Förderverein Stadtbibliothek Rottenburg

27.04.2021: Praktische Formen der Bürgerbeteiligung

1. Begrüßung und Einführung (Wolfgang Hesse)

Was ist mit Bürgerbeteiligung gemeint?

Bürgerbeteiligung meint jede Form der Einbeziehung von Bürgerinnen und Bürgern in politische Entscheidungsprozesse. Neben Bürgerinnen und Bürgern können auch Organisationen oder Institutionen Akteure sein, z. B. Kommunen, Bundesländer und Bund sowie Wirtschaft oder Zivilgesellschaft. Entscheidend ist:

  • Bürgerinnen und Bürger werden als solche einbezogen, nicht nur Funktionsträger, Experten, Repräsentanten oder Interessenvertreter,
  • Beteiligte können tatsächlich etwas beisteuern und sind nicht nur Empfänger,
  • Das Verfahren wird von der Politik und/oder Verwaltung sowie von externen Moderatoren unter Einbeziehung von Expertenwissen begleitet.
  • Aufwand und Nutzen stehen in einem gesunden Verhältnis zueinander.

Warum ist ‚Bürgerbeteiligung‘ aktuell ein Thema?

  • Pluralisierung der politischen Interessen,
  • Komplexität der Fragestellungen und Herausforderungen,
  • Vertrauensverlust gegenüber Entscheidungsträgern der repräsentativen Demokratie,
  • Interessenlagen oder Konfliktlinien verlaufen nicht zwischen Parteien oder nach dem Links/Rechts-Schema, es bestehen eher Schichten und Milieus übergreifende kulturelle und ökologische Konfliktlinien.

Wozu Bürgerinnen und Bürger beteiligen?

Ziel einer Bürgerbeteiligung ist die Mitgestaltung politischer Entscheidungsprozesse. Gründe dafür können sein:

  • Bedürfnisse und Probleme zu identifizieren,
  • Ideen und Vorschläge für Maßnahmen zu erhalten,
  • Umsetzungshürden für Vorhaben zu entdecken,
  • Bürger in die Erbringung von Leistungen einzubeziehen,
  • Interessens- und Sachkonflikte abzubauen,
  • integrative Funktion eines Prozesses zu stärken und
  • Legitimation von Entscheidungen zu garantieren.  

Was sind gelingende Bedingungen für Beteiligung?

  1. Gestaltungsspielraum

Gute Beteiligung nutzt vorhandene Gestaltungsspielräume. Kann durch Beteiligung keine Veränderung bewirkt werden, ist es zweckmäßiger, sich auf traditionelle Kommunikationsstrategien zu beschränken. Dient Bürgerbeteiligung lediglich dem »Akzeptanzmanagement« bereits feststehender Entscheidungen, führt dies zu Enttäuschungen bei den Beteiligten. Daher sind die Rahmenbedingungen zu Beginn des Prozesses zwischen den beteiligten Akteuren auszuhandeln. Zur Transparenz gehört auch, strukturelle oder finanzielle Grenzen eines Verfahrens bzw. hinsichtlich von Zuständigkeiten zu benennen. Was ist gestaltbar und veränderbar, was nicht?  

  1. Wille zur Beteiligung auf Seiten der Entscheidungsträger

Eine konstruktive Grundhaltung aller beteiligten Akteure ist Grundvoraussetzung für das Gelingen solcher Prozesse. Dieser wird erschwert, wenn bspw. Verwaltung oder Entscheidungsträger nicht bereit sind, den Beteiligten tatsächlich zuzuhören oder sich zu wenig auf die Beiträge einlassen.

     3. Zeit für Planung und Umsetzung

Erfolgreiche Bürgerbeteiligung braucht Zeit für Vorbereitung, Diskussion, Erarbeitung und Umsetzung. Zu kurze Zeitspannen erschweren die Rekrutierung der Teilnehmenden und lassen weniger Zeit, den Prozess zu planen und an lokale Gegebenheiten anzupassen.

  1. Personelle und finanzielle Ressourcen

Bürgerbeteiligungsprozesse bedeuten zusätzlichen Aufwand für alle Beteiligten. Für den Erfolg sind daher wichtig die Sicherung ihrer Finanzierung und ausreichende personelle Ressourcen, u. a. Expertenwissen.

  1. Bürgerbeteiligung garantiert die Mitwirkung aller Akteure

Bürgerbeteiligung braucht die Mitwirkung aller relevanten Akteursgruppen, um eine Repräsentation der Gesellschaft bzw. Kommune sicher zu stellen.

Wie Bürgerinnen und Bürger beteiligen?

Es gibt zahlreiche Modelle, wie die Bürgerschaft beteiligt werden kann. Das gewählte Verfahren muss zu den jeweiligen Zielen und Rahmenbedingungen des Projektes passen. Um die geeignete Methode zu finden, sind im Vorfeld folgende Fragen zu klären:

  • Welche Ziele sollen mit der Beteiligung erreicht werden? Welcher Mehrwert wird dadurch erreicht?
  • Wer ist zu beteiligen und wer eventuell nicht oder gesondert?
  • Wie viele Personen sollen beteiligt werden?
  • Wie viel Zeit, Personal und Geld stehen zur Verfügung?
  • Wie werden im Prozess ggf. bestehende Interessenskonflikte zwischen verschiedenen Gruppen thematisiert bzw. bearbeitet?
  • In welcher Weise und womit bringen sich betroffenen Zielgruppen ein?

 

2. Stadtkonzeption 2030 und zum Bürgerrat „Schlachthof“ (Karin Frech)

 

 

 

3. Diskussion zur Stadtkonzeption 2030 und zum Bügerrat Schlachthof

Seitens der Teilnehmenden gab es folgende Einschätzungen bzw. Anregungen:

  • Eine Frage bezog sich auf die Auswahl der an der Planwagenaktion und den Werkstätten Teilnehmenden. Es wurden Bedenken geäußert hinsichtlich des Zufallsprinzips und doch wieder nur die schon Engagierten sich einbringen und weniger bisher Außenstehende gewonnen wurden bzw. bestimmte Bevölkerungsgruppen außen vor bleiben. Eher weniger beteiligt waren wohl junge Leute oder Einwohner mit Migrationshintergrund. Es wird auch darauf hingewiesen, dass die Zahl der Beteiligten (insbesondere, wenn man noch die Gremienvertreter abzieht) im Verhältnis zur Gesamteinwohnerzahl eher als gering zu werten ist. Gefragt wurde zudem, wie man Menschen mit Migrationshintergrund besser einbinden könne? Hilfreich dafür wäre auch eine einfachere und leichte Sprache.
  • Für jeden Organisationsentwicklungsprozess wird ein zeitlicher Rahmen gesetzt, um innerhalb dieses Zeitrahmens die für das Gelingen eines Prozesses bzw. die Zielerreichung notwendige Spannung und Dynamik zu garantieren. Aufgrund der Corona-Pandemie konnte der geplante Zeitrahmen so nicht gehalten werden.
  • Im Vergleich zur Stadtentwicklungskonzeption 2007/2008 zeigt sich, dass damals in einem ersten Schritt eine Wirkungsanalyse durchgeführt wurde, also ein Abgleich zwischen vereinbarten Zielen und der Zielerreichung bzw. der Umsetzung der geplanten Projekte. Auch gab es damals bereits eine breite Bürgerbeteiligung in thematischen Workshops, allerdings insgesamt verbunden mit weniger personellem, zeitlichen und finanziellen Aufwand. Die Frage an den derzeit laufenden Prozess ist, inwieweit dabei Aufwand und Nutzen einander entsprechen. Die Frage wurde aufgeworfen, wann und wo es möglicherweise ein zu viel an Bürgerbeteiligung gibt.
  • Im aktuellen Prozess war die Phase der Sammlung von Ideen sehr breit angelegt, während in den Vertiefungswerkstätten, die den Auftrag hatten, konkrete Ergebnisse bzw. Projekte zu erarbeiten, der Zeitrahmen zu knapp bemessen war, so auch in der Vertiefungswerkstatt ‚Mobilität und alternative Verkehrsmittel‘.
  • Aufgefallen sei, dass in den Werkstätten viele, z. T. (ehemalige) Ortschaftsräte und Gemeinderäte dabei waren, die ohnehin bereits in den offiziellen Gremien Mitglied sind. Zudem wirkten auch frühere Erfahrungen mit Beteiligung bzw. Nicht-Beteiligung nach, z. B. Herdweg oder Flugfeld Baisingen. Frau Frech wertet im Hinblick auf die Ergebnisse nach ihrer Erfahrung es als positiv, dass sich Gremienvertreter in den sog. Vertiefungswerkstätten beteiligt haben. Zudem habe es für den Bereich Jugend gesonderte Werkstätten gegeben.
  • Der sog. Bürgerrat ist eine neue Form repräsentativer Demokratie zwischen der Entscheidungsebene der Gremien und den plebiszitären Elementen wie Bürgerentscheid oder Bürgerbegehren. In einem Bürgerrat ist die Bevölkerung repräsentiert und des stehen keine Parteien bzw. Fraktionen gegenüber, was eine sachbezogene Diskussion befördert. Ein ‚Bürgerrat‘ eignet sich insbesondere bei konkreten Projekten, die zudem kontrovers diskutiert werden, weniger bei allgemeinen Themen.
  • Herr Stiegler bestätigt diese Einschätzung als ausgewählter Teilnehmer am Bürgerrat Schlachthof. Dieser wurde professionell begleitet, es gab eine Auftaktveranstaltung, danach einen ganztägigen Klausurtag sowie eine Schlussveranstaltung. Es ging dabei primär nicht um den alten Schlachthof oder wie soll der Neue aussehen, sondern um die Fragen: Was ist notwendig in unserem Raum, was ist nachhaltig, was zahlt der Kunde? Ist das eine kommunale Aufgabe? Was ist nötig, dass ein neues Modell vom Kunden angenommen wird? Der Bürgerrat sei super organisiert gewesen.

Im Nachgang hat Frau Frech zu Fragen betr. der Installation eines Bürgerrates beim Thema ‚Schlachthof‘ folgende Antworten zugesandt:

  • Warum wurde das „Instrument“ Bürgerrat zu diesem Thema installiert? Bei vergleichbaren Themen hätte es auf dem Stand der Diskussion eine Bürgerversammlung gegeben, die aber Corona-bedingt nicht denkbar war. Also hat man nach anderen Formaten gesucht, wie die Bürger*innenansicht eingeholt werden kann; die Bürgerversammlung hätte Gelegenheit zu Fragen und zur Diskussion geboten, der Bürger*innenrat erschien uns als gutes Instrument, ein ähnliches Ergebnis in kleinerem Rahmen zu erzielen, das auch digital durchführbar ist.
  • Warum gerade zu diesem Zeitpunkt der Diskussion oder wäre er zu einem früheren Zeitpunkt sinnvoller gewesen? Es gab zuvor bereits eine Arbeitsgruppe zum Thema Schlachthof. Der Bedarf dafür hat sich erst in der Arbeitsgruppe so deutlich herauskristallisiert.
  • Welchen Mehrwert versprach man sich von dem Bürgerrat? Ziel war vor allem, ein Gefühl für die Bürger*innenansicht zu bekommen, also nicht Expert*in und nicht politische/r Akteur*in, die beide in der Regel mit stark vorgefertigten Meinungen auftreten. Entsprechende Leserbriefe und Redebeiträge haben deutlich gemacht, dass gerade Interessenvertreter*innen für sich beanspruchen, die Bürger*innenansicht zu vertreten. Uns war aber wichtig, ein eigenes Bild darüber zu verschaffen und der Bürger*innenrat hat sich in der Hinsicht sehr bewährt.

 

4. Von der Wut zum Wissen – Der Bürgerdialog in Ostbelgien auf Landesebene (Wolfgang Hesse) als Beispiel für Bürgerbeteiligung

(Quelle: „Die Wut zähmen“, DER SPIEGEL Nr. 49 / 28.11.2020)

Aus Zeitgründen konnte dieses im Rahmen eines Gesetzgebungsverfahrens praktizierte Modell nicht mehr diskutiert werden.

Das Parlament der deutschsprachigen Gemeinschaft Ostbelgiens in Eupen hat beschlossen, Gesetze nicht mehr nur von Politikern, sondern auch von den Bürgern selbst entwerfen zu lassen. Dieses Parlament ist vergleichbar mit dem Landtag eines hiesigen Bundeslandes.

Seit Februar 2019 können die Bewohner der deutschsprachigen Gemeinschaft Ostbelgien jederzeit eine Bürgerversammlung zu einem Thema ihrer Wahl einberufen. Für die Teilnahme an der Bürgerversammlung werden 50 Bürger ausgelost, die sich an jeweils 4 freien Samstagen mit einem speziellen Thema beschäftigen und eine Entscheidungsempfehlung für das Parlament erarbeiten müssen. Die Beschlüsse dieser Gruppe sind für den Gesetzgeber (Parlament) zwar nicht bindend, aber die Politik muss sich die Beratungsergebnisse dieser 50 Bürger auf jeden Fall anhören. Beschließen dann die Politiker etwas Anderes, als die von der Bürgerversammlung vorgelegte Empfehlung, sind sie dem Volk eine Erklärung schuldig.

Die Mitglieder einer Bürgerversammlung sind jedoch nicht ganz zufällig ausgelost: Das Verhältnis zwischen Männern und Frauen, Alt und Jung entspricht in etwa der Verteilung der Bevölkerung in der Region Ostbelgien. Die Teilnehmer der Bürgerversammlung sind keine Experten für das Thema, das sie bearbeiten sollen. Soll die Bürgerversammlung z.B. eine Reform der Altenpflege anstoßen, müssen sich die Teilnehmer in das Thema einarbeiten. Dafür stehen ihnen Informationsmaterial und Experten zur Verfügung. Die Bürgerversammlung soll nicht nur für sich, sondern für alle Bewohner der deutschsprachigen Gemeinschaft sprechen.

In traditionellen politischen Informationsveranstaltungen kann man immer wieder die gleichen Leute sitzen sehen. Die Enttäuschten und die Zweifelnden kommen erst gar nicht. Der Graben zwischen denen, die traditionell in der Politik entscheiden und denen, über die entschieden wird, wird immer größer. Daher sollen in der Bürgerversammlung gewöhnliche Bürger politische Entscheidungen treffen. Der Ansatz geht zurück auf das Buch des Autors David van Reybrouck „Gegen Wahlen“, in dem er fordert, gewählte Politiker durch Laien zu ersetzen.

Befragungen haben gezeigt, Bürger, die an solch einem Bürgerdialog teilnahmen, glaubten anschließend stärker an die Demokratie und entwickelten mehr Verständnis für die Sichtweise der politischen Gegner. Dies bestätigt, dass in diesem Weg eine Integrationskraft steckt und vorhandene Wut in etwas Produktives umgewandelt werden kann. Teilnehmer an einem Bürgerdialog wurden neugieriger, aufgeschlossener und entwickelten mehr Verständnis für eher komplizierte, gesellschaftliche Zusammenhange, können diese besser verstehen und fühlen sich gesehen und wertgeschätzt.

 

5. Abschluss (Wolfgang Hesse)

Mit dem Dank an Frau Frech für ihren Impuls zur Stadtkonzeption 2030 und zum Bürgerrat ‚Schlachthof‘ sowie an die Teilnehmenden für die engagierte Diskussion beschließt Wolfgang Hesse den Gesprächskreis.

Rottenburg, 29.04.2021

Karl Schneiderhan

 

 

 

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