28.01.2020: Ist alles verfügbar? - Gedanken zur Krise in unserer Gesellschaft
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Buchhinweis: Hartmut Rosa, Unverfügbarkeit, Residenz-Verlag, Wien und Salzburg 2019, 130 S., 19,00 €.
Begrüßung
Karl Schneiderhan begrüßt die Teilnehmer/innen und dankt ihnen für ihr Interesse am heutigen Thema, das offenbar auf eine gute Resonanz stößt. Er informiert über den Autor Hartmut Rosa, der aktuell zu den bekanntesten und meist beachtenden Soziologen zählt und verweist auf dessen Buch „Resonanz“, das vor seinem heute zur Diskussion stehenden Buch „Unverfügbarkeit“ erschienen ist. Sein Hauptanliegen ist das Verstehen gesellschaftlicher Verhältnisse und eine veränderte Beziehung zur Welt.
Impuls von Herbert Seidler-Dehn
Der Begriff „Unverfügbarkeit“ geht auf den Theologen Rudolf Bultmann zurück, der diesen in den dreißiger Jahren in die Diskussion eingebracht hat. Damit meinte er die Unverfügbarkeit des Menschen über sich selbst bzw. das, was nicht in unserer Macht steht, wobei das Wort „verfügen“ hierbei für „beherrschen“ steht.
Aspekte der Moderne:
- Die Welt verfügbar, nutzbar machen
- Unverfügbarkeit muss überwunden werden, sie wird immer weniger akzeptiert
- Es herrscht ein schrankenloses Steigerungsspiel
- Verschleiß / Unruhe überall
- Das "gute Leben" wird angestrebt (wir wollen "viel Welt" haben)
These: Die Welt ist zum Aggressionspunkt geworden. Unser Verhältnis zur Welt ist aggressiv.
Alles muss gewusst, beherrscht, erobert, nutzbar gemacht werden. Heute: Unruhe I Hektik / Stress / Überforderung / To-do- Zeitgeist / Listen abarbeiten / Steigerungsimperativ
Weitreichweitenvergrößerung als Ziel.
Die Unverfügbarkeit gehört aber auch zum Leben. Kulturelle Veränderung: Vom Fortschrittsoptimismus zur Fortschrittskepsis.
Lebensgefühl heute
- Die Steigerung als „Drohpotential"
- (psychische) Überforderung und Erkrankungen
- Zeitgeist: Wir glauben nicht mehr an Verbesserung
- Eltern wollen "nur noch halten"
- Fortschrittsskepsis
4 Momente des Verfügbarmachens:
- sichtbar machen (Licht erhellt, Mikroskope, Teleskope)
- erreichbar machen (durch Verkehrsmittel)
- beherrschbar machen (alles unter Kontrolle bringen)
- nutzbar machen (was da und gegenwärtig ist wird instrumentalisiert)
Wir Menschen sind Resonanzwesen, d.h.: Wir stehen mit der Welt taktil, emotional, denkend im Austausch. Wir leben im Beziehungsmodus.
4 Merkmale des Beziehungsmodus:
- Affizierung (Moment der Berührung)
- Selbstwirksamkeit (wir antworten)
- Anverwandlung (Transformation)
- Unverfügbarkeit (Resonanz als Geschenk, sie ist nicht machbar)
Resonanzbegehren und Verfügbarkeitsverlangen
Resonanz hat zwei Seiten:
- Ich muss sie zulassen, mich ansprechen lassen
- Etwas bleibt immer unverfügbar
6 Felder des Verfügbarmachens:
- des Lebens (Entscheidung nach einer Pränataldiagnostik: Leben oder Tod?)
- der Schwangerschaft (Sozial Freezing, Hormonbehandlung etc.)
- der Geburt (Kaiserschnitt, Zeitpunkt aussuchen)
- der Entwicklung (Kindervorsorge, Früherkennung, Verzögerungen, Auffälligkeiten)
- der Bildungsprozesse (Prozesse messbar, vergleichbar, steuerbar machen, Kompetenzen statt Bildung
- der Biographie (Studien- und Berufswunsch, Karriereplanung usw.)
Resonanz ist Widerfahrnis, sie ist nicht machbar.
Versuche des Verfügbarmachens:
- Tourismus (Billigflüge nach Thailand ...)
- Anti-Aging- Bewegung
- Krankheiten abschaffen (weg damit!)
- Altenbetreuung (messen, dokumentieren, optimieren ...)
- das Lebensende (Patientenverfügung, Generalvollmacht, Testament)
- den Tod überwinden (Transhumanismus)
Erkenntnis: Alles soziale Leben ist unverfügbar!
Die kapitalistische (Steigerungs-)Logik: Unverfügbarkeiten kaufen!?
- Sonne im Süden
- die Musikveranstaltung
- das Naturerleben
- Gesundheit
Teilnehmerbeiträge aus der Diskussion
- Zu Beginn verweist ein Teilnehmer auf die ARD-Sendung „Die Erde aus dem All“, in der aus der Perspektive des Weltraums gezeigt wurde, wie sich z. B. Flüsse, Landschaften oder Wälder im Laufe der Zeit verändern. Aus dieser Sicht kann man den Thesen von Rosa nur zustimmen.
- Herr Seidler-Dehn schildert Rosa‘s Beispiel zur Verfügbarkeit von Schnee. Schnee ist unverfügbar, z. B. zerrinnt er, wenn man ihn in die Hand nimmt. Die Verfügbarkeit von Schnee geht (nicht nur) im Schwarzwald laufend zurück und es wird mit der Erzeugung von künstlichem Schnee gegengesteuert, um die Skitouristen nicht zu verlieren.
- Es muss deutlicher herausgearbeitet werden, was wirklich unverfügbar ist. Lässt sich das Unverfügbare gestalten? Zum Beispiel lassen sich Bildungsprozesse planen und gestalten, trotzdem ist das Ergebnis nicht vorhersehbar.
- Die Verfügbarkeit hat für den Menschen viele Vorteile gebracht. Weltweit steigt der Wohlstand, der Gesundheitszustand der Menschen verbessert sich, die Rolltreppe zeigt nach oben!
- Rosas Darstellung ist zu negativ. Die Forschung hat dem Menschen viele Fortschritte gebracht, positive Seiten der menschlichen Entwicklung werden leider nicht aufgezeigt.
- Trotzdem sind mit dem menschlichen Fortschritt – auch weltweit – Probleme verbunden. So geht z. B. die Beziehung des Menschen zur Natur verloren, der Mensch wird zum Rädchen in einer gigantischen Maschinerie. Rosa beschreibt konkrete Muster der Unverfügbarkeit und Unzufriedenheit. Er geht sogar weiter, indem er darauf hinweist, dass es notwendig ist, die Resonanzerfahrungen zu steigern.
- Rosa sieht den Fortschritt eher negativ, indem er auf Entfremdung und Resonanzverlust verweist.
- Rosa beschreibt den aktuellen Zustand in unserer Gesellschaft zutreffend, er bleibt aber bei der Beschreibung stehen. Welche Triebkräfte sind es, die uns in die von ihm beschriebenen Muster drängen? Unser Wirtschaftssystem besitzt eine immanente Steigerungslogik, die sich in weite Bereiche des persönlichen, sozialen und kulturellen Lebens überträgt. Wir müssen diese Ursachen verstehen, um besser gegensteuern zu können.
- Gewinner produzieren immer Verlierer. Es ist ein natürlicher Antrieb des Menschen, immer weiter und höher zu wollen. So ist z. B. in der Skitouristik das Erschließen immer neuer und höherliegender Skigebiete ein Ausdruck der Profitorientierung des Menschen. Können wir da auf eine Einstellungsänderung hoffen? Sieht man auf das Beispiel des brasilianischen Präsidenten Bolsenaro, muss man diese Frage eher verneinen.
- Auf der persönlichen Ebene stellt Rosa die Frage: „Was macht mich glücklich, wo erlebe ich mich authentisch?“ Das sind Grundfragen des menschlichen Lebens.
- Rosa beschreibt einen Zustand, ohne die Ursachen zu nennen. Er schlägt Resonanz als Lösung vor. Resonanz ist ein technischer Begriff, der hier nicht passt. Brecht hat zum Frieden gesagt: „Das Problem des Friedens ist, dass er nicht organisiert ist.“ Wir wollen zwar den Fortschritt, wissen aber nicht wie.
- Die Ursachen für das Streben nach immer mehr Verfügbarkeit sind systemimmanent im Kapitalismus zu finden.
- Widerspruch: Es ist nicht der Kapitalismus, sondern der Mensch strebt immer nach mehr und der besseren Lösung, und das ist nicht schlecht. Wir leben damit recht gut.
- Den „Menschen“ schlechthin gibt es nicht. Indios zum Beispiel sind nicht auf das ständige „Mehr“ gepolt.
- Der Mensch ist kein „homo oeconomicus“, er kann dem Wachstum auch Grenzen setzen.
- Ein möglicher Schalter zum Umsteuern wäre die Geburtenkontrolle. In Afrika werden zu viele Kinder geboren und die Menschen leben länger.
- Der Frieden ist nicht organisiert, aber vielleicht hilft ein Friedensgebet.
- Rosa beschreibt eine Kultur, in der die Menschen die kapitalistische Steigerungslogik verinnerlicht haben. Sind andere Erfahrungen als die Steigerungslogik möglich, wie soll Resonanz zu einer stärkeren Erfahrung werden?
- Rosa gibt drauf keine Antwort. Eine Antwort kann es nur auf individueller Ebene geben, weil der Mensch Gefahr läuft, keine Erfüllung mehr zu finden.
- Unser Streben nach Mehr ist durch unsere Kultur und durch unsere Geographie angelegt. Schon allein durch die Abfolge der Jahreszeiten sind wir gezwungen zu planen, vorzusorgen und Vorgänge zu optimieren.
- Die Zahl der Menschen wächst immer weiter an, obwohl die Geburtenrate leicht sinkt. Eine klimaschonende Alternative wäre es, weniger Fleisch zu essen und damit Tierhaltung und den CO2-Ausstoß zu reduzieren.
- Individueller Konsumverzicht wäre eine Möglichkeit. Auf der gesellschaftlichen Ebene ist Konsumverzicht aber derzeit statistisch nicht nachweisbar. Ohne Wachstum bräche unser Wirtschaftssystem zusammen.
- Rosa sieht einen Lösungsansatz in Erziehung und Bildung, die wieder mehr dem Ideal vom Humboldtschen Bildungsideal entsprechen sollte.
- Rosa kann nicht die Antriebskräfte des Menschen erklären, sondern er hat alte Themen neu aufgewärmt. Nach Aaron Antonovsky hängt die Gesundheit des Menschen wesentlich davon ab, dass wir ein größtmögliches Koheränzgefühl im Bezug zu unserer Umwelt entwickeln. Koheränzgefühl ist ein anderer Ausdruck für Resonanz. Das Koheränzgefühl umfasst Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit unserer Umwelt. Diese Faktoren hat Antonovsky als entscheidende Grundlagen menschlicher Gesundheit identifiziert. (Kurze Info dazu: siehe https://diedrei.org/files/media/hefte/2004/Heft%208-9%2004/04%20Salutogenese-Antonovsky.pdf) Aaron Antonovsky hat in seinen Untersuchungen weiterhin festgestellt, dass Gesundheit in diesem Sinne eher in einfachen Gesellschaften anzutreffen
- Karl Schneiderhan verweist abschließend auf eine These in Rosa’s Buch, wonach die Entstehung der sogenannten „Wutbürger“ und der Zusammenbruch der großen „Volksparteien“ Ausdruck einer fehlenden politischen Resonanzerfahrung seien.
- Die Maßnahmen von EZB und FED, die dem Ankurbeln der Wirtschaft dienen, sind für die Menschen kaum verständlich und wenig beeinflussbar, daher könnte man hier von fehlender Resonanz reden.
- Ein positives Beispiel bietet Frau Eisenmann von der CDU, die im Rahmen ihres Wahlkampfes auf eine „Zuhörtour“ gehen, also den Bürgern nur zuhören und keine Lösungen verkaufen will.
- Herr Seidler-Dehn weist in diesem Zusammenhang auf einen Aufsatz von Hartmut Rosa hin: „Politik ohne Resonanz - wie wir Politik wieder zum Klingen bringen“, Blätter für deutsche und Internationale Politik, Juni 2016.
Schlusswort
Herr Schneiderhan bedankt sich bei den Teilnehmenden für die anregende Diskussion und verweist – da Hartmut Rosa selbst Musikfan ist - auf eine in dessen Buch zitierte Resonanzerfahrung aus der Musik: Dem deutsch-russischen Pianisten Igor Levit erschließt sich die Mondscheinserenade von Beethoven bei jedem Spielen wieder neu, obwohl er sie schon hundertfach gespielt hat. Das bedeutet für ihn Glück.
Wolfgang Hesse, Rottenburg, 30.01.2020
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