Förderverein Stadtbibliothek Rottenburg

24.11.2025: Ende des Westens? - Kontroverse Standpunkte zur Neubestimmung der deutschen Außenpolitik

1. Begrüßung und Einführung (Karl Schneiderhan (KSch))

Herzlich Willkommen zum heutigen politischen Gesprächskreis zu einem Thema, das nicht zuletzt im Kontext der aktuellen Entwicklungen zu Friedensbemühungen im Ukrainekrieg nicht nur manche Brisanz in sich birgt, sondern vor allem Aktualität.

Wer von uns hätte zur Zeit der Wende und der darauffolgenden Jahre mit der damit verbundenen Neuordnung der Weltpolitik vorausgesagt, dass wir nach knapp 40 Jahren mit neuen, noch nie dagewesenen und nicht absehbaren Entwicklungen konfrontiert sein werden.

Was sind die Ursachen für diese Entwicklungen in der Welt? Was folgt daraus für das Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland? Was muss Deutschland jetzt tun, um nicht abgehängt zu werden, sondern innen- wie außenpolitisch als zentraler Teil der Europäischen Union Entwicklungen mitgestalten zu können?

Am Beispiel zweier viel beachteter Veröffentlichungen mit unterschiedlichen Akzentsetzungen zur Neubestimmung der deutschen Außenpolitik wollen wir uns dem Thema nähern, um auf die eher pessimistisch formulierte Fragestellung „Ist der Westen am Ende“, am Ende vielleicht noch eine zukunftsweisende Antwort zu finden. Winfried Thaa wird zum einen auf das Buch von Herfried Münkler ‚Macht im Umbruch‘ eingehen und zum zweiten auf die Veröffentlichung von Hans Maull ‚Noch Zivilmacht?‘

Hanns Maull hat durch zahlreiche Veröffentlichungen die Analyse deutscher Außenpolitik nachhaltig geprägt. Sein Argument von Deutschland als Zivilmacht bestimmt bis heute die außenpolitische Debatte. Er führte im Jahre 1990 den Begriff ‚Zivilmacht‘ ein. Diese Bezeichnung sollte als Erklärungsansatz für das neue internationale Rollenverständnis des wiedervereinigten Deutschlands dienen. Kennzeichnend dafür sei ein ausgeprägter Gestaltungswille, wonach das Land die internationalen Beziehungen mit Hilfe internationaler Institutionen und internationalem Recht gleichsam zivilisieren solle, um eine nicht-militärische Lösung von Konflikten zu fördern. In einer Rezension fand ich die aufschlussreiche Beschreibung, wonach die von Hans Maull vorgelegten Analysen und dessen Konzept der ‚Zivilmacht‘ der Realität der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik am nächsten komme.

Nach Herfried Münkler, die zweite Veröffentlichung, wird die neue Rolle Deutschlands davon abhängen, ob es dem größten Land in der Mitte Europas gelingt, seine ökonomische, politische und kulturelle Macht so einzusetzen, dass ein Auseinanderfallen Europas verhindert wird. Er analysiert neuralgische Punkte und entwirft mit einem geopolitischen Panorama eine weitsichtige Strategie für das künftige Handeln, wie sich Europa im 21. Jahrhundert im Spiel der Mächte behaupten kann. Sozusagen als Geschmacksverstärker noch Zitate aus zwei Rezensionen:

„Herfried Münkler zählt zu Deutschlands erfolgreichsten Politikerklärern. Er beschreibt in seinem klugen, kühlen und doch leidenschaftlichen neuen Buch eine aus den Fugen geratene Welt. Und er fordert nicht nur die deutsche Politik heraus.“ (Süddeutsche Zeitung)

„Herfried Münkler zeigt mit seiner scharfsinnigen Betrachtung, wie Deutschland und Europa ihre Positionen im geopolitischen Machtgefüge behaupten können und warum ein Umdenken jetzt entscheidend ist.“ (Tageszeitung)

Ich denke, beide Veröffentlichungen bieten einen inspirierenden Rahmen für eine inhaltlich interessante und spannende Diskussion.  

 

2. Impulsvortrag (Winfried Thaa (WTh))

Zur Präsentation (kann als pdf heruntergeladen werden)   

 

3. Diskussion und Austausch (Moderation: Karl Schneiderhan; Protokoll: Wolfgang Hesse)      

T: Ich habe den Eindruck, dass sich die Europa- und Weltpolitik seit der Aufklärung wieder zurückentwickelt, da die Macht der Vernunft infrage gestellt wird. Der Brexit ist ein Beispiel für eine unvernünftige Entscheidung.

T: Vielen Dank für den interessanten Vortrag. Was kann Europa schon wollen, es ist ein Anhängsel der USA und technisch rückständig, was man z.B. an der Satellitentechnik und der Software Palantir sehen kann. Dieser Rückstand wird nur schwer aufzuholen sein. 

T: Um zur Ausgangsfrage zurückzukommen: Gibt es den „Westen“ als Begriff?

WTh: Beginnen wir mit der Aufklärung. In den 1990er Jahren herrschte in Deutschland und Europa die Vorstellung, Krieg gehöre, zumindest in Europa, der Vergangenheit an. Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“, in der er fordert, Interessen einem allgemeingültigen Recht unterzuordnen, wurde gerade von deutschen Wissenschaftlern damals oft zustimmend zitiert. Und tatsächlich schien es ja, als wären die Beziehungen zwischen den Staaten nach dem Ende des Ost-West-Konflikts durch rechtliche Regelungen bestimmt. Doch ist diese Sichtweise korrekt? Heute zeigt sich, dass selbst die USA, die nach dem 2. Weltkrieg die regelbasierte internationale Ordnung geschaffen haben, diese immer wieder brachen, wenn es in ihrem Interesse lag, beispielsweise im Irakkrieg. Vor 20 bis 30 Jahren waren wir jedoch auf einem richtigen Weg. So wurde beispielsweise 1998 der Internationale Strafgerichtshof etabliert, den jedoch die USA, aber auch etwa China, Russland, die Türkei und Israel nie anerkannt haben. Inzwischen ist auch China als Großmacht erfolgreich, nicht nur in Südostasien. Ist mit dieser Rückkehr zur Machtpolitik in den internationalen Beziehungen die Aufklärung gescheitert? Das schiene mir als Konsequenz zu eindeutig. Auf jeden Fall jedoch spielen Partikularinteressen gegenüber universalen Normen heute wieder eine größere Rolle. War der Brexit unvernünftig? Die Antwort hängt davon ab, was man für vernünftig hält. Zwar wurde durch den Brexit das Wirtschaftswachstum in GB reduziert, die Befürworter würden jedoch argumentieren, dass Großbritannien dafür nun aber selbst ohne Rücksicht auf die EU entscheiden kann.

Ist Europa ein Anhängsel der USA? Auch das scheint mir nicht so eindeutig. Die USA hatten nach dem Zweiten Weltkrieg eine hegemoniale Stellung, nutzten sie jedoch, um eine demokratische, regelbasierte Ordnung in Europa zu schaffen. Sicherlich auch aus Eigeninteresse. Aber das ist doch etwas anderes als die offene Drohung mit Gewalt zur Durchsetzung von Interessen. Allerdings steht diese Ordnung für die USA nun wegen der aktuellen ökonomischen Konkurrenz durch China und Europa infrage. Die USA profitierten vor dem Aufstieg von China als Exportnation selbst von niedrigen Zöllen. Jetzt sieht es eher nach einem Wechsel von der regelbasierten Ordnung zur Drohung mit Gewalt aus.

Fehlen uns technische Möglichkeiten? Ich denke nicht grundsätzlich. Das Problem ist vielmehr eine Kurzsichtigkeit der Politik. In Europa spielt strategisches Denken eine zu geringe Rolle. Wir hatten beispielsweise eine gut aufgestellte Photovoltaik-Industrie, die China mit staatlich subventionierten Dumpingangeboten ruiniert hat. Die EU wollte dagegen vorgehen, wurde dabei aber von Deutschland ausgebremst, da Deutschland um die Exportchancen seiner Autoindustrie nach China fürchtete. Für die EU ist es sehr schwierig, strategisch zu denken und zu handeln, denn jedes Land vertritt seine spezifischen Interessen.

T: In den 90iger Jahren wurde vom Ende der Geschichte geredet. Im Vortrag spielte der 11.09.2021 eine zu geringe Rolle, weil der 11.09. zeigte, dass sich mit religiös motivierten Morden eine für Militärstrategen völlig neue Front eröffnete. 

T: Bei den beiden vorgestellten Autoren fehlt der Blick nach Afrika, wo man z.B. die Rolle von China viel stärker in den Fokus stellen müsste. 

T: Man muss heute die strategischen Ziele Chinas, aber auch Indiens mehr beachten.

WTh: Ist die Geschichte wirklich zu Ende? Die Vorstellung, dass die moderne Marktwirtschaft automatisch zu mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit führt, trifft nicht zu. China hat ein alternatives Modell präsentiert, das sich so niemand vorstellen konnte. Denn es ist einem undemokratischen Einparteiensystem ein beispielloser wirtschaftlicher Aufstieg gelungen, der Wohlstand und Zustimmung produziert hat.

11.09.? Hier waren nicht nur die Ereignisse selbst, sondern eher noch die Reaktionen darauf das Problem: Die USA unter George W. Bush gaben die Selbstbindung an liberale Werte und das Völkerrecht auf. Das hatte schlimmere Folgen als der Terrorakt selbst.

Münkler thematisiert Afrika in seinem Buch bisweilen, sieht es jedoch eher als ein Einflussgebiet für die EU.

T: Das Kernproblem ist, dass der Kapitalismus unter Druck und bei wirtschaftlichen Problemen in den Faschismus kippt. Wir in Deutschland sollten eine gemeinnützige Postwachstumsökonomie vorleben. 

T: Hat Europa mit seinem demokratischen und pluralistischen System überhaupt eine Chance gegen wirtschaftlich und sozial erfolgreiche Imperien? 

T: Nach Jürgen Habermas kann braucht es den Kapitalismus, um Demokratie zu ermöglichen.

WTh: Wird der Kapitalismus in Bedrängnis zum Faschismus? Dafür gibt es historische Gegenbeispiele in der Zwischenkriegszeit. Zudem wäre auch zwischen verschiedenen „Kapitalismen“ zu differenzieren.  Die skandinavischen Modelle, die verschiedenen europäischen Modelle und der angelsächsische liberale Kapitalismus unterscheiden sich erheblich und bieten unterschiedliche Chancen für eine soziale und ökologische Politik.

Dass Kapitalismus eine Voraussetzung für Demokratie ist, würde ich so nicht sehen. Individualrechte, und dazu gehört wohl auch Eigentum, müssen allerdings in einer Demokratie gesichert sein.

Hat Europa eine Chance? Münkler verneint dies eher aufgrund der Vielstimmigkeit Europas. Maull verweist hingegen auf die Strahlkraft des liberalen Modells nach außen. Europa muss jedoch zu mehr Handlungsfähigkeit finden.

KSch: Mit Blick auf den aktuellen Friedensplan von Trump für die Ukraine: Können Deutschland und Europa dabei mitspielen? 

T: Es ist schwierig, die Launen von Trump einzuschätzen, Trump und Putin wurden aber unterschätzt. 

T: Diplomatie kann vieles leisten, vielleicht kann sie auch in diesem Fall was bewirken. 

T: Immerhin hat Trump etwas Bewegung in die Sache gebracht. Die europäische Ukraine-Politik führt eher in eine Sackgasse. Bei allen Vorbehalten, die man gegen Trump hat, muss man abwarten, was passiert. 

WTh: Trumps Papier ist eine Kapitulationserklärung der Ukraine, es bleibt abzuwarten, ob sich daran etwas verbessert. Die EU kann da kaum eingreifen, auch die deutsche Politik kann daran wenig ändern. 

T: Vielleicht kann die Intervention der Europäer doch etwas Bewegung in die Sache bringen. 

 

4. Abschluss 

Karl Schneiderhan bedankt sich für die umfassende Präsentation, für die lebhafte Diskussion und verweist auf den nächsten Gesprächskreis der wegen Weihnachten schon am 15.12. mit dem Thema „Soziale Marktwirtschaft stattfindet. Impulsgeber und Diskussionspartner wird der Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Adolf Wagner aus Rottenburg sein.

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