Förderverein Stadtbibliothek Rottenburg

13.12.2021: Ist Genügsamtkeit ein Beitrag zur Rettung unseres Ökosystems?

1. Begrüßung und Einführung (Karl Schneiderhan)

Herr Schneiderhan begrüßt die Teilnehmer und informiert über das Zustandekommen der aktuellen Veranstaltung. Wegen der wieder angespannten Corona-Situation wurde die für den 29.11.2021 geplante Präsenzveranstaltung abgesagt. Statt dessen behandeln wir das für den 29.11.2021 geplante Thema heute in einer Online-Veranstaltung.

Die neue Bundesregierung verpflichtet sich in ihrem Koalitionsvertrag wie keine andere Regierung zuvor zu einschneidenden Maßnahmen beim Klimaschutz. Die Klimaschutzziele von Paris zu erreichen hat oberste Priorität. Klimaschutz sichere Freiheit, Gerechtigkeit und nachhaltigen Wohlstand. Es gelte, die soziale Marktwirtschaft als eine sozialökologische Marktwirtschaft neu zu begründen. Als Maßnahmen werden genannt: 1,5-Grad-Pfad, mehr Tempo in der Energiewende und Abbau von Hürden für den Ausbau der Erneuerbarer Energien, Beendigung des fossilen Zeitalters mit Kohleausstieg idealerweise bis 2030 und keine Verbrennungsmotoren mehr. Liest man den Vertrag im Einzelnen, stellt man aber fest, im Grundsatz bleibt das bisherige Verständnis von Wachstum und Ökonomie wirksam. Es zeigen sich die wiederstrebenden Positionen beteiligter Parteien. Wir werden daher in Ergänzung zur heutigen Buchbesprechung beim nächsten Gesprächskreis den Koalitionsvertrag unter die Lupe nehmen.

Nach Aussagen vieler Experten erfordert das Erreichen der Klimaziele umgehend weit einschneidendere Verän­derungen als die derzeit Geplanten, um den Klimawandel noch gestalten zu können. Denn unter Berücksichtigung der 2 Grad Grenze hat Deutschland seine ökologischen Ressourcen bereits Anfang Mai aufgebraucht, wenn man den Bedarf für alle Staaten berücksichtigt. Nötig ist daher eine Reduktion des Energieverbrauchs. Zudem wird es 2021 mit ca. 40 Mio. Tonnen zusätzlichem CO2 den größten Emissionsanstieg geben seit 1990.

Eine der derzeit am kontrovers diskutiertesten Position dazu ist die von Nico Paech, die wir heute vorstellen und diskutieren unter der Fragestellung: Ist Genügsamkeit ein Beitrag zur Rettung unseres Ökosystems? Nach Paech „Reduktion oder Selbstbegrenzung menschlicher Ansprüche“ nötig, sozusagen eine Konsequenz aus der Fragwürdigkeit des „grünen“ Wachstums. Eine seiner Kernthesen lautet: Die Technik vermag es nicht, das bestehende Wohlstandsgefüge von ökologischen Schäden zu entkop­peln. Und wenn der Klimawandel abgemildert werden und die Menschheit überleben soll, dann müssen wir unseren Lebensstil ändern. Maßloser Konsum, blinder Fortschrittsglaube und das Dogma des ewigen Wachstums sind seiner Meinung nach die Grundprobleme der ökologischen Krise. Er ist auch überzeugt, wer sich von Wachstumsdruck und Wohlstandsschrott verabschiedet, lebt glücklicher.

 

2. Impuls (Wolfgang Hesse)

Kaum ein Reformprojekt der Gegenwart stößt auf mehr Zustimmung als die Idee einer nachhaltigen Transformation, die den Klimawandel aufhalten und die Ressourcen des Planeten Erde schonen soll. Aus der Vielzahl der zu diesem Thema existierenden Beiträge und Wortmeldungen wollen wir heute das Suffizienz-Konzept des Ökonomen und Wachstumskritikers Niko Paech herausgreifen, kurz vorstellen und dann mit Ihnen diskutieren.

Für Paech bedeutet Suffizienz die „Reduktion oder Selbstbegrenzung menschlicher Ansprüche“. Suffizienz ist die Konsequenz aus dem Scheitern der ökologischen Modernisierung, dem grünen Wachstum. Die Technik, so Paech, vermag es nicht, das bestehende „Wohlstandsgefüge von ökologischen Schäden zu entkoppeln“. Paech hält es daher für ausgeschlossen, ja geradezu für verlogen, dass technische Lösungen dazu beitragen könnten, unser jetziges Wohlstandniveau auf einem umweltverträglichen und klimafreundlichen Niveau beizubehalten. Er nimmt damit die absolute Gegenposition z. B. zu FDP-Chef Christian Lindner ein, der meint, wir müssten unsere Wissenschaftler, Ingenieure und Techniker nur machen lassen, und alles würde wieder gut.

Paech baut sein Suffizienz-Konzept auf ökonomischen, psychologischen und zeitökonomischen Argumenten auf, die ich später zusammenfassend darstellen werde.  Dabei beziehe ich mich im Wesentlichen auf sein zusammen mit Manfred Folkers im Jahre 2020 veröffentlichtes Buch: „All You Need Is Less“. Alle hier verwendeten Zitate von Niko Paech stammen aus diesem Buch. Bekannt wurde Niko Paech mit seinem bereits 2012 erschienen Buch „Befreiung vom Überfluss – Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie“. Niko Paech wirbt in zahlreichen Vorträgen für sein Konzept, vor einigen Jahren sprach er auch in Rottenburg.  Diesen Vortrag kommentierte seinerzeit unser Oberbürgermeister Stephan Neher mit den Worten: „Ich habe selten so einen Unsinn gehört!“. Niko Paech und sein Konzept der Postwachstumsökonomie polarisieren also. Er schreibt und redet nicht nur, sondern lebt privat konsequent nach seinen Einsichten: Niko Paech besitzt kein Auto, kein Handy, fährt mit dem Fahrrad durch Siegen und repariert gern alte Sachen, um sie möglichst lange nutzen zu können.

Bevor ich näher auf das Paechs Konzept der Suffizienz eingehe, möchte ich zwei Aussagen zum Thema Klimaschutz durch CO2-Reduktion vorstellen. Bei den Diskussionen dieser Materie wird ja oft mit Angaben von vielen Tonnen CO2 hantiert, ohne dass man die dahinterstehenden Zusammenhänge wirklich erfassen kann. Die beiden Aussagen bilden Hinblick auf unser Thema einen guten Rahmen, in dem sich Paechs Konzept der Suffizienz bewegt und einordnen lässt. Beide Aussagen sind entnommen aus dem sehr empfehlenswerten Buch „Der Milliarden-Joker“ vom Franz-Josef Radermacher, Hamburg 2018.

1. Die Paris-Lücke

Um das 2-Grad-Klimaziel zu erreichen, muss die weltweite CO2-Emission um 500 Milliarden Tonnen über die im Pariser Abkommen festgelegte Menge hinaus gesenkt werden. Das ist die Paris-Lücke. Diese Paris-Lücke kann nach Einschätzung Radermachers nur durch den Privatsektor, und damit sind die reichen Akteure dieser Welt angesprochen, über Maßnahmen der freiwilligen Klimaneutralität geschlossen werden. Die Politik kann aus seiner Sicht über das Pariser Abkommen hinaus global kaum für eine weitere Reduktion der Klimagasemission sorgen.

Bezogen auf unser Thema lässt sich aus aus der obigen Aussage ableiten, dass Paechs Konzept der Suffizienz, so es denn überhaupt eine nennenswerte Wirksamkeit entfalten kann, in der Lücke von Paris anzusiedeln wäre und hier ganz sicher seine Berechtigung hat.

2: Einkommensgruppen und ihr Anteil an den globalen CO2-Emissionen

Die reichsten 10% der Weltbevölkerung verursachen 49% der CO2-Emision, während die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung für rund 10% der globalen CO2-Emision verantwortlich ist. Zitat Radermacher: „Bislang ist es keiner Region der Welt gelungen zu zeigen, dass der langfristige Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen, insbesondere auch der Erhalt des Klimasystems, und eine Wohlstand bringende Entwicklung für alle Menschen bei einem hohen Maß an sozialer Balance gleichzeitig möglich sind.“ (Radermacher, a.a.O., S. 70).

Diese Aussage könnte auch von Niko Paech stammen, denn sie führt uns direkt zu seiner Suffizienz-Konzeption. Paech liegt also richtig, wenn er, um unser Ökosystem zu stabilisieren, unseren übertriebenen Wohlstand auf die Tagesordnung setzt und nach Möglichkeiten seiner Begrenzung und Reduzierung sucht. Suffizienz will Paech als einen Bruch mit der herrschenden Doktrin verstanden wissen, die alles „einem hyperaktiven Wachstumszwang unterwirft und besinnungslos menschliche Freiheiten zu steigern verspricht.“ (Paech, a.a.O., S. 13). „Wenn ruinöses Konsumieren zum Menschenrecht umdeklariert wird, verletzt das mein Gerechtigkeitsempfinden.“ (Paech, a.a.O., S. 13) Deshalb muss, so Paech, eine Kultur der Genügsamkeit darauf beruhen, „die Fortschrittsdynamik zu verlangsamen, um wieder die Kontrolle zu erlangen.“ (Paech, a.a.O., S. 218)

Nachhaltigkeit: Effizienz, Konsistenz, Suffizienz

Ökologische Effizienz zielt darauf ab, den materiellen Aufwand zu verringern, der nötig ist, um ein bestimmtes ökonomisches Ergebnis zu erreichen. Wer ein neues Auto kauft, das statt 6 L nun nur noch 3 L Treibstoff pro 100 km braucht, fährt damit ökologisch doppelt so effizient. Das gilt aber nur, wenn er mit dem neuen Auto gleich viele Kilometer fährt wie mit seinem alten.  Verdoppelt er vor lauter Freude über die eingesparten Treibstoffkosten die Zahl der gefahrenen Kilometer, ist der Effizienzgewinn verspielt, denn es werden wieder 6 L Treibstoff verbrannt. In diesem Fall sprechen wir von einem Rebound-Effekt.

Ökologische Konsistenz setzt an der Schadensintensität und Umweltverträglichkeit der eingesetzten Ressourcen an. Ihre Beschaffenheit bzw. Erzeugung soll so optimiert werden, dass unabhängig vom Verbrauchsniveau keine bzw. wenige Emissionen oder Abfälle entstehen. Wenn also unser stolzer Besitzer des neuen 3L-Autos auch noch klimaneutralen Biosprit tankt, verhält er sich ökologisch konsistent. In Deutschland wird die Konsistenzstrategie besonders durch die Energiewende verkörpert. Ihr Ziel ist es, die Elektrizitätserzeugung CO2-neutral werden zu lassen, ohne dabei die für die Endnutzer verfügbare Energiemenge zu verringern.

Suffizienz begnügt sich nicht mit einem verringerten Ressourceninput oder mit einer ökologischeren Qualität der eingesetzten Mittel, sondern hinterfragt den eigentlichen Zweck der ökonomischen Aktivitäten. Es wird also das Ausmaß des erzeugten Outputs in Frage gestellt. Dessen Reduzierung oder Begrenzung würde zwangsläufig auch Konsummuster verändern. Am nachhaltigsten verhält sich der Besitzer des neuen 3L-Autos dann, wenn er mit seinem klimaneutralen Biosprit zudem noch deutlich weniger Kilometer zurücklegt als mit seinem vorherigen Auto. Hierzu möchte ich –  im Hinblick auf unsere Diskussion - folgendes anfügen: Im Endeffekt hat unser Autobesitzer dann mehr Geld in der Tasche und es ist die Frage, ob er nicht auf die Idee kommt, das nächste Mal einen SUV zu kaufen.

Paechs Einschätzung von Effizienz- und Konsistenzmaßnahmen

Ökologische Effizienz und Konsistenz bilden die Basis des „grünen Wachstums“. Hier sollen fortschrittliche Techniken, Produktlösungen und neue Nutzungsformen (z.B. Carsharing) den Güterwohlstand von ökologischen Schäden entkoppeln und auf seinem bisherigen Niveau beibehalten oder gar steigern. Beide Konzepte versprechen die individuelle Freiheit nicht anzutasten und minimieren die individuelle Verantwortung des Einzelnen für unser Ökosystem. Außerdem sind sie in starkem Maße innovationsabhängig. Da sich die Erfolge solcher Maßnahmen erst in der Zukunft zeigen werden, „ist es für etwaige Gegenmaßnahmen oder Korrekturen dann zu spät.“ (Paech, a.a.O., S. 131)

Konsum und moderne Freiheit

In der modernen Ökonomie werden Erzeugung und Verbrauch von Versorgungsartikeln voneinander getrennt. „Konsum befreit Menschen davon, materielle Ansprüche an die Begrenztheit der eigenen materiellen Leistungsfähigkeit anzupassen. Der Eintritt in das Konsumzeitalter sprengt damit jede Obergrenze für das, was Verbraucher begehren können.“ (Paech, a.a.O., S. 135). Die technische und institutionelle Entfesselung beliebiger Ansprüche ist untrennbar mit der Verursachung der aktuellen Nachhaltigkeitsdefizite verbunden.

Nachhaltiger Konsum und Suffizienz

Sogenannte nachhaltige Konsumformen (z.B. Energiesparbirnen, Bio-Nahrungsmittel, Mehrwegpackungen usw.) verzeichnen fortlaufend Umsatzzuwächse. Diese Entwicklung lässt sich auf vier Tendenzen zurückführen: Gestiegene Freiheitsansprüche, Zuwächse der durchschnittlichen Kaufkraft, Vertrauen in Fortschritts- und Innovationsdynamik, Wachsender Bedarf an Sichtbarkeit des eigenen, moralisch korrekten Verhaltens.

Ähnlich wie im mittelalterlichen Ablasshandel können sich heute z.B. Vielflieger durch kompensatorische Zahlungen, z.B. über www.atmosfair.de oder durch Spenden von einer ökologischen Schuld freikaufen, statt ökologisch schädliche Handlungen einfach zu unterlassen. Dies trifft besonders zu auf Menschen mit hohem Umweltbewusstsein, Bildungsstand und Einkommen, die zu einer zunehmend kosmopolitischen und technikaffinen Lebensführung tendieren.

Paechs Konzept der Suffizienz hingegen besteht aus der gezielten und ersatzlosen Unterlassung auf folgenden drei Ebenen:

  1. Selbstbegrenzung eines prinzipiell erreichbaren Versorgungsniveaus, z.B. die Begrenzung der individuellen Bekleidungsausstattung,
  2. Reduktion eines bestimmten Anspruchsniveaus ohne dabei eine Aktivität ganz aufzugeben, z.B. nur noch eine Urlaubsreise im Jahr anzutreten statt zwei oder drei,
  3. vollständige Aufgabe einer Option, z.B. kein Fleisch mehr zu essen.

Bei konsequent suffizient geführtem Leben verbleibt eine Menge Geld in der Tasche oder auf dem Konto. Auf der Bank sollte man dieses Geld nicht lassen, denn dann geben es andere aus, und man hat selbst keine Kontrolle mehr darüber, wie und wofür dieses Geld ausgegeben wird. Bunkert man das Geld zu Hause, verliert es an Wert oder man wird es an die Kinder vererben, bei denen man ja auch nicht so genau weiß, wie sie es ausgeben werden. Niko Paech schlägt hierzu vor, die Wochen-arbeitszeit auf 20 Stunden zu reduzieren und die dadurch gewonnene Zeit mit Produzieren, Reparieren, Anbauen, Tauschen und dem gemeinsamen Nutzen von z.B. von Waschmaschinen oder Werkzeug zu verbringen. Kurz: man wird vom Konsumenten zum Prosumenten. Diese sehr sympathische Idee lässt sich natürlich von einem Professorengehalt besser realisieren als vom Verdienst der berühmten Lidl-Kassiererin. Sie würde mit ihrer Halbtagesstelle schnell Probleme beim Bezahlen ihrer Miete bekommen. Außerdem bin ich ganz froh darüber, wenn mein Zahnarzt die ganze Woche über arbeitet, denn so bekomme ich im Notfall schnell einen Termin. Franz-Josef Radermacher schlägt dagegen vor, dass reiche Menschen das eingesparte Geld als verlorene Zuschüsse für Kompensationsprojekte im Klimabereich in Nichtindustrieländern investieren. Solche Projekte entziehen der Atmosphäre CO2. Als Beispiele nennt Radermacher Aufforstungen, Humusbildung und die Herstellung von Bio-Kohle. Das Geld wäre damit weg und würde klimafreundlich eingesetzt. Immerhin sind es die reichen Menschen, die heute das meiste CO2 freisetzen und die bei einer Klimastabilisierung auch weiter von ihren Eigentumsvorteilen profitieren können.

Gründe für die Notwendigkeit einer Wende hin zur Suffizienz

  • Verantwortung für eine Entkoppelung von Wohlstandsansprüchen und Umweltschäden übernehmen, als einziger Ausweg aus der aktuellen Klima- und Umweltkrise,
  • Legitimität: Der immens gewachsene Wohlstand wirft die Frage auf nach der Berechtigung seiner Inanspruchnahme. Wurde er allein von den Nutznießern „verdient“ und „erarbeitet“?
  • Resilienz: Globalisierte, technisierte und monopolisierte Versorgungsmuster werfen die Frage nach Kontrollverlusten und neuen, großflächigen Risiken auf, die das Vertrauen in die Fortsetzbarkeit der entgrenzten Ökonomie erschüttern.
  • Sinnhaftigkeit: Die moderne Wohlstandsformel, wonach technische und ökonomische Steigerungen mehr menschliches Glück, mehr Zufriedenheit und einen Zuwachs an Freiheit bedeuten, hat sich überlebt.

Suffizienz und zeitökonomische Rationalität aus Sicht des Individuums

Die moderne Wachstumsdoktrin scheint vorauszusetzen, die Menschen „seien grundsätzlich befähigt jegliche Technik- und Wohlstandssteigerungen kognitiv und kulturell so zu verarbeiten, dass ihnen damit stetig höhere Ebenen der Lebensqualität zugänglich würden.“ (Paech, a.a.O., S. 148). Die nie dagewesene Beschleunigung aller relevanten Vorgänge wird dagegen durchaus auch kritisch diskutiert: Ständig neue Optionen und Herausforderungen werden im Zusammenhang gesehen mit der Zunahme von individueller Überforderung, Erschöpfung oder Ermüdung (z.B. Ehrenberg, Alain: Das erschöpfte Selbst, Ffm, 2004). Was bedeutet nun die zunehmende Steigerung der Konsumoptionen für das Individuum und sein Konsumverhalten?

  1. Eine konsumbezogene Handlung kann für den Nutzer nur dann eine wahrnehmbare Wirkung entfalten, wenn ihr ein Minimum an Aufmerksamkeit zuteil wird.
  2. Menschen sind Zeitrestriktionen (der Tag hat nur 24 Stunden) unterworfen, die umso relevanter werden, je mehr Konsumhandlungen ausgeführt werden.
  3. Zeitknappheit kann nicht durch menschliches „Multitasking“ überwunden werden, da es nicht möglich ist, mehr als zwei Verrichtungen gleichzeitig zielgerichtet auszuführen.
  4. Das pro Konsumhandlung aufzubringende Zeitquantum entspricht der Summe aus einem Fixum, das zur Vorbereitung und Information aufgebracht werden muss und aus der für die aktive Verwendung des Konsumguts verausgabten Nutzungszeit.

Daraus ergibt sich, „dass ein möglichst hohes Niveau an Lebensqualität voraussetzt, sich auf ein begrenztes Spektrum an Gütern oder Services zu beschränken. Suffizienz bedeutet also nicht (nur) Verzicht, sondern ist notwendig, um die verfügbaren Konsumoptionen zeitökonomisch zu optimieren.“ (Paech, a.a.O. S. 169). Begrenzte Zeitressourcen auf bestimmte Themen oder Objekte zu konzentrieren heißt auch, dass Menschen in diesen ausgewählten Bereichen eine besondere Selbstwirksamkeit erreichen, indem sie durch Üben und Vertiefung Erfahrungswissen und spezielle Fähigkeiten aufbauen, die sie von anderen Menschen unterscheiden. Wer sich also dem ausufernden Konsum- und Mobilitätsballast entledigt, optimiert letztlich auch seine Lebensführung.

Gerechtigkeit und Lebensstil

„Es entspricht einem überfälligen Verständnis von Gerechtigkeit, nicht die Armen durch eine ökologisch ruinöse Aufholjagd an die Reichen heranzuführen, sondern umgekehrt die Reichen auf ein verantwortbares Maß zurückzuführen.“ (Paech, a.a.O., S. 232).

Vor dem Hintergrund von Klimawandel und unserer maßlosen Ressourcennutzung entsteht die Frage, welchen materiellen Spielraum ein einzelnes Individuum während seines Lebens ausschöpfen darf, ohne dabei ökologisch und sozial über seine Verhältnisse zu leben. Bezogen auf den Klimawandel bedeutet das zum Beispiel, dass das Recht CO2 in die Atmosphäre abzugeben gleichmäßig auf alle Erdenbewohner gleichmäßig verteilt werden muss. Nimmt man das Zwei-Grad-Ziel des Pariser Vertrags als Zielmarke, ergäbe sich daraus ein CO2-Äquivalent (CO2, Methan, Lachgas) von ein bis zwei Tonnen pro Kopf und Jahr, wobei das Umweltbundesamt sogar nur von einer Tonne CO2-Äquivlant pro Kopf und Jahr ausgeht.

Damit man die Größenordnung dieser Herangehensweise besser einordnen kann, nenne ich dazu einige Zahlen aus dem Buch von Franz-Josef Radermacher: In Deutschland werden pro Jahr etwa 800 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent ausgestoßen. Das sind bei ca. 80 Millionen Einwohnern im Durchschnitt 10 Tonnen pro Kopf und Jahr. Bei diesem Durchschnittswert liegen einige Menschen mit 3-7 Tonnen pro Jahr schon heute deutlich darunter, andere aufgrund ihrer besonderen Lebensweise mit bis vielleicht 230 Millionen Tonnen weit darüber (Radermacher, a.a.O., Seite 175). Wir müssten also in Deutschland im Durchschnitt unser CO2-Äuqivalent um den Faktor 5 … 10 reduzieren, um die oben anvisierten ein bis zwei Tonnen CO2-Äquivalent pro Kopf und Jahr zu erreichen.

Der weltweit gültige Richtwert von ein oder zwei Tonnen CO2-Äquivalent pro Kopf und Jahr schließt nicht aus, dass z.B. bei jährlicher Unterschreitung Guthaben entstehen, die später genutzt oder auf andere Personen übertragen werden können. Jedes Individuum sollte frei entscheiden können, wie es mit seinem CO2-Budget umgeht. Wer es also nicht lassen kann, einmal im Jahr nach Mallorca zu fliegen, sollte danach vielleicht kein Fleisch mehr essen oder weniger mit dem Auto herumfahren.

Die Ausrichtung an solch einem Überlebensprogramm sollte im Übrigen ein primäres Ziel jeglicher Erziehung und Bildung werden.

Umsetzbarkeit des Suffizienz-Prinzips

Was ist nun zu tun, um das Prinzip der Suffizienz in der Gesellschaft zu verankern, um ihm so zu einer gewissen Wirkmächtigkeit zu verhelfen? Dazu Paech: „Dieselbe Wählermehrheit, die zunehmend lautstark das Ausbleiben hinreichenden Klimaschutzes beklagt, lässt nicht das geringste Indiz dafür erkennen, dass sie die Konsequenzen ihrer eigenen Forderungen durch Suffizienzleistungen zu meistern bereit ist.“ (Paech, a.a.O., S. 194). Die Politik kann wegen den gegebenen Mehrheitsverhältnissen nur Maßnahmen ergreifen, „die additiv (z.B. EEG), selektiv (z.B. das Verbot von Plastikstrohhalmen) oder symbolisch (z.B. abstrakte Zielformulierungen für die ferne Zukunft) sind.“ (Paech, a.a.O., S. 195). Gesellschaftlich akzeptiert ist nur eine Kritik, die sich gegen abstrakte Gebilde, etwa gegen RWE, gegen die Politik oder gegen den Kapitalismus richtet. Fragen, mit welchem Recht z.B. jemand eine Kreuzfahrt antritt, einen SUV nutzt oder an Weihnachten in die Anden fliegt, werden als rückständig, autoritär oder freiheitsfeindlich zurückgewiesen. Ich darf in diesem Zusammenhang daran erinnern, wie interessierte Kreise aus Wirtschaft, Politik und Medien über den Grünen-Politiker Anton Hofreiter hergefallen sind, als dieser es wagte, die Frage zu stellen, ob ein fortlaufender, uneingeschränkter Bau von Einfamilienhäusern nicht ökologische Probleme aufwerfen könne.

Die Politik fällt – so Paech - zur Förderung der Etablierung und Ausdehnung des Suffizienz-Ansatzes aus, denn „die zu Regulierenden müssten einen Regulator wählen, der ihnen aufoktroyiert, wozu sie freiwillig nicht bereit sind.“ (Paech, a.a.O., S. 17). Vielmehr kann eine kleine Gruppe von Menschen, in der Paech eine Avantgarde sieht, sofort damit anfangen Suffizienz zu leben und konkret sichtbar werden zu lassen. Das verstößt gegen keine Gesetze, muss nicht aufwändig und langwierig organisiert werden, sondern jeder Einzelne kann schon heute damit anfangen. Jeder tiefgreifende Wandel – zumindest in Demokratien - hat „bislang immer seinen Anfang in Nischen oder die Zukunft vorwegnehmenden Subkulturen genommen.“ (Paech, a.a.O., S. 203).

Abschließend nochmals Niko Paech: „Wenn rechtzeitig etliche Individuen, Netzwerke, Unternehmen und andere soziale Gebilde freiwillig den Weg in eine Postwachstumsökonomie einschlagen, würde der (wirtschaftliche und ökologische) Kollaps verhindert. Wenn letzteres nicht gelingt, tragen diese postwachstumstauglichen Aktivitäten dazu bei, die dann nicht mehr abzuwendende Krise zumindest abzumildern. (…)  Angenommen, in den nächsten 5 Jahren reduziert die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland ihre Erwerbsarbeit auf 20 Wochenstunden und verwendet die frei gewordene Zeit von 20 Stunden darauf, zu reparieren, zu tauschen, immer mehr Dinge selbst herzustellen und gemeinsam zu nutzen, nicht mehr zu fliegen, ihr Auto abzuschaffen, ihren Fleischkonsum markant zu verringern, sich dem Digitalisierungswahn zu verweigern und so weiter, dann würde der Krise die Basis entzogen, weil diese Menschen schon so leben würden, wie es nötig wäre, um in einer Rezession würdig zu existieren.“ (Paech, a.a.O., S. 236).

Thesen zur Entwicklung des Konsumverhaltens (nach Elizabeth Currid-Halkett. „Fair gehandelt?“, München, 2021)

Die Aussagen beruhen auf Auswertungen von Verbraucherbefragungen der staatlichen Statistik-behörde U.S. Bureau of Labor Statistics aus den Jahren 1996 bis 2014.

  1. Die Mitglieder der oberen Mittelschicht in den USA verwenden heute einen prozentual geringeren Anteil ihrer Ausgaben für demonstrativen Konsum (Autos, Kleidung, Elektronik) als der amerikanische Durchschnittsverbraucher, während die Menschen der Mittel- und Unterschicht für demonstrativen Konsum mehr als der Durchschnitt ausgeben.
  2. Bei den Reichen wurde der demonstrative Konsum durch unauffälligen Geltungskonsum ersetzt, der ihnen dabei hilft, ihren Reichenstatus zu erhalten und auszubauen. Unter „unauffälligem Geltungskonsum“ versteht die Autorin Ausgaben z. B. für Bildung, Ernährung, Gesundheitspflege, Kinderbetreuung und vielfältige Dienstleistungen.
  3. Der Verfall der heutigen amerikanischen und europäischen Mittelschichten (sinkende Bevölkerungszahlen und sinkende Einkommen) wird der Weltwirtschaft einen massiven Dämpfer versetzen, da die Kaufkraft dieser Gruppen zurückgeht.
  4. Eine neue – durch die Entwicklung der Globalisierung – kräftig wachsende globale Mittel-schicht verfügt über immer mehr Kaufkraft und wird die Rolle der nordamerikanischen und europäischen Verbraucher einnehmen und an Kaufkraft übertreffen.

 

3. Diskussion (Protokoll Winfried Thaa)

In der Diskussion wurden zunächst offen gebliebene Fragen angesprochen, dann aber auch kontrovers auf die Grundthese Paechs von der notwendigen Entwicklung einer „Suffizienzkultur“ und der Verantwortung jedes Einzelnen eingegangen.

Mehrere Nachfragen richteten sich auf die sozialpsychologischen Motive des von Paechs kritisierten Konsumverhaltens. Müsste man nicht genauer klären, warum die Menschen wider besseres Wissen ökologisch schädliche Produkte kaufen und an einem Lebensstil festhalten, der letztlich selbstzerstörerisch ist? Als Beispiel wurden SUVs genannt, die ja nicht wegen des erhöhten Platzbedarfs der Autofahrer oder ihrer neuerdings größer gewordenen Familien gekauft werden, sondern nicht zuletzt weil sie zu Statussymbolen geworden sind und als solche die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht demonstrieren sollen.  In diesem Zusammenhang wurde auf die Bedürfnispyramide nach Maslow verwiesen, nach der mit zunehmendem Wohlstand existentielle Bedürfnisse gegenüber Individual- und Selbstverwirklichungsbedürfnissen an Bedeutung gewinnen. Dies ermögliche es der Werbung, Luxus- und Statusbedürfnisse zu wecken, denen prinzipiell keine Grenzen gesetzt sind. Damit einher gehe offensichtlich eine Zunahme egoistischer Einstellungen.  Am Beispiel der SUV zeige sich zudem ein problematisches Sicherheitsbedürfnis, die Hoffnung nämlich, im größeren und schwereren Wagen einen eventuellen Unfall besser zu überstehen, sozusagen ein darwinistisches „survival of the fittest“. Herr Hesse führt zu diesen Fragen aus, dass Nico Paech tatsächlich wenig auf sozialpsychologische Motive eingehe und eher pauschal einen allgemeinen „Konsumdruck“ unterstelle.  Ergänzend ist darauf zu verweisen, dass im ersten Teil des Buches “All you need ist less” im Beitrag von Manfred Folkers ausführlich auf den Zusammenhang zwischen der  “Gier-Wirtschaft”, wie es dort heißt, und der psychologischen Konsummotivation eingegangen wird. Zentral sei für Peach das Argument, wonach wir alle dazu tendierten, die Schuld an ökologischen Problemen immer anderen, bevorzugt anonymen Institutionen oder großen Firmen zuzuschieben.

Einen weiteren thematischen Schwerpunkt bildeten Nachfragen und Einwände zu Paechs Alternativvorstellungen. Grundsätzlich wurde bei ihm eine doch recht apokalyptische Perspektive vermutet. Auch stelle sich die Frage, was eigentlich geschehe, wenn seine Vorstellungen von einem selbstgenügsameren Leben tatsächlich ein breites Echo fänden und es zu einem drastischen Rückgang der ökonomischen Nachfrage käme. Herr Hesse räumt ein, dass Paech dieses Problem nicht thematisiere, für ihn allerdings die Umorientierung der Menschen auf Selbstwirksamkeit und ein genügsameres, zugleich aber auch weniger entfremdetes Leben im Mittelpunkt stünde.

Zur Erklärung der Stabilität unseres Wachstums- und Konsummodells wurden in der weiteren Diskussion zwei verschiedene Thesen geäußert. Der Mensch sei ein Herdentier, er folge gewohnten Mustern bzw. tue das, was alle (oder die meisten) anderen auch tun. Deshalb brauche es symbolische Maßnahmen der Politik um Bewusstseinsveränderungen einzuleiten. Eine solche wäre ganz aktuell eine allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung gewesen, die in der neuen Regierungskoalition aber nicht durchzusetzen war. Dagegen wurde eingewandt, dass Menschen sich durchaus rational verhielten und meist das für sie individuell Beste wählten. Dies gelte auch für das immer wieder bemühte Beispiel der SUVs, in denen sich die Menschen sicher und wohl fühlten, bequem ein- und aussteigen könnten etc. Zudem sollte nicht unterschätzt werden, welche technischen Fortschritte während der letzten Jahre gemacht worden seien, gerade auch mit Blick auf den Verbrauch dieser Autos.

Von hier aus wurde dann nochmals das Verhältnis zwischen individuellen Entscheidungen und politisch gesetzten Rahmenbedingungen diskutiert. Verhalten würde sich erst ändern, wenn die Politik Ressourcenverbrauch höher besteuern und ökologisches Verhalten stärker prämieren würde. Zu diesem Verhältnis zwischen politisch gesetzten Rahmenbedingungen und individuellem Verhalten wurden weitere Beispiele diskutiert, etwa Fahrgemeinschaften und die Reglementierung von Autoverkehr in Innenstädten.

Herr Hesse fasst abschließend nochmal das Anliegen Paechs zusammen und betont, dass es darauf ankomme, nicht ewig auf Systemalternativen zu warten, sondern bei sich selbst anzufangen, um von da aus dann gemeinsam für systemische Veränderungen zu kämpfen. Seitens der Politik sei es erforderlich durch die gezielte Besteuerung von ökologisch schädlichem Konsum diese Prozesse zu unterstützen und zu lenken. Ob dies über die westlichen Gesellschaften hinaus möglich sei, vor allem mit Blick auf die zunehmenden Konsumbedürfnisse einer weltweit wachsenden Mittelschicht, zieht er allerdings doch in Zweifel.

 

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