Förderverein Stadtbibliothek Rottenburg

21.02.2022: Afghanistan-Debakel und Ukraine-Krise in einer sich verändernden Weltordnung

1. Einführung (Winfried Thaa)

Bei der Planung dieses Themas konnten wir nicht ahnen, welche Aktualität dieses gewinnen würde. Nach dem Afghanistandesaster des letzten Sommers über diesen Militäreinsatz hielten wir es für wichtig, die daraus zu ziehenden Lehren für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik zu diskutieren.

Mit der jüngsten Zuspitzung im Konflikt um die Westorientierung der Ukraine und die russischen Truppenkonzentrationen an der Grenze zeigt sich in aller Dramatik, die Fragen nach dem Charakter der internationalen Ordnung und den Grundorientierungen der deutschen Außenpolitik können nicht mehr auf die lange Bank geschoben werden. Kaum im Amt, ist die neue Regierungskoalition gefordert, Stellung zu beziehen und ihre außenpolitische Strategie zwischen Westbindung und wirtschaftspolitischer Kooperation mit Russland, zwischen Bündnistreue zur Nato und dem Bestreben nach einer Entspannung im Ost-West-Verhältnis neu zu bestimmen. Dass dies nicht reibungslos gelungen und vermutlich auch noch nicht abgeschlossen ist, wurde nicht zuletzt am anhaltenden Schweigen des Bundeskanzlers zu Nord Stream 2 und der daraus folgenden Verärgerung in Washington und Osteuropa deutlich.

Grundsätzlicher stellt sich mit der Niederlage des Westens in Afghanistan und der unter Putin erneuerten Großmachtpolitik Russlands die Frage, ob  die Grundorientierungen der deutschen Außenpolitik nach 1990 noch Bestand haben. Trotz unterschiedlicher Akzentsetzungen waren sich die Parteien grundsätzlich darin einig, im Ende des kalten Krieges eine Chance zu umfassender Abrüstung, zur Stärkung der Vereinten Nationen und zur Errichtung einer auf Recht basierten internationalen Ordnung zu sehen, mit der umfassende globale Zusammenarbeit ermöglicht und die militärisch gestützte Machtpolitik souveräner Nationalstaaten zunehmend in den Hintergrund treten sollten. Auch der aktuelle Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP schreibt diese Orientierung fort.

Die reale Entwicklung der letzten Jahre folgte allerdings nicht diesen (Wunsch) Vorstellungen. So kehrten die USA unter Trump offen zu einer, an nationaler Machtentfaltung und Eigeninteresse orientierten Politik zurück, mit China wird eine neue imperiale Macht von Jahr zu Jahr stärker und Putin schließlich strafte alle diejenigen Lügen, die, wie bereits Obama, in Russland nur noch eine Regionalmacht sehen wollten. Für die Mittelmacht Deutschland und die EU stellt sich die Frage, wie sie in dieser Konstellation ihre Interessen und Werte sichern können.

 

2.   Impuls (Wolfgang Hesse)

Mit dem heutigen Gesprächskreis wollen wir dazu beitragen, aktuelle Veränderungen in der Weltordnung hinsichtlich der Außen- und Sicherheitspolitik zu verstehen, insbesondere die Hintergründe des Scheiterns der Afghanistan-Mission und der Ukraine-Krise. Wir beziehen uns dabei auf die Veröffentlichung „Eine Weltordnung ohne Hüter: Afghanistan als globale Zäsur“ des Politikwissenschaftlers Herfried Münkler (Jg. 1951, Politikwissenschaftler) und untersuchen, inwieweit Münklers Analyse des aktuellen Weltgeschehens hilft, das Scheitern des Westens in Afghanistan und die Hintergründe der Ukraine-Krise zu verstehen. Angefügt sind Informationen zur Afghanistan-Mission und zur Nato-Russland-Akte mit Landkarten, welche die Veränderungen der Einflusssphären in Europa seit den 1980iger Jahren zeigen. Als Anlage ist zudem ein Ausschnitt eines Interviews aus der NZZ zur Ukraine-Krise mit H. Münkler beigefügt. 

 

1. Eine Weltordnung ohne Hüter: Afghanistan als globale Zäsur

Quelle: Herfried Münkler, Blätter für deutsche und internationale Politik, 10/2021

  1. Schon der Vietnamkrieg der USA hatte gezeigt, eine auf Niederwerfung des Gegners ausgerichtete Militärstrategie kann nicht zum Erfolg führen, solange der Gegner auf Zermürbung setzt. Also mussten sich die USA aus dem Vietnamkrieg zurückziehen, sich umorientieren und politische Bündnisse und Einflussgebiete neu austarieren. Militärische Rückzüge können sich so als Startpunkt neuer politischer Entwicklungen erweisen.

Der kühlkalkulierte Rückzug

  1. Beim Rückzug aus Afghanistan wollte die US-Regierung ihren Bürgern zeigen, dass diesmal alles geordnet und geplant abläuft, um auf keinen Fall Erinnerungen an das vietnamesische Trauma aufkommen zu lassen.
  2. Die geopolitischen Konstellationen in Zentralasien haben sich durch den Rückzug der Militärs zu Ungunsten des Westens verschoben. Die Stellung von Russland und China wird voraussichtlich in der Region gestärkt, was der US-Administration bei ihrer Entscheidung für den Rückzug klar gewesen sein musste.

Das Ende der imperialen Überdehnung?

  1. In der Geschichte von Großmächten ist es immer wieder dann zu Rückzügen aus Situationen „imperialer Überdehnung“ gekommen, wenn die Kosten ein besetztes Territorium zu halten den Nutzen der Besetzung überstiegen. Offenbar spielten solche Überlegungen beim Rückzug aus Afghanistan - besonders bei Trump - eine zentrale Rolle.
  2. Während die USA ihren Rückzug aus Afghanistan als das Beenden einer „Overstrech-Konstallation“ verkaufen konnten, war dieser für Deutschland ein bloßes Scheitern.
  3. Mit dem Rückzug aus Afghanistan war im Westen die Hoffnung verbunden, dass in Afghanistan damit die unmittelbaren Konfrontationen beendet werden könnten, was wahrscheinlich auch in den Verhandlungen der USA mit den Taliban eine Rolle gespielt hat.
  4. Das Scheitern des Westens bei der angestrebten Transformation der afghanischen Gesellschaft führte zu einer Beeinträchtigung des Vertrauens der Bündnispartner in die Zuverlässigkeit der USA und ihrer Schutzversprechen. Der Rückzug des Westens markiert das Ende einer auf Werten und Normen aufbauenden Weltordnungsvorstellung.

Weltordnungen mit und ohne Hüter

  1. Die europäische Geschichte kennt drei maßgebliche Phasen von „Weltordnungen“: Die Phase der lateinischen Christenheit mit Kaiser und Papst, die Westfälische Ordnung mit von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg und schließlich die von den Siegermächten des Ersten Weltkrieges installierte globale Ordnung.
  2. Nach dem 2. Weltkrieg etablierten sich die USA und die Sowjetunion als die Hüter der Ordnung und leisteten den größten Beitrag zu Fortbestand und Stabilität dieser Ordnung. Die durch die Bi-Polarität des Ost-West- Konfliktes hergestellte Clubsituation war für diese Hüter der Ordnung eine überaus günstige Konstellation, da sie jeweils eine Reihe von Verbündeten um sich scharen konnten. Die Bündnispartner der beiden Clubs hatten sich eindeutig zu ihrer Mitgliedschaft bekennen, und mussten, um in den Genuss der Clubleistungen – in erster Linie Sicherheit – zu kommen, dafür festgelegte Beiträge leisten.
  3. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Warschauer Paktes glaubten die USA die Rolle des alleinigen Ordnungshüters in der Welt übernehmen zu müssen und ihr Normen- und Wertesystem zur Grundlage einer neuen Weltordnung machen zu können.

Souveränität als Zentralbegriff

  1. China und Russland haben sich durch ihr Bestehen auf Souveränität dem (amerikanischen) Hüter der neuen Ordnung entgegengestellt. Insofern ist „Souveränität“ der zentrale Begriff einer „Ordnung ohne Hüter“. Trotzdem wurde seitens der USA weiter der Versuch unternommen die neue Weltordnung nach ihrem Wertesystem durchzusetzen.
  2. Afghanistan sollte –nach Zerschlagung der dortigen Al-Quaida-Basen - so zu einem Meilenstein bei dem Versuch einer fortschreitendenden Realisierung der neuen Weltordnung werden. Dafür lud man das Afghanistan-Engagement auf mit dem Anspruch, das Land von einer traditionellen in eine moderne, demokratische Gesellschaft westlicher Prägung zu transformieren.
  3. Von diesem Vorgehen erhoffte man sich Ausstrahlungseffekte nach China, Russland und andere Länder in Zentralasien. Außerdem sollte die kriminelle Ökonomie des Opiumanbaus zurückgedrängt werden. Dabei erhoffte man sich Unterstützung durch dortige Bevölkerungsgruppen.
  4. Die amerikanische Rückzugsentscheidung aus Afghanistan ist der vorläufige Endpunkt einer Reihe von Entscheidungen, die auf den Abschied von der Rolle des Hüters der globalen Ordnung hinauslaufen. Hier sind zu nennen: Der Abzug aus dem Irak, ohne dass eine politische Stabilisierung des Landes erreicht worden wäre; der Beschluss, in Libyen nur mit der Luftwaffe einzugreifen; und die Begrenzung des amerikanischen Einsatzes in Syrien.
  5. Hatte man in Amerika noch gehofft, der arabische Frühling könne helfen, die arabische Welt an die westliche Werte anzuschließen, so ließen die Wiederkehr arabischer Diktatoren und das Versinken von Teilen der arabischen Welt im Bürgerkrieg auch diese Hoffnung schnell platzen. Man hatte es mit Intervention und ohne Intervention versucht, aber man war nicht weiter gekommen bei der globalen Durchsetzung einer wertefundierten und normgesteuerten Weltordnung.

Von Obama bis Biden: Amerikas Verabschiedung aus der Hüter-Rolle

  1. Man kann die Verabschiedung der USA aus der Hüter-Rolle von Obama bis Biden Schritt für Schritt verfolgen. Im Ergebnis befinden wir uns heute in einer Weltordnung, die zwar auf einen Hüter angewiesen ist, aber keinen mehr hat. Bezeichnenderweise hat US-Präsident Biden als einziger westlicher Politiker der Idee des Nation Buildings eine endgültige Absage erteilt.
  2. Die Werte- und Normorientierung des Westens wird – auch von der Bevölkerung im Westen - zunehmend als Belastung der Außen- und Sicherheitspolitik angesehen und läuft Gefahr, deshalb in den Hintergrund gedrängt zu werden. Dies besonders dann, wenn sie mit Geld erkauft werden soll.

Die großen Fünf – die neue Pentarchie der Ordnungsgaranten

  1. Kriege nach herkömmlichem Muster zwischen den großen Akteuren würden zu untragbaren Verwüstungen führen. In hybriden Kriegen, Cyberattacken und Wirtschaftskriegen wird es aber nach wie vor darum gehen, einen eigenen politischen Willen zu artikulieren und diesem auch Geltung verschaffen zu können.
  2. Es könnte die Gruppe der großen Fünf (USA, China, Russland, EU und Indien) sein, die im Sinne einer Pentarchie als Ordnungsgaranten auftreten. Diese fünf haben zwar ihre eigenen Werte und Normen, sind aber nicht mehr bestrebt, diese um jeden Preis zu globalisieren.
  3. An die Stelle des Denkens in Kategorien der Globalität wird in dieser neuen Weltordnung ohne Hüter ein Denken und Handeln in Einflusszonen treten – mit gewissen auch Globalität beanspruchenden Verbindungen und Kooperationen, von denen nicht zuletzt die Frage von Krieg und Frieden abhängen wird.

 

2. Afghanistan-Mission

Bilanz nach 20 Jahren

Fast genau zwei Jahrzehnte dauerten die Einsätze von UN bzw. NATO und den USA in Afghanistan an. Rund 3.600 Soldaten und Soldatinnen der westlichen Allianz ließen bis 2020 bei diesen Einsätzen ihr Leben, bei den zivilen Opfern lag die Anzahl der bei Kampfhandlungen Getöteten in Afghanistan zwischen 2010 und 2020 bei über 36.000. Auch die Bundeswehr beteiligte sich seit 2001 an den Missionen in Afghanistan. Die USA entsendeten zeitweise mehr als 110.000 Soldaten, zuletzt waren noch fast 9.600 Soldaten aus 36 Nationen Teil der Operation Resolute Support. Mit 1.300 Soldaten und Soldatinnen stellte Deutschland nach den USA die zweitgrößte Truppenstärke.

Kosten

ZDF (05.10.2021): Der 20 Jahre dauernde Einsatz deutscher Soldaten und Entwicklungshelfer in Afghanistan hat nach Angaben der Bundesregierung mehr als 17,3 Milliarden Euro gekostet. Den weitaus größten Posten machte dabei das Militär aus.

Die Bundesregierung stuft es als Verschlusssache ein, welche mit deutschem Geld aufgebaute Infrastruktur nun von den Taliban genutzt wird. "Eine zur Veröffentlichung bestimmte Antwort der Bundesregierung auf diese Frage würde Informationen zum Modus Operandi, zu den Fähigkeiten und Methoden sowie zur Erkenntnislage des Bundesnachrichtendienstes einem nicht eingrenzbaren Personenkreis nicht nur im Inland, sondern auch im Ausland zugänglich machen", heißt es dazu.

Die Süddeutsche Zeitung berichtete am 8. Juli 2021 über die amerikanischen Kriegskosten: "Das Pentagon hat für den Krieg 825 Milliarden Dollar ausgegeben. Zusammen mit der zivilen Hilfe, die in das Land geflossen ist, liegen die Kosten des Krieges weit über zwei Billionen Dollar." Da erscheinen deutsche Kriegskosten von 17,3 Milliarden Euro noch erstaunlich günstig...

Aufarbeitung

Alexander Müller (FDP) stellte fest: „Die Bundesregierung scheine an einer Aufarbeitung hingegen nicht interessiert zu sein. So hat zum Beispiel das Einsatzführungskommando die Daten zu Projekten der zivil-militärischen Zusammenarbeit vor dem Jahr 2015 vernichtet. Wie soll dieser wichtige Teil unseres Engagements ohne diese Datengrundlage ganzheitlich evaluiert werden?"

 

3. Nato-Russland-Akte: Am 27. Mai 1997 in Paris unterzeichnete völkerrechtliche Absichtserklärung zwischen der NATO und Russland.

Wikipedia: Die NATO-Russland-Grundakte erkennt die Veränderungen seit dem Ende des Kalten Kriegs an und strebt ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis an, um einen gemeinsamen Sicherheits- und Stabilitätsraum zu schaffen. Grundsätze, auf die man sich geeinigt hatte, waren:

„Verzicht auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegeneinander oder gegen irgendeinen anderen Staat, seine Souveränität, territoriale Unversehrtheit oder politische Unabhängigkeit“ sowie „Achtung der Souveränität, Unabhängigkeit und territorialen Unversehrtheit aller Staaten sowie ihres naturgegebenen Rechtes, die Mittel zur Gewährleistung ihrer eigenen Sicherheit sowie der Unverletzlichkeit von Grenzen und des Selbstbestimmungsrechts der Völker selbst zu wählen“. Politische Ziele wie die Schaffung freier Marktwirtschaften und den Schutz derer sowie der Mitwirkung an Konfliktverhütungen durch die Vertragsparteien unter dem Dach und der Verantwortung des UNO-Sicherheitsrates.

Zur Erreichung dieser Ziele wurde der NATO-Russland-Rat geschaffen, in dem die Beteiligten in direkter Verbindung stehen und sich gegenseitig sowohl regelmäßig in Routineangelegenheiten als auch bei Bedarf im Fall von Spannungen konsultieren.

Der Dritte Teil der Akte handelt von gemeinsamem Engagement in einer Vielzahl von Feldern, darunter Rüstungskontrolle, gemeinsame Friedensoperationen, sowie der Kampf gegen Rauschgift. Dazu sollen auch bestehende Organisationen wie die Vereinten Nationen und die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa genutzt werden. Diese werden ausdrücklich nicht in ihren Tätigkeitsfeldern durch den neuen Vertrag eingeschränkt.

Im Bereich der direkten politisch-militärischen Angelegenheiten ist der Verzicht auf die Stationierung von Atomwaffen in den neuen Mitgliedsstaaten der NATO in Mittel- und Osteuropa enthalten. Abhängig von der Sicherheitslage begrenzt der Vertrag die Stationierung von Truppen in den neuen NATO-Mitgliedsstaaten, wobei eine Truppenaufstockung nicht grundsätzlich ausgeschlossen wird. „In diesem Zusammenhang können, falls erforderlich, Verstärkungen erfolgen für den Fall der Verteidigung gegen eine Aggressionsdrohung und für Missionen zur Stützung des Friedens“.

 

4. Deutschland muss Sonderweg verlassen

Aus einem „Aufruf von Osteuropa- und Sicherheitsexperten vom 14.1.2022“ auf ZEIT-ONLINE: Die Russlandpolitik der Bundesrepublik muss grundlegend korrigiert werden. Weitere lediglich verbale oder symbolische Reaktionen Berlins auf russische revisionistische Abenteuer werden, wie schon in der Vergangenheit, den Kreml nur zu weiteren Eskapaden verleiten. Deutschland kommt als Schlüsselland der EU, der Nato und der westlichen Wertegemeinschaft eine besondere Verantwortung zu.

Im Interesse internationaler Sicherheit, europäischer Integration und gemeinsamer Normen muss Berlin die Kluft zwischen seiner öffentlichen Rhetorik und realen Praxis in Osteuropa endlich schließen. Dies sollte sich in einer Reihe paralleler und konkreter Maßnahmen politischer, rechtlicher, diplomatischer, zivilgesellschaftlicher, technischer und ökonomischer Natur ausdrücken. Deutschland ist ein großer Handels-, Forschungs- und Investitionspartner sowohl Russlands als auch der EU-Ostpartnerschaftsstaaten sowie eine Führungsmacht der Union. Es hat mehr, ja in bestimmten Bereichen weit mehr Möglichkeiten sich einzubringen als die meisten anderen westlichen Länder. Dies gilt sowohl mit Blick auf die Eindämmung und Sanktionierung Russlands als auch in Bezug auf die Unterstützung der von Moskau zerstückelten und bedrängten Staaten. Berlin muss seinen guten Worten weit mehr und effektivere Taten als bislang folgen lassen.

 

5. Einflusszonen von Nato und Russland im historischen Vergleich

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der russische Schwarzmeerhafen Sewastopol ist der einzige Hafen im ehemaligen Sowjetgebiet, der die gesamte russische Schwarzmeerflotte aufnehmen kann und die entsprechende Logistik bietet. Dieser erlaubt den Zugang zum Mittelmeer und ist Russlands einziger Hafen, der im Winter eisfrei bleibt.

 

3. Einschätzungen und Bewertungen der Teilnehmer

Im Verlaufe der Diskussion wurden folgende Aspekte und Bewertungen eingebracht:

  • Der aktuelle Konflikt ist im Grundsatz ein Konflikt zwischen Nato und Russland und als das Ringen um Einflusszonen zu bewerten. Solche Machtauseinandersetzungen sind bedeutender geworden als noch zu Zeiten des Kalten Krieges, in dem es zwei Blöcke gab. So konnte die Sowjetunion damals u. a. in Ungarn oder der Tschechoslowakei militärisch intervenieren, ohne dass der Westen eingegriffen hätte. Unter heutigen Voraussetzungen, mit mehreren Akteuren und unklarer abgegrenzten Einflusssphären werden solche Machtauseinandersetzungen schwieriger. Es wächst die Gefahr territorial begrenzter Kriege, was die vergangenen Jahrzehnte bestätigen, so in Syrien, Georgien oder Kasachstan. Hinzu kommen neue Formen der Auseinandersetzung wie Cyber-Attacken oder die Nutzung von Kommunikationstechniken zur Verbreitung von Falschinformationen.
  • Angesichts der Bestrebungen der Ukraine, in die Nato aufgenommen zu werden, ist nachvollziehbar, dass Russland 2014 die Krim annektiert hat, u. a. auch wegen der strategischen Bedeutung des Hafens Sewastopol. Militärstrategisch sieht Russland in der Osterweiterung der Nato ein Sicherheitsproblem. Zu berücksichtigen ist zudem der Anteil der Russen in der Ukraine und die Tatsache, dass Russland nach dem Zusammenbruch der UDSSR die Unabhängigkeit der Ukraine nie richtig akzeptiert hat. Daher müsste die EU die Sicherheitsbedürfnisse Russlands ernster nehmen und die unterschiedlichen Interessen anerkennen. Zudem hat die Nato keine Ordnungsfunktion als Hüter, diese ist ausschließlich ein Verteidigungsbündnis.
  • In diesem Konflikt geht es nicht ausschließlich um das Abstecken von Einflusszonen oder um Sicherheitsfragen, sondern nicht weniger um eine Systemfrage, dem Gegensatz zwischen Ländern mit Demokratisierungsinteressen und Ländern mit autokratischen Herrschaftssystemen wie Russland oder Belarus. Unter Berücksichtigung seiner Sicherheitsinteressen ist diese Entwicklung für Putin eine existentielle Frage, der sich neben militärischer Bedrohung von jenen Staaten im Osten bedroht sieht, in denen Demokratien entstanden sind bzw. Demokratisierungsbewegungen aufkommen. Putin will zurück zu einem russischen Großreich. Der Konflikt wäre also nicht automatisch gelöst, würde lediglich auf eine Erweiterung der Nato verzichtet, wobei Länder der ehemaligen Sowjetunion, die sich auf den Weg der Demokratisierung begeben haben, meist auch den Anschluss an die Nato wollten. So bewertet Polen die Nato-Mitgliedschaft als Sicherheitsgarantie für seine Unabhängigkeit.
  • Mit seinem militärischen ‚Säbelrasseln‘ und dem Aufstellen überzogener Forderungen treibt Putin eigentlich die Bevölkerung dieser Staaten mehr in die Arme des Westens, als dass er diese an sich binden kann. Die Gefahr besteht, dass seine Strategie zu einer Destabilisierung Russlands führt, zumal wirtschaftliche und finanzielle Sanktionen von EU und USA massive Auswirkungen hätten.  
  • Bei allen bisherigen militärischen Interventionen, ob Irak oder Afghanistan, wurde verkannt, welche kulturelle und traditionelle Verflochtenheit diese Länder prägen, die militärisch nicht besiegt werden können.
  • Nach Ende des ‚Kalten Krieges‘ wäre es gut gewesen, uns frühzeitig unseren russischen Nachbarn zuzuwenden, z. B. durch Kontakte und Begegnungen, wie dies nach dem Krieg zwischen Frankreich und Deutschland möglich wurde.
  • Es stellt sich doch die Frage, warum für die unmittelbar an Rußland angrenzenden Länder eine sog. „Finnlandisierung“ keine Lösung bieten könnte. Finnland ist kulturell und wirtschaftlich Teil des Westens, seit dem 2. Weltkrieg aber militärpolitisch neutral.
  • Mehr als in der Öffentlichkeit üblich sollte zur Kenntnis genommen werden, dass die an  Rußland angrenzenden Länder und insbesondere die Ukraine keineswegs eine in Hinblick auf ihr Verhältnis zu Russland monolithische Bevölkerung haben. Teils lebt dort eine starke russische Minderheit, teils genießt Rußland aber auch erhebliche Sympathien.
  • Abschließend wurden Konsequenzen für die deutsche Außenpolitik angesprochen. Soll verstärkt ein europäisches Machtpotential aufgebaut werden? Weder die EU noch Deutschland sind in der Lage, diesen Konflikt zu lösen, wohl nur direkt zwischen USA und Russland. Anerkannt wird der Vorrang der Diplomatie vor sanktionierenden Maßnahmen. Für Deutschland folgt daraus, um in der Diplomatie als Partner ernst genommen zu werden, aber auch, mehr in die Bundeswehr zu investieren. Ohne ein gewisses Maß an militärischer Stärke bleibt auch die Diplomatie in ihrer Wirkung schwach. Als Lösungsmodell könnten die Verhandlungen der ‚Siegermächte‘ im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung hinsichtlich der Stationierung von Truppen und Waffen dienen.

 

4. Abschluss (Winfried Thaa)

Winfried Thaa beschließt mit dem Dank an die Teilnehmer für die engagierte und ernsthafte Diskussion den Gesprächskreis.

Der nächste Gesprächskreis findet statt am Montag, 28. März 2022. Geplant ist, diesen wieder als Präsenzveranstaltung durchzuführen.

 

Rottenburg, 23.02.2022

Karl Schneiderhan

 

 

Anlage

 

Auszüge eines Interviews der NZZ vom 25.01.2022 zur Ukraine-Krise mit H. Münkler

«Die Russen haben Einkreisungsängste. Die haben schon immer bei der Entstehung von Kriegen eine bedeutende Rolle gespielt»

Der deutsche Politikwissenschaftler Herfried Münkler erläutert im Gespräch mit der NZZ am 25.01.2022, weshalb das Zeitalter der Imperien nicht vergeht, warum Pufferzonen dem Frieden dienen und welches Verhandlungsangebot der Westen den Russen machen sollte.

Herr Münkler, die EU und die USA sind der Meinung, es dürfe in Europa keine Einflusszonen mehr geben. Es gehe nicht, dass Großmächte über das Schicksal von weniger mächtigen Staaten entscheiden. Dennoch reden Russland und die USA über die Ukraine, ohne dass Kiew mit am Tisch sitzt.

Es ist eine ideale Vorstellung, dass Länder frei entscheiden, welchen Bündnissen sie beitreten. Dagegen spricht, dass es immer wieder politische Konstellationen gibt, die zu Einflusszonen führen. Nehmen wir Russland. Mit der Niederschlagung des Volksaufstandes in Weißrussland hat sich Lukaschenko von Putin abhängig gemacht. Das Land gehört jetzt zur russischen Einflusszone. Umgekehrt haben die Russen die Vorstellung, dass die «farbigen Revolutionen» in Belgrad (2000), Tbilissi (2003) und Kiew (2004) so etwas wie «Putsche von unten» waren, mit denen der Westen seinen Einfluss erweiterte. Die Veränderung von Einflusszonen schafft Instabilität. Aber es gibt auch geopolitische Grenzen, die Einflusszonen definieren. Der Westen könnte Kasachstan schon aus geografischen Gründen nicht in die Nato aufnehmen. Tatsache ist: Es gibt Einflusszonen, die die Bündnisfähigkeit von Ländern beschränken.

Russland ist offensichtlich dieser Ansicht und verhält sich wie eine imperiale Macht des 19. oder des 20. Jahrhunderts. Es versucht aus der Ukraine eine Pufferzone im strategischen Vorfeld zu machen.

Die Russen haben eben keine Soft Power, sondern dank ihrer modernisierten Armee nur Hard Power. Sie spüren die Schwäche des Westens mit seinen postheroischen Gesellschaften, dem Scheitern der USA im Irak. Jetzt versuchen sie ihre Einflusszone auszuweiten, in Weißrussland, Kasachstan, der Ukraine und mit dem Sprung über den Kaukasus hinaus nach Syrien. Man kann sagen, Putin könne «das Maul nicht voll bekommen», er wolle eine Situation, wie sie zur Zeit der Sowjetunion bestanden habe. Man kann aber auch feststellen, dass die Russen so etwas wie Einkreisungsängste haben. Diese haben schon immer bei der Entstehung von Kriegen eine bedeutende Rolle gespielt. Ein Mittel dagegen sind Pufferzonen. Sie dienen einer gewissen Stabilität und schaffen Flexibilität bei Verhandlungen zwischen Großmächten.

Ist denn Russland wirklich ein Imperium?

Es ist ein Imperium mit dramatischen Schwächen. Ein Land mit sieben Zeitzonen von der Ostsee bis zum Pazifik, ausgerüstet mit Atomwaffen, ist nun einmal ein imperialer Akteur. Aber aus der politischen Zivilgesellschaft kommen wenig Ressourcen, und außer im Rüstungsbereich gibt es wenig technologische Innovation. Russlands Macht ist einseitig militärisch, aber deckt die Schwäche des Westens auf. Dieser will um keinen Preis eine militärische Konfrontation wegen der Ukraine. Putin weiß: Wer immer wieder frech und selbstbewusst mit militärischen Optionen droht, ist lange Zeit auch ein Gewinner.

Aber im Grunde verhält sich auch die EU wie ein Quasiimperium. Sie will die Ukraine zwar nicht den Russen überlassen, ebenso wenig sieht sie sie als künftiges Mitglied, vielmehr als eine Art Zwischen-Land.

Es ist für die EU und auch für die Nato schwer, Länder mit offenen Grenzproblemen aufzunehmen. Und weil das so ist, hat Putin in Georgien mit Ossetien und Abchasien oder auch in der Ukraine mit der Krim und dem Donbass solche Probleme geschaffen. Aber es gibt daneben noch weitere Gründe für die Zurückhaltung der EU. Wenn man hinter die politische Folklore des Euro-Maidan schaut, ist die Ukraine ein Land, in dem die Oligarchen in vielem das Sagen haben und ein hohes Maß an Korruption herrscht.

Eine Aufnahme in die EU ist auf lange Frist mit den heute geltenden Kriterien illusorisch. Daran scheitern ja schon die kleinen Staaten auf dem Westbalkan.

Diese Staaten werden auf lange Zeit draußen bleiben. Denn die EU muss erst die Frage klären, ob sie möglicherweise ein Imperium ist. In mancher Hinsicht gibt es einen Zwang, das zu werden. Denn die EU muss nicht nur ihre Außengrenzen stabilisieren, sondern auch Probleme an ihrer Peripherie bewirtschaften können. Das gilt nicht nur für den östlichen Rand, sondern auch für die gegenüberliegende Mittelmeerküste und den Balkan.

Nachdem die EU während des Kalten Krieges in Ruhe gedeihen konnte, ist sie seit dessen Ende ständigen Stresstests ausgesetzt. Durch Amerika, das Gefolgschaft verlangt, durch China, das Handel an Wohlverhalten knüpft, und jetzt durch die militärische Drohung Russlands. Es scheint, als ob die Handlungsfähigkeit der EU abnimmt statt zunimmt.

Hier zeigt sich die Wahrheit des Satzes «Spare in der Zeit, dann hast du in der Not». Die Europäer haben sich viel Zeit gelassen mit der Konsolidierung und Vertiefung nach innen, haben Entscheidungen hinausgeschoben und sich von den Amerikanern Sicherheit geborgt, statt sich selber auf unsichere Zeiten vorzubereiten. Die deutsche Regierung verhält sich heute noch so, als würden wir in einer Welt leben, in der Regeln gelten, gemeinsame Werte uns verbinden und die Vereinten Nationen diese Ordnung behüten. Gerade ihre völlige Absenz in der Ukrainekrise zeigt, wie irrelevant die Uno geworden ist.

Kommen wir nochmals zurück auf die Ukraine. Was will Putin mit seinem Militäraufmarsch?

Putin will seine Optionen vermehren. Er tut dies im Hinblick auf Verhandlungen, aber auch hinsichtlich eines militärischen Vorgehens. Er könnte Mariupol einnehmen, um die Wasserversorgung der Krim sicherzustellen. Er könnte auch versuchen, den Euro-Maidan zurückzunehmen. Unser westliches Rätseln ist der Vorteil der Russen. Keiner kann mit Sicherheit sagen, was sie wirklich wollen. Das bedeutet: Der Westen weiß nicht, welche Folgen sein eigenes Handeln hat. Er hat nur zwei Optionen: Waffen liefern oder Russland wirtschaftlich sanktionieren. Es kann aber sein, dass Waffenlieferungen die Russen dazu bringen, anzugreifen, bevor die ukrainische Armee gelernt hat, mit diesen Systemen umzugehen. Man kann auch sagen: Wenn die Nichtinbetriebnahme der Erdgasleitung Nord Stream 2 das beste Druckmittel ist, dann hat man eigentlich keines. Wenn die Russen wirklich einmarschieren wollen, dann werden sie es tun. Wenn der Westen das hätte verhindern wollen, dann hätte er der Ukraine viel früher effektive Waffen liefern müssen. Der Gewinner solcher Spiele ist immer der, der mehrere Optionen hat.

Aus europäischer Perspektive wäre eine neutrale Ukraine, versehen mit echten Sicherheitsgarantien, noch immer der beste Ausgang der Krise und das würde auch russischen Interessen nicht zwingend widersprechen.

Wenn es zu echten Verhandlungen kommt, wäre eine Ausgangsposition wie diese möglich. Russland erhält die Zusicherung, dass die Ukraine nicht Nato-Mitglied wird. Aber dafür muss Moskau etwas geben. Die Krim zum Beispiel, oder es muss zumindest die Unterstützung der Separatisten im Donbass beenden. Mit der lauten und klaren Festlegung, die Bündnisfreiheit der Ukraine müsse gewahrt bleiben, hat man die Tür zu echten Verhandlungen zwar nicht zugeschlagen, aber eben auch nicht aufgemacht. Die Frage ist nicht erledigt. Aber man hat das Momentum verpasst.

 

 

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