Maßnahmen und institutionelle Lösungen diskutiert worden, die sich aus einem grundsätzlichen Misstrauen gegen die neuen, nun gewählten Amts- und Mandatsträger speisten. Darauf bezogen spricht er von der „Herausbildung eines Misstrauensuniversums“ (S. 11) und unterscheidet dabei zwischen einem liberalen und einem demokratischen Misstrauen. Das liberale Misstrauen äußere sich in den institutionellen Vorkehrungen gegen eine mögliche Despotie der Mehrheit wie der Gewaltenteilung, der Einführung einer zweiten Kammer, unabhängigen Gerichten, einem föderalen Staatsaufbau u. ä. m., wie beispielhaft im amerikanischen System der „Checks and Balances“[1] deutlich wird. Die Quelle dieses Misstrauens sei der Verdacht gegen die Regierung des Volkes. Das demokratische Misstrauen dagegen ziele auf Ergänzungen der elektoralen, repräsentativen Demokratie, um auf indirekten Wegen den Einfluss des Volkes zu verstärken und sicher zu stellen, dass die Regierung auch tatsächlich dem Gemeinwohl dient. Dabei unterscheidet er drei Haupttypen: „Überwachungsdemokratie“, „Souveränität als Verhinderung“ und „Das Volk als Richter“.

Diese drei Typen der Gegendemokratie sind demnach nicht neu, gewinnen während der letzten Jahrzehnte deutlich mehr Gewicht, vor allem vor dem Hintergrund einer gesamtgesellschaftlichen Zunahme des Misstrauens. Diese konkretisiert er ebenfalls in drei Bereichen: einem zunehmenden Misstrauen gegenüber Wissenschaft und technischem Fortschritt (hier zitiert er Ulrich Becks „Risikogesellschaft“), dem Scheitern keynesianischer Konjunktur- und Wirtschaftspolitik im Bereich der Ökonomie und schließlich im Bereich der Gesellschaft in einer allgemeinen Erosion des zwischenmenschlichen Vertrauens und zunehmender Individualisierung.

 

 2. Formen der Gegendemokratie

2.1 Die Überwachungsdemokratie

„Die Repräsentativregierung wird bald die korrupteste aller Regierungen sein, wenn das Volk aufhört, seine Repräsentanten zu kontrollieren“. (S. 33) Rosanvallon zitiert eine Stimme von 1791, um zu unterstreichen, dass die Kontrolle durch die öffentliche Meinung von Beginn der Demokratie an als notwendiger Teil der Volkssouveränität erachtet wurde. Dabei geht es um die kontinuierliche Beaufsichtigung des Regierungshandelns, die Denunziation des Missbrauchs von Amtsgewalt und dessen Skandalisierung sowie um eine ständige Beurteilung und Bewertung der Kompetenz der Regierenden.

Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Öffentlichkeit, insbesondere die Presse, die Medien und mittlerweile auch das Internet. Darüber hinaus entstanden aber auch institutionalisierte Aufsichtsbehörden (in der BRD u. a. die Rechnungshöfe) und während der letzten Jahre soziale Bewegungen, die diese Funktionen teilweise übernehmen. Dazu sind etwa Amnesty International, Umweltbewegungen, Transparency International u. a. zu nennen, selbstverständlich aber auch lokale und regionale Bewegungen verschiedenster Art (bis hinunter zur Leserbriefspalte des Schwäbischen Tagblatts). Was er „Überwachungs-Demokratie“ nennt, lässt sich auch an der öffentlichen Auseinandersetzung über die Corona-Politik des letzten Jahres konkretisieren, die ständige Diskussion über Sinn und Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen, das Aufdecken und Skandalisieren von Korruptionsfällen durch die Presse (etwa beim Maskenkauf), das Anprangern von Regierungsversagen (etwa bei der Impfstoffbeschaffung) u. ä. m.

 

2.2 Souveränität als Verhinderung

Bei der Darstellung dieser Form der Gegendemokratie geht Rosanvallon historisch weit zurück bis zum mittelalterlichen Widerstandsrecht. Die Verhinderungsmacht stammt eigentlich aus vordemokratischen Zeiten. Während des 19. Jh. entwickelte sich diese Form der Gegendemokratie in der Gestalt des Klassenkampfes und als organisierte politischen Opposition. Das alte Naturrecht des Widerstands wurde gewissermaßen zum organisierten sozialen Protest umformuliert. Als herausragendes Beispiel hierfür nennt er Streiks, insbesondere die in Frankreich bedeutende Strategie des Generalstreiks. Erhellend wäre aber auch die deutsche Parole „Alle Räder stehen still, wenn Dein starker Arm es will“ – ein schön formuliertes Beispiel für eine negativ bleibende Gegenmacht. Obwohl die Arbeiter in Frankreich nach 1848 das Wahlrecht erkämpft hatten, sah die Arbeiterbewegung noch Jahrzehnte danach ihre Macht in erster Linie in der Widerstandsform des Streiks. Erst mit der Stärkung reformistischer Strömungen sei das Ziel propagiert worden, „die `gewaltige negative´ Kraft des Proletariats in eine `positive Kraft´ zu verwandeln und auf die Gesetzgebung einzuwirken“. (S. 140) Die Verhinderungsmacht wurde vor allem von sozialdemokratischen Parteien in eine politische Gesamtstrategie integriert.

Mittlerweile, so Rosanvallon, sind jedoch beide Formen von Souveränität kollabiert, die kritisch soziale und die gesellschaftskonzeptionelle, positiv politische. (S. 153) Dies zeige sich am Niedergang der Gewerkschaften, aber auch am Bedeutungsverlust der Parteien, die nicht mehr in der Lage seien, Zukunftsvisionen zu entwerfen. Auch die öffentliche Meinung sei „zunehmend kleinteilig und entfaltet eine Eigenlogik, die jeder konstruktiven Absicht entbehrt. Sie ist somit weniger Abbild von Kräften, die ums Regieren bemüht sind, als Ausdruck schierer Unzufriedenheit“. (S. 154) Kritische Souveränität überlebe nur noch „unter strikt negativem Vorzeichen mit bisweilen sogar regressiven Zügen“. (S. 155)

Die weitgehende Entideologisierung nach 1989 und der Siegeszug des Liberalismus haben dazu geführt, dass Politik nicht mehr als Ort einer Wahl zwischen gegensätzlichen Gesellschaftsmodellen wahrgenommen wird. Opposition wurde während der letzten Jahrzehnte zunehmend reaktiv. Die Stärke einer solchen, auf Verhinderung konzentrierten Politik sieht er zum einen in der relativen Leichtigkeit, in der auch in einer heterogenen Gesellschaft negative Bündnisse geschaffen werden können (im Extremfall kann man aus diametral entgegengesetzten Gründen gegen eine Regierungsentscheidung sein), zum anderen aber auch darin, dass negative Politik im Gegensatz zu einer, die an gesellschaftspolitischen Alternativen orientiert ist, unmittelbare Resultate zeitigt.

 

2.3 Das Volk als Richter

In dieser Form fasst Rosanvallon recht verschiedene Dinge zusammen, die aus seiner Sicht jedoch die Gemeinsamkeit aufweisen, dass durch sie gegen Amts- oder Mandatsträger Anklage erhoben, ihr Verhalten auf den Prüfstand gestellt und beurteilt wird. Die Bürger fungieren also gewissermaßen als Richter. Fasst man dies weit, enthält selbstverständlich jede Wahl auch ein Moment des Richtens und Urteilens über die Amts- oder Mandatsträger. Über periodische Wahlen hinaus gibt es in einigen Staaten der USA die institutionalisierte Möglichkeit des „recalls“, also der Abwahl eines Abgeordneten. Viel wichtiger ist aus seiner Sicht jedoch, dass dieses bewertende und urteilende Moment der Gegendemokratie in allen Demokratien verschiedene Formen angenommen und an Bedeutung gewonnen hat. Zum einen etwa in der Beurteilung der Regierungspolitik durch Experten (in Deutschland etwa dem „Rat der Weisen“), die Rolle von Untersuchungsausschüssen, allgemein durch tribunalartige Formen der Politik, aber nicht zuletzt auch durch die Verrechtlichung der Politik, die in Deutschland durch die Rolle des Bundesverfassungsgerichts weit vorangeschritten ist, was das jüngst ergangene Urteil zur Klimapolitik erneut unterstreicht. Die Attraktivität des urteilenden Zugangs zur Politik sieht er u. a. in dessen Normativität (man bezieht sich in der Regel auf übergeordnete Normen), der möglichen Beendigung einer Diskussion oder eines Disputes durch das Urteil, der Theatralität und Öffentlichkeitswirksamkeit von Verhandlungen und schließlich auch in der Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem, die Gerichtsverfahren oft eher leisten könnten als politische Entscheidungen.

 

3. Die unpolitische Demokratie

3.1 „Der Kontrollbürger gewinnt, was der Wahlbürger verliert“

Rosanvallon sieht die Stärkung der Gegendemokratie nicht umstandslos als Demokratisierungsfortschritt, sondern betont die Ambivalenz dieser Entwicklung. Einerseits führe sie zur Ausweitung von Aktivitäten der Bürger, die über den Rahmen der parlamentarisch-repräsentativen Institutionen hinausreichen.  Andererseits sei die Gegendemokratie aber auch die Kehrseite einer Krise der politischen Repräsentation und des Bedeutungsverlusts der Politik gegenüber der Wirtschaftsgesellschaft. Einige dieser problematischen Seiten, die er breiter ausführt, sind:

  • Staat und vermittelnde politische Institutionen – wie etwa Parteien - verlieren an Einfluss.
  • Bei den Bürgern entsteht eine Art Konsumhaltung gegenüber der Politik. Die negative Souveränität der Gegendemokratie ähnelt der Käufermacht auf dem Markt.
  • Das Politische, verstanden als Auseinandersetzung ums Ganze, um Alternativen zum ‚status quo‘, droht sich aufzulösen.
  • Transparenz, nicht Gemeinwohl wird zur höchsten Tugend.
  • Regierung wird zur „governance“, zu einem eher technokratischen Regieren. Das Volk als zentraler Akteur oder Subjekt der Demokratie tritt mehr und mehr ab.

 

3.2. Gegendemokratie und Populismus

Rosanvallon versteht Populismus als zweifache Pathologie, der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie, aber mehr noch als Pathologie der Gegendemokratie. Populistische Bewegungen beanspruchten, das Problem der Repräsentation zu lösen, indem sie die Vorstellung eines geeinten und homogenen Volkes heraufbeschwören. Darin ähnelten sie totalitären Herrschaftsformen. Die Besonderheit des zeitgenössischen Populismus bestehe jedoch darin, die drei Formen der Gegendemokratie zu radikalisieren und zwar

  • zur zwanghaften und dauerhaften Anfeindung der Regierungsbehörden und Mandatsträger als einer radikal fremden, feindlichen Macht,
  • zu einer rein negativ bleibenden Gegenmacht, der es gar nicht mehr um positive Veränderungen gehe,
  • zu einer Übersteigerung der Vorstellung vom Volk als Richter, in der die Regierenden nur noch als lächerlich, im schlimmeren Fall als kriminell gelten. Es gehe nicht mehr um konkrete Verbesserungen, sondern nur noch um Denunziation und Bestrafung vermeintlicher Betrüger oder Parasiten.

„Populismus kann deshalb als eine Form des politischen Ausdrucks verstanden werden, bei der das demokratische Projekt von der Gegen-Demokratie vollkommen vereinnahmt und aufgezehrt worden ist. Populismus ist auf die Spitze getriebene Antipolitik“. (S. 248)

 

4. Einige Anmerkungen zur Kritik

Rosanvallon gelingt es sehr gut, die von ihm als Gegendemokratie bezeichneten Tendenzen analytisch zu differenzieren. Insgesamt erhellen seine Ausführungen wichtige Veränderungen in den repräsentativen Demokratien während der letzten Jahrzehnte. Das gilt m. E. insbesondere für die ersten beiden Formen der Gegendemokratie, das Überwachen und die Vetomacht.  Beides hat durch die sozialen Medien in einem Maß zugenommen, das Rosanvallon, als er sein Buch vor etwa 15 Jahren schrieb, noch gar nicht beobachten konnte.  Die Gelbwestenbewegung in Frankreich und Pegida in Deutschland haben zwischenzeitlich jedoch bestätigt, dass er mit seiner Diagnose erstaunlich richtig lag. 

Stärker noch als von ihm beschrieben, hat offensichtlich im Netz eine Rhetorik der Herabsetzung und des Hasses um sich gegriffen, die manche der positiven Seiten von Rosanvallons Gegendemokratie in den Hintergrund treten lässt. Was er anspricht, aber nicht vertieft, ist die Affinität gegendemokratischer Aktivitäten zu verschwörungstheoretischen Weltbildern. Die derzeitige Corona-Krise bietet dazu reichhaltiges Anschauungsmaterial.  

Seine Perspektive ist stark durch die Entwicklungen in Frankreich geprägt. Die angelsächsischen Länder nimmt er gelegentlich in den Blick, der Rest der Welt existiert kaum. In Frankreich ist die Auflösung der Parteien bekanntlich weit vorangeschritten und radikale Gegenbewegungen haben eine sehr lange Tradition. Insofern wäre meines Erachtens zu diskutieren, wie weit sein Hauptkritikpunkt an gegendemokratischen Bewegungen, das Fehlen der Bemühung um eine allgemeine Perspektive bzw. die Aufgabe jeder Gemeinwohlorientierung auch auf die Verhältnisse hierzulande zutrifft. Dagegen ließe sich anführen, dass viele Protestbewegungen, insbesondere im Umweltbereich, bereits von einem allgemeinen Anliegen ausgehen. Darüber hinaus lässt sich auch beobachten, dass im Rahmen von Gegenbewegungen, die zunächst in erster Linie auf die Verhinderung eines politisch beschlossenen Projektes zielen, Gegenvorschläge und Alternativplanungen entstehen, die nicht in Rosanvallons Bild passen. Ein Beispiel hierfür wäre der Widerstand gegen Stuttgart 21.

Daran anschließend wäre zu diskutieren, ob nicht die institutionalisierten Formen politischer Partizipation (Bürgerräte, Bürgerhaushalte u. ä.) geeignet sein können, den eigenen, ursprünglich partikulären Standpunkt zu erweitern, diesen mit anderen Interessen und Meinungen positiv zu verbinden, um dadurch den gegendemokratischen Tendenzen auch eine konstruktive Richtung zu geben.

Schließlich scheint mir Rosanvallon mit seiner Krisendiagnose für die repräsentative Demokratie eventuell zu vorschnell. Vielleicht sind wir nicht am Ende der Parteiendemokratie, sondern in einer Phase ihrer Neuformierung, an deren Ende ein etwas anderes, aber doch weiterhin integrationsfähiges System der politischen Vermittlung zwischen Partikularinteressen und Allgemeinwohl stehen könnte.   

 

3. Diskussionsbeiträge

  • Sieht Rosanvallon Möglichkeiten, wie es mit der Bürgerbeteiligung weitergehen kann? Dazu entwickelt er keine positive Perspektive. Vielmehr bleibt das demokratische Potential der Postdemokratie stark negativ und ist nicht auf gesamtgesellschaftliche Alternativen gerichtet. In anderen Veröffentlichungen zeigt er, Demokratie ist vielgestaltiger. Er nennt darin durchaus andere Formen der Demokratie, hat sich aufgrund der Situation in Frankreich aber nicht so intensiv mit den Formen der Bürgerbeteiligung auseinandergesetzt.
  • Bietet das föderale System in Deutschland, im Unterschied zur eher zentralistisch gesteuerten Politik in Frankreich, eher Voraussetzungen und Möglichkeiten zur Bürgerbeteiligung hinsichtlich des Mitgestaltens und der Bildung von Vertrauensstrukturen? Insbesondere die kommunale Selbstverwaltung bietet gute Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung, wenn es z. B. um konkrete Projekte geht, z. B. Bürgerräte oder Bürgerhaushalte zeigen, wo Bürger durchaus positive Gegenvorschläge einbringen. Allerdings haben Parteien auch in Deutschland Legitimationsprobleme oder Bürger wehren sich aktiv dagegen, wenn vor der eigenen Tür etwas entstehen soll, was möglicherweise die Lebensqualität betrifft.  
  • Problematisch wird die von Rosavanllon vorgenommene Aufteilung in positive und negative Protestformen gesehen. Mit Verweis auf Protestbewegungen in Deutschland, beginnend in den 80er Jahren, wird erkennbar, daraus sind durchaus zukunftsfähige Mobilisierungsprojekte herausgewachsen, z. B. die Friedensbewegung (zunächst als Protest gegen den NATO-Doppelbeschluss) oder die Umweltbewegung. Die Frage ist also, wer hat die Deutungshoheit darüber, eine Protestbewegung als positiv oder negativ zu bewerten? Mit Bezug auf Rosanvallon führt das Gegensatzpaar positiv/negativ etwas in die Irre. Er bewertet solche Initiativen der Gegendemokratie nicht einfach als schlecht. Allerdings entwickelte die sog. Verhinderungsdemokratie, wie z. B. die Arbeiterbewegung keine gesamtgesellschaftliche Perspektive. Auch gibt es zwischen den Parteien keine grundlegenden Auseinandersetzungen mehr über gesellschaftspolitische Entwürfe. Entgegen der Feststellung von Rosavanllon gibt es dennoch Beispiele dafür, dass Protestbewegungen, die sich zunächst auf das Verhindern eines Projektes konzentrierten, im Laufe der Jahre imstande waren, konstruktive gesamtgesellschaftliche Alternativvorstellungen zu entwickeln, z. B. Stuttgart 21, Arbeiterbewegung oder GRÜNE.
  • In den Regierungen wisse man durchaus, was die Bürger wollen. Bei Entscheidungen zeigt sich aber, wie diese von der Wirtschaft beeinflusst sind. Das erzeugt bei den Bürgern den Eindruck, wir können doch nichts beeinflussen. Zudem gibt es die bis in die 90er Jahre wirksamen Gegensätze Ost/West nicht mehr und zu etwas wirklich Neuem fehlen die Voraussetzungen.
  • In den 60er und 70er Jahre wollte die Studentenbewegung den großen gesellschaftlichen Wurf machen, die geforderte Politisierung ist aber kaum über die Studentenschaft hinausgegangen. Erst Friedens- und Umweltbewegungen brachten den Durchbruch für neue Initiativen und Prozesse.
  • Rosavanllon kommt aus der sozialistischen Bewegung. Das ist der Grund, dass es den großen Wurf einer reformistischen Alternative nicht gibt. Seiner Meinung nach trägt die Entideologisierung mit zur Entwicklung der Gegendemokratie bei. Eine Verselbständigung der Repräsentanten gegenüber den Bürgern bzw. Wählern ist in den letzten Jahren in allen Ländern entstanden. Dies führt dazu, dass sich viele Bürger mit ihren Repräsentanten in den Parlamenten weniger identifizieren. Zudem haben die sozio-kulturellen Milieus an Bedeutung verloren, so auch in Rottenburg, einer früher eher katholisch und parteipolitisch von der CDU geprägten Stadt. Dagegen gibt es aufgrund der Zuzüge aus anderen Regionen Deutschlands und dem Ausland eine Vielfalt in der politischen Landschaft sowie an Religionen, Nationen und Kulturen. Für eine Intensivierung der Verbindung zwischen Repräsentanten und Bürgern sind die vielfältigen Formen von Bürgerbeteiligung sinnvoll. Wenn wir nicht Verhältnisse wollen wie in Italien (Berlusconi, Salvini) oder Ungarn (Orban) und USA (Trump), brauchen wir solche Formen der Mitgestaltung. Parteien allein können diese nicht gewährleisten.
  • Die Frage ist, wo beginnt in einem politischen Prozess das ‚Misstrauen‘. Eine Demokratie lebt vom sachbezogenen Wettstreit bzw. Wettbewerb unterschiedlicher Ideen, Positionen und Konzepten. Von daher muss nicht jede inhaltliche Auseinandersetzung von vornherein vom ‚Misstrauen‘ geprägt sein. ‚Misstrauen‘ entsteht dann, wenn es zu wenig Transparenz gibt, Versprechen und Zusagen nicht eingehalten oder wichtige Informationen zurückgehalten werden. Ein Beispiel dafür bietet die Auseinandersetzung um das Gewerbegebiet ‚Herdweg‘ in Rottenburg 2018, die am Ende in einen Bürgerentscheid mündete. Das Ergebnis war eindeutig: Die Bürger haben die Position von Gemeinderat und Stadtverwaltung für das Gewerbegebiet mit über 70% abgelehnt, ein Votum des Misstrauens gegenüber den Repräsentanten der Stadt. Ein Grund für die Ablehnung ist darin zu sehen, dass den Bürgern vorab nicht überzeugend dargelegt werden konnte, weshalb dieses Gelände als Gewerbegebiet in Frage kommen soll, nachdem dieses in Verbindung mit dem Stadtentwicklungsplan 2020 (verabschiedet 2009) insbesondere aus ökologischen Gründen nicht näher in die Planung aufgenommen wurde. An diesem Sachverhalt hat sich im Laufe der Jahre nichts verändert. In der Folge dieses Bürgerentscheides zeigen die Ergebnisse der Kommunalwahl 2019 wie der Landtagswahl 2021, wie stark das Misstrauen gegenüber den beiden Volksparteien CDU (unter 30%) und SPD (etwas über 10%) in Rottenburg ausgeprägt ist.
  • Eine Gefahr wird in autoritären Systemen gesehen, z. B. China. So war z. B. immer wieder zu hören, China habe die Bewältigung der Pandemie besser hinbekommen als wir. Hier geschieht ein Vergleich politischer Systeme nach vordergründigen Effektivitätskriterien. Wir müssen uns klarer machen, in einer Demokratie ist es normal, sich um Grundsätzliches zu streiten, auch um Alternativen und das braucht Zeit. Man hat den Eindruck, dass zu wenig Auseinandersetzung in politischer Programmatik stattfindet und Politik wie wirtschaftliches Management verstanden wird. Mit solch einem Verhalten stärken wir autoritäre Systeme.
  • Ein Berufsschullehrer berichtet, viele Schüler lesen kaum noch Zeitung und driften in eine Konsumhaltung ab. So entsteht eine zunehmend unpolitische Gesellschaft.
  • ‚Misstrauen‘ gehört zur Demokratie. Wir müssen kontrollieren, was Mandatsträger im Einzelnen machen. Es gibt aber zuweilen eine pathologische Steigerung, indem man Politik generell als kriminell abtut. Die Auseinandersetzung um das Gewerbegebiet ‚Herdweg‘ ist ein gutes Beispiel, wie Misstrauen und Frustrationseffekte entstehen, wenn man sich über frühere Entscheidungen hinwegsetzt. Bürgerentscheide bieten aber die Chance, dass Bürger das Gefühl bekommen, noch gehört und ernst genommen zu werden.
  • Es wird eine Ambivalenz gesehen im ‚Misstrauen‘ gegenüber Politik und politischen Verfahren und dem damit verbundenen Vorbehalt, was machen die da oben. Aus dieser Spannung heraus könnte Demokratie handlungsunfähig werden, vgl. Anfangsphase der Pandemie, da lag die CDU aufgrund der klaren Positionen und des schnellen Handelns ohne Berücksichtigung von Gruppeninteressen in Umfragen bei 40%, später dann erhebliche niedrigere Umfragewerte aufgrund unklarer Positionen und Streitigkeiten um Personen. Beim ersten Lockdown hat die Regierung aus der Notwendigkeit heraus gehandelt, während beim nächsten Lockdown erkennbar wurde, wie Wirtschaft und Interessenverbände die Entscheidungen der Politik zu beeinflussen suchten.

 

4. Abschluss (Wolfgang Hesse)

Abschließend dankt Wolfgang Hesse als Moderator Winfried Thaa für den Impuls sowie den Teilnehmenden für ihre interessanten Beiträge und verbindet damit die Hoffnung, bald wieder in Präsenz tagen zu können.

 

 Rottenburg, 18.05.2021

Karl Schneiderhan

 

[1] US-amerikanisches Verfassungsprinzip, das verlangt, dass überall da, wo politische oder andere Machtpotenziale entstehen und Macht ausgeübt wird, die Möglichkeit zur Bildung und zur Ausübung von Gegenmacht vorhanden sein muss. Das Prinzip der ‚Checks and Balances‘ zielt damit auf den Ausgleich unterschiedlicher Interessen, unterstützt die Tendenz zum Gleichgewicht und zur gesellschaftspolitischen Stabilität.

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