26.01.2021: Buchvorstellung Berhard Pörksen: Die große Gereiztheit - Wege aus der kollektiven Erregung

 

1. Begrüßung und Einführung

Herr Schneiderhan begrüßt die (digital) Anwesenden, bedankt sich für deren Interesse und gibt zunächst einige technische Hinweise zum Ablauf der Sitzung. Inhaltlich verweist er zum einen auf die Bedeutung des Themas, die nicht ausschließlich zeitbezogen sei. Auch früher sei in Parteien davon gesprochen worden, „die Hoheit über die Stammtische zurückzugewinnen“. Die Grenzen zwischen Wahrheit und Fiktion waren da schon fließend. Heute allerdings hätten sog. Fake-News eine weit größere Reichweite und gravierendere Auswirkungen.

Zum zweiten sei das Thema noch aktueller als zur Zeit der vor einigen Monaten getroffenen Entscheidung, dieses im Gesprächskreis zu diskutieren. Sowohl die Besetzung des Kongressgebäudes in Washington durch einen aufgebrachten Mob als auch die Demonstrationen von Corona-Leugnern hierzulande hätten gezeigt, welch tendenziell tödliche Konsequenzen Fake News und die Verbreitung von Unwahrheiten haben können. Bernhard Pörksen sieht daher diese Pandemiesituation auch als Chance dafür, Wissenshierarchien und den Umgang mit Fake News neu zu arrangieren. Denn das Faktische erhalte eine neue Bedeutung: So wie der Mensch sauberes Wasser brauche, brauche er auch klare Informationen zu Tatsachen.

Vor diesem Hintergrund entwickle Bernhard Pörksen in seinem viel beachteten Buch „Die große Gereiztheit“ anhand von fünf Krisenzonen eine Diagnose der öffentlichen Kommunikation sowie die Utopie einer „redaktionellen Gesellschaft“, in der jeder über journalistisches Grundwissen verfügt und die Rückkehr zu Wahrheitsorientierung und Transparenz möglich werde. Pörksen wirbt für einen „kommunikativen Klimawandel“.

Bernhard Pörksen ist seit 2008 Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen und derzeit auch Direktor des Instituts für Medienwissenschaft. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören u. a. Medienwandel im digitalen Zeitalter, Medienethik, Kommunikationsmodelle. Er hat dazu zahlreiche wissenschaftliche Beiträge veröffentlicht und promovierte mit einer Doktorarbeit über die Sprache von Rechtsextremisten.

 

2. Impuls Wolfgang Hesse

 

  1. Einführung

Niklas Luhmann: „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.“

Sascha Lobo: „Was wir über die Welt wissen, wissen wir aus einem kleinen Bildschirm, der uns sozial, redaktionell, und algorithmisch aufbereitete Informationen präsentiert, dabei Sensationelles, Zugespitztes. Radikales tendenziell bevorzugt, was durch die Echokammern der Netzöffentlichkeit selbstverstärkend wirkt.“

Anfang 2016 schlug der „Fall Lisa“ hohe Wellen: Ein 13-jähriges russisch-stämmiges Mädchen in Berlin erfand, nachdem es eine Nacht nicht daheim war, eine Entführung und Vergewaltigung durch angeblich südländisch aussehende Männer. Berichte über den „Fall Lisa“ verbreiteten sich rasend schnell in den „sozialen“ und konventionellen Medien und sorgten für einen riesigen Wirbel. Es kam zu flüchtlingsfeindlicher Hetze und als Antwort darauf zu nicht minder aggressiven Gegenreaktionen. Der übliche Lagerkrieg setzte ein, ausgleichende oder warnende Stimmen drangen, wie so oft, kaum durch. Russlanddeutsche demonstrierten in verschiedenen Städten gegen die vermeintlich zu lasche Flüchtlingspolitik in Deutschland. Am Ende mischte sich sogar noch der russische Außenminister Sergej Lawrow ein, was die diplomatischen Spannungen zwischen Deutschland und Russland weiter verschärfte. Schließlich kam heraus, dass sich das Mädchen wegen schulischer Probleme einfach nicht nach Hause getraut hatte, weshalb die Eltern eine Vermisstenanzeige aufgegeben hatten.

Es sind Fälle wie dieser, die den Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen von der »großen Gereiztheit« der modernen Mediengesellschaft sprechen lassen. Mit diesem Begriff lehnt er sich an eine Kapitelüberschrift aus Thomas Manns »Der Zauberberg« (1924) an, der sich auf die blank liegenden Nerven der Insassen eines Schweizer Sanatoriums am Vorabend des Ersten Weltkriegs bezieht.

Pörksen beschreibt in seinem Buch fünf Krisenzonen der modernen kommunikativen Infrastruktur, die er für unsere Gereiztheit verantwortlich macht:

 

Diese fünf Krisendiagnosen bilden den Schwerpunkt des Buches. Er widmet sich in einem sechsten Kapitel der Frage, wie wir mit den Entwicklungen in der modernen Kommunikation umgehen und was wir ihnen entgegensetzen sollten. Pörksen sieht hier eine bisher noch nicht erkannte Bildungsherausforderung und entwickelt eine Utopie der redaktionellen Gesellschaft. Wir folgen hier der Beschreibung der fünf von Pörksen vorgelegten Krisendiagnosen und kommen am Ende auf seine Empfehlungen von Gegenmaßnahmen zu sprechen.

 

  1. Die Wahrheitskrise

Informationen mit unklarer Herkunft

Ähnlich wie in einem Turing-Test kommuniziert der vernetzte Mensch konstant mit einer Vielzahl von Quellen, „deren Absicht und Interessen, deren Integrität oder Status - Mensch oder Maschine, neutraler Beobachter oder Propagandist - sich nicht sicher einschätzen lässt“. Der vernetzte Mensch wird immer wieder vor das Problem gestellt, ob er die zahlreich verbreiteten Falsch- und Fehlinformationen überhaupt erkennen kann. Dafür ein Beispiel: Die Niederländische Kunststudentin Zilla van den Born hat im Jahre 2014 vorgeführt, wie man Verwandte und Bekannte hinters Licht führen kann.

Man muss in dieser Lage die Möglichkeit der Täuschung prinzipiell in Rechnung stellen, verfügt jedoch kaum über die Möglichkeit einer privaten Authentizitäts-kontrolle. Heute kann jeder mit irgendeiner Software (z.B. Photoshop oder durch die Nachbearbeitung von Videos) bequem kleine Fälschungen erstellen und diese ohne großen Aufwand in die öffentlichen Kreisläufe einspeisen. Also gehört die Annahme, man könne in der öffentlichen Sphäre leicht getäuscht werden, inzwischen zum Alltagswissen oder zumindest zur Alltagsahnung der Medien-Konsumenten.

Informationswäsche – was ist wahr, was ist falsch?

Das Geschäft mit den Falschnachrichten (Fake-News) besteht im Versuch einer gezielten Verwirrung, die letztlich die Unterscheidung von belegbaren Annahmen und bloßen Gerüchten untergräbt.

Eine Untersuchung aus dem Jahre 2016 ergab, dass bis zu 75% der Amerikaner, die mit Fake-News konfrontiert wurden, die nicht unmittelbar als Lüge zu enttarnen vermochten, sondern sie für mehr oder minder zutreffende Beschreibungen der Realität hielten. Fake-News lassen sich nur schwer korrigieren, eher stabilisiert der Versuch einer Korrektur eine einmal vorhandene Fehlüberzeugung. Auf stark genutzten Plattformen, wie etwa Facebook, treffen eine Vielzahl von wahren und falschen Informationen zusammen. Dies verstärkt den Eindruck, man habe es mit schein-bar gleichwertigen Informationen zu tun.

Angst vor dem postfaktischen Zeitalter – Leben mit der informationellen Verunsicherung

Beim Charakterisieren unserer Epoche ist oft vom postfaktischen Zeitalter die Rede. Pörksen hält diese Sichtweise für geschichtsblind, weil sie unterstellt, dass die Wahrheit früher einmal das beherrschende Regulativ von Politik und sozialem Miteinander gewesen sein soll. Weiterhin suggeriert diese Einschätzung, man sei selbst im Besitz der Wahrheit bzw. könne Wahrheiten überhaupt exakt erfassen. Eher sind die Erfahrungen einer informationellen Verunsicherung und der Eindruck einer prinzipiellen Fraglichkeit von Wissen und Wahrheit unvermeidlich.

Die Gesetze digitaler Medien

Das Unerwartete, z. B. eines Attentates oder Anschlags erzeugt zusammen mit dem Geschwindigkeitsrausch der vernetzten Welt und dem Bedürfnis nach sofortiger Klärung ein Nachrichten-, Faktizitäts-, Interpretations- und Visualisierungsvakuum.

Es wird deutlich, dass die Gesetzte der Informationsverarbeitung das menschliche Bedürfnis nach Gewissheiten destabilisieren können, weil sich in Hochgeschwindigkeit Unsicherheit und diffuse Bedrohungsszenarien erzeugen lassen.

Bestätigungsdenken

Jeder, der mag, kann sich nun sein eigenes Sinnfeld erschaffen, innere Stabilität und größeres Selbstbewusstsein im Austausch mit anderen gewinnen und den jeweiligen Bestätigungsfehler leicht übersehen. Das kann positiv sein, wenn sich z. B. Menschen austauschen, die ein spezielles Hobby haben, unter Diskriminierung oder einer seltenen Krankheit leiden. Aber auch der fanatische Jäger und Sammler kann Gleichgesinnte finden, die seine bizarre, möglicherweise gewaltorientierte Weltsicht plausibel oder mehrheitsfähig erscheinen lassen.

Das Netz begünstigt – im Vergleich zu den anderen Medien – die ideologische Selbstversiegelung der Menschen, es ist aber nicht daran „schuld“, denn das hieße die Verantwortung des Einzelnen zu negieren.

 

  1. Diskurskrise – oder die Schwächung des klassischen Journalismus

Von der Mediendemokratie zur Empörungsdemokratie

Jeder ist heute zum Sender geworden und kann mit wenig Aufwand öffentlich machen, was ihn bewegt. Damit tritt eine neue Publikationsform neben den klassischen Journalismus, die ihn umgeht und schwächt. Suchmaschinen und soziale Netzwerke ermöglichen die Verbreitung der von Millionen Privatleuten verfassten Einträge und Dokumente. Dabei sorgt eine algorithmische Filterung für eine Auswahl, die von außen nicht mehr nachvollziehbar ist. Auch dadurch wird der klassische Journalismus geschwächt: Er verliert seine Funktion als Gatekeeper (Pforte-Wächter) des öffentlichen Diskurses.

Die Möglichkeit der Desinformation bei gleichzeitiger Informationsflut hat zur Folge, dass sich allmählich eine neue Form der Diskussionsöffentlichkeit herausbildet, die „Empörungsdemokratie“ genannt werden soll. In der Mediendemokratie alten Typus besaßen die publizistischen Großmächte die maximale Deutungs- und Inszenierungsautorität. Sie ordneten die Vielfalt der Informationen, sie prüften Quellen, sie sortierten Inhalte, sie entschieden über ihre Bedeutung und Publikationswürdigkeit. Das Publikum war hier eher passiver Konsument.

Während die Zahl der Informationsquellen, die von der Welt handeln, in der wir leben, explosionsartig gewachsen ist, befinden sich die Printmedien, besonders die Tageszeitungen in einem verschärften Existenzkampf. Speziell jüngere Konsumenten rezipieren Nachrichten überwiegend in sozialen Netzwerken. Parallel dazu nimmt das Vertrauen in die journalistische Informationsleistung ab, Stichworte sind etwa: „Lügenpresse“, „Staatstroll“, „Lobbyhure“.

Verschlechterung des Kommunikationsklimas

Wurden am Anfang die neuen Möglichkeiten des Austausches und der Gemeinschaftsbildung des Netzes gefeiert, so wurde sehr bald erkannt, dass im Netz auch eine Verwahrlosung und Verpöbelung des Diskurses stattfindet.

Einen Grund dafür sieht Pörksen im Wegfall der Filter- und Sortierungsfunktionen des klassischen Journalismus. Dieser setzte gewissermaßen Standards für das gesellschaftlich Sagbare. Mit dem Wegfall oder der Schwächung dieser Funktion haben sich die Grenzen des Sagbaren verschoben. Zugleich entwickelte sich die „Attraktivität des großen Verdachtes“ und Konspirationsphantasien wurden einflussreicher. Begünstigt wird diese Entwicklung dadurch, dass nahezu jeder ohne großen Aufwand Meinungen anonym veröffentlichen kann und dass eine unmittelbare persönliche Reaktion eines Gesprächspartners fehlt. Das Gefühl der Anonymität enthemmt.

Parallel dazu steigen die Ängste vor Bedrohungen aus dem Internet. 73% der erwachsenen Internetnutzer gaben an, jemanden zu kennen der schon bedroht wurde, und 40% haben selbst solche Bedrohungen erlebt. Der Einzelne ist zum Regisseur seiner Welterfahrungen geworden, er konstruiert sich aus der Unzahl verfügbarer Quellen seine private Wirklichkeit. Die Zustimmung von anderen steigert das Vertrauen in das eigene Urteil. So entstehen Feinbilder gegenüber verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen wie z.B. Flüchtlinge, Minderheiten, Journalisten und Politiker und „denen da oben“.

Die vielen Gesichter der fünften Gewalt

Sollte bis hierher das Bild entstanden sein, dass die digitale Öffentlichkeit nur von pöbelnden Empörungsjunkies und Verrückten bevölkert ist, wäre dies einseitig und falsch. Die fünfte Gewalt, - nach Exekutive, Judikative, Legislative und traditionellen Journalismus ist schön und hässlich. So setzen die vernetzten Vielen eigene Themen, liefern Anregungen, spüren Trends auf, die dann auch von den klassischen Medien aufgegriffen werden. Sie greifen Fehler in der Berichterstattung anderer Medien auf und betreiben eigene Recherchen. Man trägt gemeinsam nach dem Prinzip Crowdsourcing – der Sammelarbeit im Schwarm – detektivisch Bruchstücke eines Informationspuzzles zusammen und organisiert sich blitzschnell um ein Erkenntnis- oder Enthüllungsziel.

Die Macht der freien Publizisten

Lässt diese fünfte Gewalt sich eigentlich zur Rechenschaft ziehen bzw. kontrollieren? Nein, Netzwerkeffekte lassen sich nicht personalisieren, es gibt nicht den Einzelnen zentralen Akteur, der die alleinige Verantwortung trägt. Vielmehr entfaltet sich die Macht der vernetzten Vielen im verflochtenen Wirkungsketten und im energetischen Zusammenspiel unterschiedlichster Kräfte. Greenpeace nutzte 2010 zum ersten Mal die Macht sozialer Netzwerke offensiv als Kampagnenmedium gegen Nestle. Nestle konnte auf diesem Wege dazu gebracht werden, auf den Palmöleinkauf bei Anbietern zu verzichten, die in illegale Urwaldrodung in Indonesien verwickelt waren. Die freien Publizisten prägen also mit unterschiedlichen Absichten und Anliegen, mal gelassen und mal wütend, mal konstruktiv und mal destruktiv das öffentliche Gespräch, das die Gesellschaft über sich führt.

 

  1. Die Autoritätskrise - oder die Schmerzen der Sichtbarkeit

Ausweitung der Beobachtungszone

Am 11.09.2016 verlässt Hillary Clinton vorzeitig eine Veranstaltung, wartet auf ihren Wagen, erleidet einen Schwächeanfall und wird dabei von ihren Mitarbeitern gestützt. Ein Hobbyfotograph filmt diese Szene mit seinem Handy und postet das Video auf Facebook. Diese gerade einmal 20 Sekunden Film sorgen in der Folge für heftige Diskussionen, wie geeignet Frau Clinton für eine mögliche Präsidentschaft ist. Das steigert bis hin zu einer globalen Aufregung.

Im Verbund mit den klassischen Medien entsteht so eine grell ausgeleuchtete Welt, in der kaum etwas verborgen bleibt. Mikrophone und Kameras gefährden zunehmend die Unterscheidung von Hinter- und Vorderbühne zum Schaden von Autoritätspersonen und mit dem Effekt der öffentlichen Blamage. Die Grenzen zwischen Öffentlichem und Privaten werden fragil und porös.

Kollateralschäden der Transparenz

An jeder Straßenecke können Beobachter lauern, mit einem leistungsfähigen Smartphone in der Hand. Etwa 40.000 Fotos werden in jeder Minute auf Instagram gepostet, Weiteres wird auf Facebook, Flickr oder Snapchat verbreitet. Innerhalb von 24 Stunden sind es weltweit 1.6 Millionen Bilder. Da findet fast jeder irgendein passendes Symbol- oder Beweisbild für seine Ideen. Pörksen betrachtet die stark ausgeweitete Transparenz als ambivalent: Dient sie zum Aufdecken von Machenschaften und Korruptionen ist sie notwendig und wünschenswert, während sie in anderen Bereichen, wie etwa bei schwierigen Verhandlungen unangebracht ist.

Wo liegt das Problem?

Hierarchien werden von solchen Medien gestützt, die eine klare Trennung zwischen privatem und öffentlichem Verhalten einer Autoritätsfigur ziehen. Die indiskreten Medien der Gegenwart wirken als Instrumente der Enttäuschung, der Entidealisierung, sie zerstören Charisma und produzieren permanente Enthüllungen. Die kaum mehr kontrollierbare Präsenz der Vergangenheit, die von Zufällen geprägte Macht des Anarchivs (ein anarchisches Archiv) beeinflussen das Bild von Politikern in einer kaum vorhersagbaren Art und Weise.

Autorität wird zum Resultat eines unvermeidlich fragilen Konsenses, es entwickelt sich ein permanenter Verdacht gegen „die da oben“. Aus dieser Situation gibt es für Politiker kaum ein Entrinnen, ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung steht auf dem Spiel.

Wie soll man sich in dieser Situation verhalten? Wegen des hohen Beobachtungsdruckes flüchten sich Politiker gern in Floskeln, in eine blasse Rhetorik, um öffentliches Aufsehen zu vermeiden. Auf der anderen Seite steht der Kumpeltyp, der sagen will „Seht her, ich bin ganz normal und offen! Und schließlich finden wir das Modell Trump: Er versucht die Macht der Transparenz durch kalte Ignoranz und die offensive Verhöhnung moralischer Maßstäbe zu kontrollieren.

Auf Dauer führt die Enttäuschung über Autoritätsfiguren zu einer neuen, weniger idealisierten Vorstellung über gesellschaftliche Institutionen. Es könnte also sein, dass wir lernen, Autoritäten mehr als ganz normale Menschen mit ihren Stärken und Schwächen wahrzunehmen. Zunächst aber werden wir mit der fortwährenden Enttäuschung und der Wut über das vermeintliche moralische Versagen der politischen Eliten leben müssen.

 

  1. Die Behaglichkeitskrise – oder der Kollaps der Kontexte

Filter Bubble und Filter Clash

Als am 22.Juli 2016 am Olympiaeinkaufszentrum in München Schüsse fielen, rasten die Meldungen durch die neuen und alten Medien. Auf Twitter und in den sozialen Netzwerken hagelt es Terrorwarnungen. Es wurde gemeldet, im Zentrum Münchens würde geschossen. 11.300 Tweets wurden in dieser Nacht veröffentlicht, bis zu 336 in einer Minute. Für ein paar Stunden schien es, als sei ganz München in den Händen von Terroristen.

Diese Ereignisse sind ein Indiz dafür, wie schnell sich unter den aktuellen Medienbedingungen Erregung in Panik zu verwandeln mag. Es wird deutlich, dass Vernetzung oft mit Verstörung einhergehen kann, was Pörksen als FilterClash bezeichnet. Filter Clash meint, „dass unterschiedliche Varianten der Weltwahrnehmung in radikaler Unmittelbarkeit aufeinanderprallen, verursacht und forciert durch die intensiv vernetzte Kommunikation“. Mit dem Konzept der Filter Bubble wird dagegen gemeint, dass man durch personalisiert ausgefilterte Informationen „gleichsam in einen Tunnel der Selbstbestätigung hineingelockt wird“. Aber auch im eigenen, von Vorfiltern geprägten Informationsuniversum wird die Idylle der Unerreichbarkeit durchbrochen vom „Terror des Augenblickes“.

Die exzessive Handynutzung, in Extremfällen etwa 6-10mal die Minute, erzeugt wegen der Angst etwas zu verpassen, einen Zustand nervöser Aufmerksamkeit und gespannter Wachheit.

In der vordigitalen, primär von Printmedien bestimmten Welt gab es einen deutlich ausgeprägten Modus der Informationsstrukturierung. Nicht alle Menschen konnten alles sehen – es gab größere Hindernisse, um an bestimmte Informationen zu kommen. In der vernetzten Welt wird potentiell Allen alles gezeigt, alles wird sichtbar. Die immerwährende Konfrontation mit anderen Lebenswelten und Lebensmöglichkeiten lässt Forderungen nach Gerechtigkeit und Gleichbehandlung lauter werden. Man weiß ja nun, wie die anderen leben. Auf alle Fälle führt die Vernetzung die große Zahl derjenigen, die am allgemeinen Kommunikationsrauschen teilnehmen, in ein kollektives Erleben von Differenz und Dissonanz und verletzt das Gefühl der selbstgenügsamen Behaglichkeit.

Digitale Schmetterlingseffekte

Schon minimale Anlässe können, wenn sie sich mit Reizthemen verbinden, maximale Effekte erzeugen und ein explosives Gemisch aus Erregung und Gewalt hervorbringen, das in keinem proportional erscheinenden Verhältnis mehr zu den auslösenden Momenten steht.

Unter den Bedingungen weltweit vernetzter Kommunikation wird die Konflikt-eskalation erleichtert und die Konfliktvermeidung oder Konfliktschlichtung erschwert, ja selbst Versuche der Konfliktschlichtung können eskalieren.

Vom Aufstieg der Emotions- und Erregungsindustrie

Digital-Publizisten, die die Technologien der Trend- und Themenanalyse und die Tricks der Emotionalisierung beherrschen, sind zu mächtigen Instanzen der Themensetzung geworden. Heute lässt sich genau messen, welche Schlagzeilen geklickt, welcher Artikel bis zu welchem Absatz gelesen werden und wie oft einzelne Themen oder Texte geteilt und kommentiert werden und auf welche Weise sich der gesamte Wahrnehmungs- und Lebenszyklus einer Geschichte entwickelt. Damit können Wünsche, Bedürfnisse und Interessen von Menschen umfassend erkannt und bedient werden. Wichtig wird, was bewegt. Bedeutsam erscheint, was auf eine sofort verständliche, unmittelbare Art und Weise aufwühlt.

So kann kaum eine politisch umfassend informierte Öffentlichkeit entstehen. Sie braucht das breite Bild eines Themas, dessen Strukturierung und Einordnung, sowie empirisch abgesicherte Informationen. „Wenn wir nicht aufpassen, entwickeln wir das psychologische Äquivalent zur Fettleibigkeit und konsumieren infolgedessen Inhalte, die für uns selbst und die Gesellschaft höchst unvorteilhaft sind.“ (Medienwissenschaftlerin Danah Boyd).

Das falsche Lob der Ignoranz

Es haben sich natürlich auch Verweigerungsbewegungen herausgebildet, die den Informations- und Interaktionszwängen der schönen neuen Netzwelt zumindest auf Zeit zu entkommen suchen (z. B. Evgeny Morozov oder Bücher, wie „Ohne Netz“ und „Ich bin dann mal offline“). Pörksen nennt diese Versuche die „Wiederherstellung der Behaglichkeitszone“, bzw. die Verwandlung „des Weltproblems Informationsorganisation in ein persönliches Wellnesskonzept“. Er empfiehlt hingegen, dass der Einzelne und die Gesellschaft eine „Art Gefühls- und Erregungsdidaktik erfinden müssen, die einen klügeren und sorgfältigeren Umgang mit Affekten gestattet.“

 

  1. Die Reputationskrise

Der digitale Pranger

In der klassischen Medienwelt waren allein die moralischen „Verfehlungen“ von hochgestellten Personen und Institutionen skandalwürdig. In der allmählich entstehenden Empörungsdemokratie werden nun auch Unbekannte, Ohnmächtige und gänzlich einflusslose Personen, auch aus dem unmittelbaren persönlichen Umfeld, an den Pranger gestellt. Rezipienten können aufgrund bruchstückhafter Informationen mit zweifelhaftem Wahrheitsgehalt unmittelbar Spott, Ablehnung oder Tadel auszulösen. Eine klärende Einordnung ist dann ebenso wenig möglich, wie eine Rechtfertigung der Beschuldigten.

Das Publikum kann heute unmittelbar mit Hilfe von Tweets, Wikis und Web-Einträgen, dem eigen Smartphone oder auch einer Digitalkamera Öffentlichkeit herstellen. In der Zeit der mächtigen Leitmedien dagegen entschieden Journalisten über eine Veröffentlichung von möglichen Skandalen und das Publikum hatte eine eher passive Rolle. Heute ist die Strittigkeit der kommunikative Normalfall „jedenfalls in segmentierten, in eine Vielzahl von Auffassungen, Ideologien und Glaubensrichtung zerfallenen Gesellschaften wie der unseren.“ (Roland Hitzler). Der Skandal wird zur öffentlich manifestierten, regelhaft heftig umstrittenen Ansichtssache sehr unterschiedlicher medialer (und ich möchte hinzufügen, kultureller und sozialer) Milieus.

Erfahrung des Kontrollverlustes

Der Kontrollverlust besteht im Verlust der Fähigkeit, das eigene Image zu steuern. Es ist die Erfahrung von Ohnmacht und Ausgeliefertsein, die der Einzelne oder auch eine Organisation in dieser Gemengelage macht. Kontrollversuche – d. h. Versuche, das eigene Image zu kontrollieren, Kontrollverschiebung durch Suchmaschinen und Plattformen sowie schließlich der Kontrollverlust strukturieren die Kommunikation insgesamt. In der Folge investieren Einzelne, Unternehmen und Staaten massiv in Marketinganstrengungen und Imagekampagnen, um einem möglichen Kontrollverlust zu entgehen. Reputations- und Skandalmanagement sind im digitalen Zeitalter ein eigenes Geschäftsfeld geworden. Und trotzdem können Kontrollversuche oftmals den Kontrollverlust erst recht produzieren.

Balanceakt der Aufklärung

Versinkt nun die Welt im Dauerspektakel, wie die Kulturpessimisten meinen? Vertreter der funktionalistischen Skandaltheorie nehmen an, dass Grenz- und Normverletzungen eine Moralkommunikation im Modus der Abgrenzung initiieren und letztlich den Zusammenhalt der Gesellschaft stärken könne. Die Vertreter der negativistischen Skandaltheorie erkennen im Skandal keinen Anstoß zur positiven Neuordnung der Verhältnisse. Der Skandal ruiniert das Leben der Betroffenen und erschüttert das Systemvertrauen. Pörksen meint, dass beide Ansätze blind für die Ambivalenz von Skandalisierungsprozessen sind, denn Enthüllungen sind weder per se gut oder schlecht: mal taugen sie zur Aufklärung und stürzen Mächtige mit guten Gründen, mal dienen sie der Gegenaufklärung und befördern sinnlose Spektakel.

 

  1. Die konkrete Utopie der redaktionellen Gesellschaft

Prinzipien der redaktionellen Gesellschaft

Wie sollte man den unerwünschten Folgen der modernen Netzkommunikation begegnen? Reicht es aus, an eine sensiblere Moral des Users zu appellieren, nicht alle Inhalte mal eben gedankenlos weiterzugeben? Tatsächlich ist die Verantwortung für die öffentliche Sphäre heute auch in das Lager derer gerückt, die einst das Publikum waren. Pörksen sieht in der aktuellen Situation des Medienumbruches einen bisher noch nicht verstandenen Bildungsauftrag, der jedoch allen Playern der öffentlichen Welt, also den Einzelnen ebenso wie den Journalisten und Lenkern der Informationsströme in sozialen Netzwerken gilt. Es sind also alte und neue Gatekeeper in den Blick zu nehmen. Die Antwort auf diese Fragen sieht er in der Utopie der redaktionellen Gesellschaft. In der redaktionellen Gesellschaft sind die Normen und Prinzipien eines ideal gedachten Journalismus zum Bestandteil der Allgemeinbildung geworden, was jeden Akteur dazu animiert, die Folgen der eigenen Kommunikation kompetent zu reflektieren.

Was sind die „Lernziele“?

 

Wahrheitsorientierung

Beschreiben mit Hilfe von unterschiedlichen, voneinander unabhängigen Quellen, was vorhanden ist.

Skepsis

Die eigene Weltanschauung in Zweifel ziehen und vorschnelle Urteile vermeiden.

Verständigungs- und Diskursorientierung

Um zu verstehen, muss man die Einsichten das Anderen überhaupt erst mal zur Kenntnis nehmen, „man höre auch die andere Seite“.

Relevanz und Proportionalität

Erkennen, welche Geschehnisse bedeutsam und berichtenswert sind (publizistische Kartografie).

Kritik und Kontrolle

Ist eine Veröffentlichung, die einen anderen Menschen womöglich verletzt und in Extremfall beschädigt, im Sinne der Kritik- und Kontrollfunktion der Medien angemessen und gerechtfertigt?

Ethisch-moralische Abwägung

Es ist immer abzuwägen, ob man z. B. die Nationalität oder die Religion eines Menschen, der verdächtig ist, ein Verbrechen begangen zu haben, erwähnt oder nicht.

Transparenz

Das Publikum sollte jede nur erdenkbare Möglichkeit haben, die Qualität der vermittelten Information einzuschätzen.

 

Ausweitung der publizistischen Verantwortungszone

Pörksen schlägt für die Erziehung zur Medienmündigkeit ein eigenes Schulfach, die Medienerziehung, vor. Inhaltsschwerpunkte sollten z. B. sein: die Entstehungsgeschichte der Digitalisierung, eine Machtanalyse der digitalen Welt, die erkenntniskritische Sensibilisierung (Irrtumswissenschaft) und schließlich die Praxis des Mediengebrauchs in der digitalen Welt.

Journalisten müssen sich von der Idee der „asymmetrischen Belehrung“ verabschieden und zum Zuhörer, Moderator oder gleichberechtigten Zuhörer werden. Da Informationen sich nicht mehr nur in eine Richtung verbreiten, muss sich die Berufsauffassung von Journalisten hin zu einem „dialogischen Journalismus“ verändern.

Soziale Medien und Plattformen müssen verfügbar und einschätzbar werden. Wir müssen wissen, wer auf welche Weise mit welchen Interessen Informationen auswählt, personalisiert und gewichtet. Der Einzelne sollte gegenüber diesen Medien eine „Filtersouveränität“ entwickeln. Dazu müssen Plattformen sich eigene, detailliert ausbuchstabierte Richtlinien und Ethikkodizes geben, die der öffentlichen Diskussion zugänglich sind. Plattformen brauchen in jedem Land ein Ombudsgremium des Publikums.

 

  1. Resümee

„Ohne ein gemeinsames Hintergrundwissen, ohne geteilte Überzeugungen, die keiner näheren Rechtfertigung bedürfen und den Realitätstest bestanden haben, lassen sich Dissense und kulturelle Differenzen nicht diskutieren.“ (Nida-Rümelin/Weidenfeld, Digitaler Humanismus, München 2018, Seite 158)

 

3. Gesprächsbeiträge und Diskussion

 Herr Schneiderhan schlägt vor, die Diskussion in zwei Blöcke zu gliedern, zunächst die Analyse und Diagnose Pörksens zu diskutieren und danach auf seine Utopie der redaktionellen Gesellschaft einzugehen.

Zu Pörksens Krisenanalyse:

Zu Pörksens Utopie der redaktionellen Gesellschaft

 

4. Abschluss

Im Zusammenhang öffentlicher Kommunikationsstrukturen hat das Stichwort ‚Wahrheit‘ für Pörksen eine besondere Relevanz. Dazu abschließend ein Zitat aus der NZZ, welches ‚Wahrheit‘ in Beziehung zur ‚Wachheit‘ setzt: „Wer Fakes zur Wahrheit adelt, hat die postmoderne Ideologie des «Anything goes» auf seiner Seite. Daher ist die Gegnerin des Fakes weniger die Wahrheit als die Wachheit – genauer: die kämpferische Solidarität aller Wachgebliebenen.“

Mit dem Dank an Wolfgang Hesse als Impulsgeber und an die Teilnehmenden für die engagierte Diskussion beschließt Karl Schneiderhan den Gesprächskreis.

 

Rottenburg, 01.02.2021

Winfried Thaa

 


 

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