Förderverein Stadtbibliothek Rottenburg

28.06.2021: Auswirkungen und Folgen der Corona-Pandemie für Gesellschaft und Demokratie

1. Einführung (Karl Schneiderhan)

 Im Frühjahr 2020, in der Anfangsphase der Corona-Pandemie, hatten wir unter Teilnehmenden des Gesprächskreises eine Umfrage gestartet zur Frage: Was können wir aus der Corona-Krise und den damit verbundenen Einschränkungen für unser gesellschaftliches Zusammenleben lernen? Seitdem ist über ein Jahr vergangen mit weiteren Lockdown-Maßnahmen. So ist die Frage durchaus berechtigt: War der damals angemahnte Handlungs- und Veränderungsbedarfs für die verschiedenen gesellschaftlichen Handlungsfelder sowie in Bezug auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie zutreffend? Unter Berücksichtigung damaliger Einschätzungen wollen wir anhand folgender Fragestellungen die bisherige Entwicklung diskutieren:

  • Hat sich das politisch-demokratische System in dieser Krise bewährt?
  • Hat sich die Gesellschaft als solidaritätsfähig erwiesen?
  • Welche Perspektiven braucht es jetzt, um die nötigen Veränderungen zu erreichen?

Zusammengefasst wurde von den an der Umfrage Beteiligten insbesondere folgender Veränderungsbedarf angemahnt:

  • Gerechtere Einkommensverteilung und weniger prekäre Arbeitsverhältnisse
  • Höhere Akzeptanz systemrelevanter Berufe (u. a. Pflegeberufe)
  • Gemeinwohlorientierteres Wirtschaften, u. a. auch im Rahmen der öffentlichen Daseinsvorsorge
  • Rückverlagerung von Produktionsstätten (z. B. Arzneimittel) und sichere Lieferketten
  • Vergewisserung über Grundkonsens unserer Wertegemeinschaft (Solidarität vor Partikularinteressen; Fehlverhalten einzelner und volkswirtschaftlicher Schaden)
  • Verstärkte Persönlichkeitsbildung in Schulen (mit Krisen und Risiken umgehen lernen)
  • Mehr Engagement für den Klimawandel und Regionalisierung von Lebensmittelerzeugung und -Handel
  • Transparentere und verlässlichere Spielregeln in Bezug auf öffentliche Kommunikation (Unterscheidung von objektiver Wirklichkeit und subjektiver Meinung)
  • Überdenken des eigenen Lebensstils (Reisen, Konsum, Ernährung, Erholung)

Nach 1 ½ Jahren Corona-Krise bestätigen sich die damals vorgenommenen Einschätzungen, denn jetzt zeigt sich noch deutlicher, diese Pandemie deckt wie ein Brennglas soziale, politische und ökonomische Probleme auf und hat nahezu alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens verändert. Die über Monate andauernden Kontaktbeschränkungen und Schließungen (Schulen, Restaurants, Handel, Kultur) beeinflussen nachhaltig das soziale Miteinander in Organisationen, Gruppen und Vereinen, in der Familie oder unter Freunden und Nachbarn. Darüber hinaus ist die Demokratie national, in Europa und global neben der Pandemie-Krise zeitgleich mit weiteren gravierenden Herausforderungen konfrontiert: Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten, Klimawandel, Flucht und Vertreibung, Digitalisierung, Instabilität der Parteiensysteme oder autoritär-nationalistische Dynamiken. Zum andern zeigen aber die Wahlergebnisse bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt eine gewisse Stabilität des politisch-demokratischen Systems. Die Regierungsparteien konnten sich trotz Kritik an ihrem Krisenmanagement behaupten, zum Teil nach Prozenten sogar Stimmenanteile hinzugewissen, während extreme Positionen wie die der AfD aus der Krise keine Stimmengewinne erzielen konnte. Vielmehr musste die AfD in allen drei Bundesländern Verluste hinnehmen.

Wie sich die politische Situation heute darstellt und welche Konsequenzen sich daraus für die Zukunft ergeben, darüber wollen wir heute sprechen. In einem ersten Teil beschäftigen wir uns mit den Fragen: Wo und wie hat sich das politische System bewährt, wo gab es Probleme oder Reibungsverluste? Hat sich die Gesellschaft in dieser Krise als solidaritätsfähig erwiesen? In einem zweiten Teil wollen wir der Frage nachgehen: Welche Perspektiven gibt es bzw. welche Konsequenzen bräuchte es jetzt, um nötige Veränderungen tatsächlich in Gang zu bringen bzw. zu erreichen?

 

2. Impuls (Winfried Thaa)

Rekurs auf die Diskussion vom Frühjahr 2020

Tenor des Gesprächs mit Frau Widmann-Mauz vor ungefähr einem Jahr war: Das politische System hat sich bewährt, es hat sich als handlungsfähig und im Großen und Ganzen als kompetent erwiesen. Deutschland schien damals im Vergleich zu seinen Nachbarländern sehr viel besser durch die Krise zu kommen und hatte im Vergleich zu Italien, Belgien oder GB nur einen Bruchteil der Toten zu beklagen. Die föderale Ordnung schien flexibler und dennoch handlungsfähig, Expertenwarnungen wurden schneller und besser berücksichtigt als etwa in GB, die Maßnahmen waren auch überlegter und verhältnismäßiger als in Frankreich oder Spanien, wo es praktisch einen wochenlangen Hausarrest gab. Auch das Gesundheitssystem schien, trotz mancher Probleme, leistungsfähiger als in den meisten anderen Ländern. Und, m.E. ganz wichtig, im Frühjahr konnte man noch positiv überrascht sein über die Solidaritätsbereitschaft in der Gesellschaft.

Hat sich dies in der Zwischenzeit grundlegend geändert?  Oder sind zumindest Abstriche von dieser positiven Einschätzung zu machen, sowohl mit Blick auf das politische System als auch in Hinblick auf die Solidaritätsbereitschaft in der Gesellschaft? Um es vorwegzunehmen: Man kann sicher immer noch sagen, dass Deutschland im Vergleich mit anderen Ländern relativ gut durch die Krise gekommen ist, im Vergleich zum Frühjahr zeigen sich mittlerweile jedoch deutlicher die Schwächen in Politik und Gesellschaft. Dazu einige exemplarische Punkte:

 

1. Hat sich das politische System bewährt?

Föderalismus und Gewaltenteilung

Als größtes Problem, als größte Schwäche erwies sich die Ministerpräsidentenrunde. Anfangs, aufgrund der Zuständigkeit der Länder war dies sicher ein naheliegendes Gremium. Mit seiner Verstetigung haben sich aber erhebliche Schwächen gezeigt und spätestens im Herbst hat sich die Ministerpräsidentenrunde als unfähig erwiesen, auf die erneut steigenden Infektionszahlen angemessen zu reagieren. Aus Rücksichtnahme auf gesellschaftliche Interessen, aus Motiven politischer Profilierung, des Opportunismus oder welchen anderen Motiven auch immer, konnte man sich nicht auf eine entschlossene Reaktion einigen. Der „Lockdown light“, der dann im Oktober nach einer nächtelangen Sitzung herauskam, war nicht geeignet, die Welle zu brechen und letztlich für den Tod von zehntausenden Menschen verantwortlich.

Dazu einige Zahlen: der 7 Tage Durchschnitt der Inzidenz lag im August bei unter 1000, Mitte Oktober bei 2500 täglichen Neuinfektionen, im Dezember und Januar stieg diese Zahl auf 25-30 000, hat sich also in wenigen Wochen verzehnfacht. Die Todesfälle stiegen von Oktober bis Dez. von 10 pro Tag auf über 1000. Fehlentscheidungen kann es immer geben, auch die zentralisierten politischen Systeme, etwa in GB, haben ja fatale Entscheidungen getroffen. Dennoch meine ich, dass sich im Lauf der Krise in Deutschland Probleme der föderalen Struktur immer stärker zugespitzt haben:

  • Als erstes eine unübersehbare Entscheidungsschwäche (nächtelange Diskussionen mit minimalen der gar keinen Ergebnissen)
  • Das Problem der Mehrebenenpolitik (wie man es aus der EU kennt), der Zusammenarbeit der Exekutiven verschiedener Ebenen, das Verantwortlichkeiten verwischt und Anreize für die Akteure schafft, sich gegenüber ihrer jeweiligen Basis in ein vorteilhaftes Licht zu setzen und unpopuläre Entscheidungen den anderen Beteiligten zuzuschieben.
  • Im Ergebnis führt das zur Schwächung der Gewaltenteilung und des demokratischen Prozesses. Es kommt zu Kompromissen, die im Einzelnen nicht mehr zuschreibbar sind. Die Öffentlichkeit kann nicht nachvollziehen, wer welche Position vertreten, wer wo nachgegeben oder sich durchgesetzt hat. Das für die Demokratie normale, öffentliche Gegeneinander von Regierung und Opposition wird außer Kraft gesetzt, die Parlamente geschwächt. Irgendwie sind alle beteiligt, niemand aber für die negativen Aspekte verantwortlich. So sind die Grünen bspw. im Bundestag in der Opposition, in BaWü stellen sie den Ministerpräsidenten und sind mit ihm prominent an den Entscheidungen beteiligt. Eine sichtbare, mit Gegenargumenten auftretende und Alternativen propagierende Opposition wird so quasi unmöglich. Das spricht nicht gegen den Föderalismus als solchen, aber gegen die Verwischung von Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten.
  • Schließlich hat sich m.E. gezeigt, dass die Landespolitik in besonderem Maß anfällig ist für den politischen Druck von starken Interessengruppen (etwa die Gastronomie in Mecklenburg-Vorpommern, große strukturbestimmende Betriebe in nahezu allen Ländern u. ä. m.).
  • Beim Stichwort Interessengruppen: Je weniger Politik im Parlament durch die Opposition herausgefordert wird und öffentlich begründet werden muss, umso besser sind die Chancen für starke Interessengruppen, sich über ihre Kontakte in die Ministerien und Verwaltungen hinein durchzusetzen.
  • Das konnte man gut beobachten an der lange anhaltenden und weit gehenden Schonung der Industrie auf der einen und der doch bemerkenswerten Vernachlässigung von Schulen und Jugendlichen auf der anderen Seite. Beispiele dafür: Auch in der 3. Welle gab es noch keine Testpflicht für Betriebe. Erst seit 20. April mussten sie Testmöglichkeit anbieten und erst mit dem Infektionsschutzgesetz Ende April besteht ein größerer Druck auf die Betriebe, Homeoffice anzubieten.
  • Die Marginalisierung des normalen parlamentarischen Prozesses hat im Übrigen auch negative Konsequenzen für die Legitimation des politischen Systems insgesamt. Dadurch, dass es keine erkennbare, öffentlich begründete Opposition zur beschlossenen Politik gibt, kann die Unzufriedenheit mit ihr dann um so besser von anderen Kräften aufgegriffen werden, wie Corona-Leugnern oder Verschwörungstheorien im Netz etc.

In geringem Maß hat sich die Politik im Lauf der letzten Monate als lernfähig erwiesen. Nach dem Scheitern einer Ministerpräsidentenrunde kam es zum Infektionsschutzgesetz, das im Bundestag diskutiert und verabschiedet wurde und seit 23.04.2021 gilt.

Justiz

Ganz kurz nur zur Justiz. Vorwürfe, wir erlebten eine Corona Diktatur sind m. E. durch eine ganze Reihe von Gerichtsentscheidungen, die Einzelmaßnahmen als unverhältnismäßig außer Kraft gesetzt haben, entkräftet worden. Bsp. dafür sind gerichtlich aufgehobene Ausgangssperren oder die Zulassung von zunächst zugelassenen Demonstrationen.

Expertentum

Es hat sich ein weiteres Mal als Illusion erwiesen, die Politik könnte einfach dem Rat von Experten folgen. Zwei Experten, drei Meinungen. Ernsthafter: Politische Entscheidungen sollten selbstverständlich auf Informationen basieren, aber sie müssen ganz verschiedene Gesichtspunkte berücksichtigen und zwischen widerstreitenden Meinungen und Interessen zu einem Urteil kommen. „Follow the Science“ ist eine Unsinnsparole. Allerdings gilt auch hier: Undurchsichtige Absprachen sind problematisch, während offene Debatten im Parlament einen Beitrag zur Rationalisierung leisten können. Leider haben diese Funktion mehr schlecht als recht in Deutschland vor allem die Talkshows übernommen.

Verwaltung

Der Mythos von der besonders effektiven deutschen Verwaltung dürfte zerstört worden sein. Teils dürfte dies auf den sog. „schlanken Staat“ und die Personaleinsparungen der letzten Jahrzehnte zurückzuführen sein. Etwa bei Gesundheitsämtern. Teils gab es aber auch die schiere, schlicht unglaubliche Unfähigkeit.

  • Maskenbeschaffung durch die Länder: Diese zahlten pro Maske zwischen 2,85 € und 9 €. Telefonische Absprachen zwischen den Ländern scheint es da nicht gegeben zu haben. So konnten zwei Schweizer Jungunternehmer, die extra zu diesem Zweck eine Firma gründeten, mindestens 200 Mio. € verdienen. Die Tochter von Gerold Tandler, dem ehemaligen Generalsekretär der CSU, die offensichtlich über beste Kontakte in die Landesverwaltungen und die Parteien verfügt, vermittelte die Deals und bekam dafür 50 Mio. € Provision (Süddeutsche Zeitung vom 22.05.21).
  • Ein weiteres Bespiel für schiere Unfähigkeit ist m. E. auch die Idee des Gesundheitsministeriums von Baden-Württemberg, Impftermine für über 80jährige via Internetplattform zu vergeben.

 

2. Gesellschaft – Solidaritätsfähigkeit

Insgesamt scheint hier das Positive zu überwiegen. Alles in allem gab es doch eine große Bereitschaft, sich an Regeln zu halten, beim Einkaufen Masken zu tragen, keine Partys zu feiern usw. Insgesamt kann man auch sagen, dass die Gruppen, denen mehr abverlangt wurde, insbesondere Jugendliche und Kinder, auch eine hohe Solidaritätsbereitschaft und Verantwortung zeigten. Bis heute leisten einzelne Berufsgruppen mehr als sonst, von den Kassiererinnen in den Supermärkten, die mit Maske arbeiten müssen, über die Beschäftigten in Altenheimen und Krankenhäusern, bis zu den Sprechstundenhilfen in den Arztpraxen, die jetzt seit Monaten Stress mit Impfterminen, der Ungeduld und den Beschwerden der Patienten haben. Hervorzuheben sind auch vielfältige gesellschaftliche Initiativen, etwa zum Testen wie in Tübingen und mittlerweile ja praktisch überall. Hier besonders auch das Engagement von Ehrenamtlichen. Die vielen von den Maßnahmen besonders negativ Betroffenen, etwa in Handel und Gastronomie haben sich insgesamt auch bemerkenswert kooperativ verhalten, aufwendige Hygienekonzepte entwickelt u. ä.

Allerdings sind auch in Hinblick auf die Gesellschaft einige Schattenseiten zu nennen:

Je länger die Krise andauert, umso mehr bröckelt die Bereitschaft, fürs Ganze Opfer zu bringen, treten die Eigeninteressen wieder stärker hervor. Das scheint mir allerdings nur menschlich zu sein. 18 Monate Alarm- oder Ausnahmezustand sind kaum durchzuhalten.

Bedenklicher finde ich, dass ganze Berufsgruppen die Krise als Chance zur Bereicherung nutzten und darin von der Politik auch noch unterstützt wurden.

Ein Beispiel die Apotheken:  Der Staat zahlt einen Maskenpreis von 6 €, die Kosten pro Maske betragen aber nur 1,60 €. Allein im Rahmen dieser Aktion sind 2,1 Milliarden € an die Apotheken bezahlt worden, pro Apotheke mehr als 100.000 € (So der Bundesrechnungshof nach SZ vom 11.06.21)

Ähnliches spielt sich gerade mit den Impfausweisen ab. Hier scheint ebenfalls ein strukturelles Problem zu liegen, jedenfalls insofern, als staatlicherseits offensichtlich davon ausgegangen wird, dass eine Gemeinwohlorientierung nicht mehr vorausgesetzt werden kann und besonders attraktive materielle Anreize für erforderliche Tätigkeiten wie Testen, Impfen etc. geschaffen werden müssen.

Schließlich sind auch die Fälle offener Korruption und simplen Betrugs zu nennen. Bsp. etwa die Unionsabgeordneten, die sich die Vermittlung von Maskendeals mit hohen Beträgen vergolden ließen, oder die kriminellen Abrechnungen von Tests, die gar nie durchgeführt wurden.

Gerade vor dem Hintergrund der insgesamt doch hohen Solidaritätsbereitschaft, die sich bei vielen Menschen gezeigt hat und der wir es zu verdanken haben, einigermaßen gut durch die Krise gekommen zu sein, sind diese Fälle umso empörender. 

Ein weiterer, letzter Punkt: In der Pandemie wurde deutlich, dass wir mittlerweile in einer Gesellschaft leben, in der Einstellungen und Weltbilder weit auseinandergehen. Dieser Pluralismus der Lebensweisen und Werte kann im Alltag meist gut überbrückt werden, droht sich in Krisenzeiten aber zu Spaltungen und Polarisierungen zuzuspitzen. Das wurde m. E. deutlich an dem doch bemerkenswert großen Zulauf von sog. Querdenkern und Corona-Leugnern.  Weit verbreitete latente Einstellungen wie Misstrauen gegenüber der Schulmedizin oder Skepsis gegenüber wissenschaftlichen Experten scheinen sich in Krisenzeiten mit Hilfe der sozialen Medien zu alternativen Weltanschauungen zu verdichten und zu verfestigen. Oft ist dann die einfache Verständigung über Tatsachen kaum mehr möglich. M. E. hilft da jedoch Tabuisierung und Ausgrenzung nicht weiter. Im Großen und Ganzen hat eine öffentliche Auseinandersetzung stattgefunden, die auch Gegenstimmen zu Wort kommen ließ und damit das „Abrutschen“ in die geschlossenen Echokammern des Netzes noch in Grenzen halten konnte.

So weit sind wichtige Aspekte der Frage nach der gesellschaftlichen Solidarität noch gar nicht thematisiert. In diesem Zusammenhang sind noch kurz zu nennen:

  • Die Befürchtung, die Pandemie führe zu einem „roll back“ in den Geschlechterverhältnissen, nach dem Motto: Frauen zurück ins Haus.
  • Die Anzeichen für eine im wirtschaftlichen Bereich sehr ungleiche Verteilung von Gewinnern und Verlierern der Krise – Stichwort Versandhandel, Amazon macht Rekordgewinne, Einzelhändlern und kleinen Geschäftsleuten droht der Ruin.
  • Die Beobachtung, dass bereits vorher bestehende soziale Spaltungen zwischen arm und reich, besser und weniger gut Gebildeten durch die Krise vertieft und verfestigt würden. Das gilt insbesondere für den Bereich der schulischen Bildung. Bspw. aber auch dadurch, dass akademische Berufe meist bessere Möglichkeiten zum ‚Homeoffice‘ haben als handwerklich Arbeitende oder Dienstleistungen, bei denen körperliche Präsenz erforderlich ist, weshalb die entsprechenden Gruppen auch unterschiedlich stark von der Pandemie betroffen wurden.

 

3. Diskussionsbeiträge

Hat sich in dieser Krise das politisch-demokratische System bewährt?

  • Problematisiert wird u. a. die Rolle der Medien im Verlaufe der Corona-Pandemie. Der Eindruck sei gewesen, der öffentliche Widerspruch Einzelner fand in den Medien mehr Resonanz als die überwiegende Zustimmung derer, die nach wie vor die Corona-Maßnahmen mittragen, wenn auch phasenweise nicht mehr mit der inneren Zustimmung wie in der Anfangsphase. Fehler und Reibungsverluste seien medial stärker transportiert worden als erzielte Erfolge. Es wurde ebenso die Meinung vertreten, dass es in den öffentlich-rechtlichen Medien sowie in regionalen wie überregionalen Tageszeitungen über die gesamte Zeit im Großen und Ganzen eine umfassende und weitgehend objektive Berichterstattung gegeben habe. Ein Teilnehmer regt an, das Thema „Rolle der Medien“ einmal eigens zu thematisieren.
  • Auffallend sei, dass in den aktuellen Wahlprogrammen aller Parteien das Thema Föderalismus keine Rolle spielt, obwohl sich im Verlaufe der Krise gezeigt hat, dass das föderale System, insbesondere im Zusammenhang mit der Bewältigung der ‚zweiten Welle‘ mit dem Instrument der Ministerpräsidentenkonferenz die Krise nicht mehr verlässlich genug steuern konnte. („Viele Köche verderben den Brei.“) Voraussetzung für nachhaltige politische Entscheidungen sei eine gründliche sachliche Klärung. Dazu sei es Voraussetzung, dass sich die Politik vor einer Entscheidung ausreichend Informationen, z. B. von Wissenschaftlern und Experten, einholt, um verlässlich und angemessen entscheiden zu können, ebenso unerlässlich sind klare Verantwortlichkeitsstrukturen. Das Problem war, dass mit der MP-Konferenz letztlich keiner die Verantwortung übernommen hat. Jedenfalls ist nicht bekannt, welche Rolle welcher MP gespielt oder was der/die Einzelne gefordert hat.
  • Das föderale System Deutschlands wurde aber auch entschieden verteidigt. Zum einen sei es durchaus leistungsfähig, gerade auch im Vergleich zu den politischen Systemen der Nachbarländer, zum anderen sei die im Impuls kritisierte Nähe der Landesregierungen zu Interessengruppen kein Nachteil. Organisierte Interessen seien ein wichtiger Teil der Demokratie und nicht zu verteufeln. Es sei eher positiv, wenn im Föderalismus die Landesregierungen näher an den Interessengruppen seien als die Zentralregierung.
  • Eine Krise ist immer auch die Stunde der Exekutive, da rasche Entscheidungen nötig sind. Bei einer früheren und umfassenderen Beteiligung der Parlamente, so wurde argumentiert, hätte möglicherweise der dringend nötige Entscheidungsprozess zur Bewältigung der Pandemie zu lange gedauert. Dennoch entstand dadurch der Eindruck, dass demokratische bzw. parlamentarische Institutionen in Frage gestellt wurden. Trotz der berechtigten Kritik am Verfahren dürfe allerdings das föderale System nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden, vielmehr sind aufgrund dieser Erfahrung die Verantwortlichkeiten präziser zu klären. Auch in einer Pandemiephase lebt eine Demokratie vom Austragen unterschiedlicher Meinungen, Einschätzungen und Sichtweisen hinsichtlich des politischen Vorgehens. In einer Demokratie sind nie alle einer Meinung.
  • Unklarheiten zwischen Bund und Ländern offenbarten sich z. B. auch im Bereich von Bildung und Schule. So habe der Bund zur Anschaffung von Luftfiltern in den Klassenräumen erhebliche Mittel bereitgestellt, die aber bisher nur schleppend von den für die Schulen zuständigen Ländern abgerufen wurden.

 

Hat sich die Gesellschaft als solidaritätsfähig erwiesen?

  • Beklagt wird, dass im Verlaufe der Pandemie im Unterschied zur Anfangsphase die Auseinandersetzungen um den angemessenen Weg zur Bekämpfung der Pandemie stärker von Interessen und vom Lobbyismus beeinflusst wurden. Kindern und Jugendlichen oder auch dem Einzelhandel wurde viel abverlangt, während die Auflagen für Wirtschaft und Industrie nicht gleichermaßen konsequent verfolgt wurden. So wurde für Betriebe lange Zeit die Testung von Mitarbeitern nicht eingefordert, schließlich lediglich empfohlen, aber nicht verlangt. In Pandemiezeiten sei es notwendig, Lobbyismus zu begrenzen und sich stärker am gemeinwohlorientierten Wirtschaften zu orientieren, insbesondere im Gesundheitswesen.
  • Als problematisch bewertet wird das Verhalten einzelner Personen, die mit der Krise auf Kosten der Allgemeinheit ‚krumme‘ Geschäfte gemacht haben (vgl. Maskenaffäre bei CSU-Abgeordneten), ebenso die Tatsache, dass private Krankenhausträger die in dieser Krise als Ersatz für leerstehende Krankenhausbetten gewährten staatlichen Zahlungen als ‚Gewinne‘ verbucht und an Aktionäre ausgeschüttet haben. Zudem seien die Erstattungsbeiträge des Staates an die Apotheken für Masken, die an Senioren verteilt wurden, viel zu hoch gewesen. 

 

Welche Perspektiven braucht es, um die nötigen Veränderungen zu erreichen?

  • Es wird die Frage gestellt, was besser gemacht werden könnte, um im Herbst 2021 eine weitere Pandemiewelle zu verhindern. Nötig sei dafür ein präventives Management der Politik, aber auch die Mitwirkung aller durch das Einhalten von Regeln. Als problematisch bewertet wird die nach wie vor vorhandene Impfskepsis bei nicht wenigen Bürgern, insbesondere aber in Osteuropa. Auf Unverständnis stoßen die z. T. vollen Fußballstadien bei der EM.
  • Es wird die Sorge geäußert, dass Kinder und Jugendliche bis zum Herbst noch nicht alle geimpft sind, verbunden mit entsprechenden negativen Auswirkungen auf den Kindergarten- und Schulbesuch. In den vergangenen Monaten wurden Schließungen von Kindertagesstätten und Schulen u. a. damit begründet, die Älteren in den Familien zu schützen. Nachdem inzwischen die Älteren vollständig geimpft sind, wäre dies kein Argument mehr für erneute Schließungen.
  • Auf Unverständnis stößt ein aktueller Fall in Rottenburg, dass beim Bau einer neuen Schule seitens der Verwaltung aus Kostengründen eine Lüftungsanlage abgelehnt wird.

 

4. Abschluss (Karl Schneiderhan)

  • Abschließend dankt Karl Schneiderhan Winfried Thaa für den Einstiegsimpuls sowie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern für die engagierte Diskussion.
  • Der nächste Gesprächskreis findet statt am Montag, 26.07.2021, bis auf weiteres im Cafe Stadtgespräch in der Stadtbibliothek.

 

Rottenburg, 02.07.2021

gez. Karl Schneiderhan

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