Förderverein Stadtbibliothek Rottenburg

30.06.2020: Sind wir als Bürger gut informiert? - Informationspolitik und Öffentlichkeitsarbeit in Zeiten der Corona-Krise durch Presse/Medien sowie Politik und Wissenschaft

 

1. Begrüßung

Karl Schneiderhan begrüßt die Teilnehmer/innen und als Impulsgeberin Angelika Bachmann vom Schwäbischen Tagblatt und Redaktionsleiterin der Rottenburger Post. Er weist drauf hin, dass auch der demokratische Diskurs „systemrelevant“ ist und der Politische Gesprächskreis in diesem Sinne Aufklärungsarbeit leistet.

 

2. Impulsvortrag von Angelika Bachmann

Wie werden wir in 20 Jahren auf die Zeit der Corona-Krise zurückblicken? Was werden wir dann wissen, was wir jetzt (noch) nicht wissen? Als Journalistin arbeite ich im Jetzt, mit den Informationen, die jetzt zur Verfügung stehen. Die Informationsmöglichkeiten sind – im Vergleich zu vor 20 Jahren – immens. Wir haben aber nur eine begrenzte Kapazität an Zeit und Verarbeitungsfähigkeit. Die Bewertung, Gewichtung und Einordnung der Informationen (von Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, privaten Erfahrungen) wird deshalb immer wichtiger.

Am 26. Februar 2020 wurden im Kreis Tübingen die ersten beiden Corona-Fälle offiziell registriert, bei einem Oberarzt der Pathologie und seiner Tochter, die aus Italien zurückgekommen waren. In den ersten beiden Märzwochen lagen die Fall-Zahlen überschaubar im Zehnerbereich. Seit dem ersten Fall veröffentlichte das Schwäbische Tagblatt täglich einen Live-Blog online, der oft schon morgens um 6 Uhr die ersten Nachrichten online stellte und abends um 11 die letzten Meldungen zum Tag brachten. Dieser Live-Blog erreichte ausgesprochen hohe Abrufzahlen. Fester Bestandteil des Live-Tickers wurde dieses täglich aktualisierte Diagramm:

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Es zeigt die Anzahl der bestätigten Infektionen (kumuliert seit Beginn des Ausbruchs) in den Landkreisen Reutlingen und Tübingen. Grundlage sind die täglich veröffentlichten Zahlen der Gesundheitsämter Tübingen und Reutlingen, die jeweils zum Abend veröffentlicht wurden.

Bei der Informationspolitik und den veröffentlichten Zahlen gab und gibt es keine standardisierte Vorgehensweise der Landratsämter. Tübingen zum Beispiel veröffentlichte die Zahl der Infizierten und der Todesfälle, mittlerweile einmal pro Woche die Zahl der Genesenen. Reutlingen veröffentlicht mittlerweile zusätzlich einen 7-Tage-Überblick, Inzidenz der letzten sieben Tage pro 100000 EW, der Anzahl der neu auftretenden Erkrankungen während eines bestimmten Zeitraums. Jeder Landkreis geht unterschiedlich vor!

Zudem gibt es die Zahlen des UKT – da sind aber nicht nur die Einwohner des Landkreises Tübingen erfasst, sondern Patienten generell, die auch aus anderen Landkreisen kommen. Daraus können sich auch vermeintliche Unstimmigkeiten bei Zahlen ergeben, wenn es z. B. um Todesfälle geht.

Diese Statistiken vermitteln indes nicht nur Fallzahlen und rationales Wissen, sie wecken auch Gefühle wie Angst oder Hoffnung.

 

In einem geänderten Diagramm werden jetzt wöchentlich auch die Zahlen der Genesenen als grüner „Hoffnungsbalken“ angegeben.

Es gibt eine weitere Statistik, die das Tübinger Landratsamt einmal wöchentlich veröffentlicht: Die Aufgliederung der Fälle nach Gemeinden. Fragen, die uns als Journalisten immer wieder gestellt werden: Wie sieht es bei uns im Dorf aus?  Sind die neu gemeldeten Todesfälle bei uns im Ort? Wie geht es den Corona-Erkrankten im Pflegeheim? Hier gibt es einen grundsätzlichen Konflikt zwischen Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit und dem Datenschutz.

Kranksein ist eine Privatsache. Das hat die Öffentlichkeit und das haben auch wir als Journalisten zu respektieren. Es gibt eine Ausnahme: Wenn jemand, der für das Funktionieren des Staatswesens eine Rolle spielt, dies aufgrund einer Erkrankung nicht mehr wahrnehmen kann, ist das ein Fall für Berichterstattung. Aber auch dann muss dem Erkrankten über die grundsätzliche Information hinaus Privatheit zugestanden werden. (Beispiel: Das „Zittern“ der Kanzlerin.)

Ein weiterer markanter Punkt auf der Zeitachse ist der 19. März 2020. An diesem Tag wurden in Medien Bilder von Militärlastern gezeigt, die in der norditalienischen Stadt Bergamo Tote zu Krematorien außerhalb der Stadt brachten. Diese Bilder gingen wirklich jedem durch Mark und Bein: Verstorbene in Militärlastern, einsam gestorben, in Anonymität verbrannt. Ich kenne wirklich niemanden, den diese Bilder kalt gelassen hätten. Kaum etwas hat hierzulande die Angst so forciert, die Disziplin für alle kommenden Einschränkungen so befeuert wie diese Bilder aus Bergamo. Wir lernten, was das Wort Triage bedeutet. Und jeder dachte bei sich: Bitte lass es hier nicht so kommen wie in Bergamo!

Seither gab es viele Analysen und Reportagen, die der Frage nachgegangen sind, warum die Todesraten in Bergamo derart hoch waren. Wieder einmal bestätigt sich, dass Krankheiten und ihre Verbreitung nicht nur medizinisch zu beurteilen sind, sondern ebenso sehr soziale, wirtschaftliche und kulturelle Aspekte zu berücksichtigen sind. Im Fall Bergamo heißt das nachzufragen: Welche Varianten des Virus (eventuell eine frühe, aggressive Form?) hat sich in Norditalien verbreitet? Welche Rolle spielten Großereignisse wie das Achtelfinale der Champions League und die engen Geschäftsbeziehungen der norditalienischen Betriebe zu China? Das Leben in Großfamilien, in denen Hochrisikogruppen kaum geschützt werden können? Die strukturellen Schwächen eines kaputtgesparten Gesundheitssystems, in dem Patienten aus Mangel an Krankenhausbetten in Altenheime (!) verlegt wurden?

22.März 2020: Hier zeigt das Diagramm für den Landkreis Tübingen eine Lücke. An diesem Tag wurde bekannt, dass viele der Corona-Tests, die auf dem Tübinger Festplatz gemacht wurden, nicht ausgewertet wurden. Es war der Zeitpunkt, an dem die Situation auch hier im Landkreis kippte. Ab diesem Zeitpunkt wuchs die Kurve der Fallzahlen exponentiell. Hatte man bis dahin versucht, die einzelnen Krankheitsfälle von den übertragenden Personen zurückzuverfolgen und Kontaktpersonen zu identifizieren, war spätestens hier klar, dass das nicht mehr möglich ist. Von da an ging es hauptsächlich darum, besonders Gefährdete zu schützen.

Am Sonntag, 22. März wurde zudem bekannt, dass es ein erstes Pflegeheim im Kreis Tübingen gab, bei dem ein Corona-Ausbruch festgestellt wurde: Pflegestation im Rottenburger Kapuzinergarten. Träger des Pflegeheims im Kapuzinergarten ist die KBF. Das zweite Pflegeheim, das in Rottenburg einen Ausbruch hatte, das Haus Stäble in Remmingsheim, wird von der Hospitalstiftung betrieben.

Behörden sind gegenüber der Presse auskunftspflichtig. Das garantiert das Pressegesetz. Private Unternehmen, zu denen auch Sozialunternehmen gehören, sind dagegen gegenüber Journalisten nicht auskunftspflichtig. Sie geben Auskunft, wenn sie denken, dass es ihrem Unternehmen nützt. (Das nennt sich dann PR. Die Unterscheidung von Information und PR gehört zu den grundlegenden Aufgaben des Journalismus.) Oder wenn es, wie in diesem Fall, wichtig ist, um Spekulationen und falsche Informationen zu verhindern.

Sind wir gut informiert?  Es gibt zu Corona überwältigend viele, sich zum Teil auch widersprechende und „halbfertige“ Informationen wie Zwischenstände von medizinischen Studien. Das Problem ist: Wir können sie nicht abschließend und eindeutig bewerten. Das führt zu Unsicherheit.

Zudem gab und gibt es eine gewisse Unübersichtlichkeit. Irgendwann wusste niemand mehr, wann man sich wo, privat, geschäftlich, in der Gaststätte, auf dem Marktplatz mit wie vielen Leuten treffen durfte. Wie viele Leute in einem Auto fahren durften.  Oder was gerade die Studienlage über das Infektionspotenzial von Kindern war, etc. Ständige Neuerungen von Landesverordnungen, kommunalen Ausführungsanordnungen, bundesweiten Absprachen (oder auch nicht) führten zu Verwirrung bei Privatleuten wie Politikern gleichermaßen.

„Gut“ informiert zu sein heißt für mich deshalb: Sich bewusst sein, dass man nicht „abschließend“ informiert sein kann, sondern sich ständig – auch in Hinblick auf eine mögliche zweite Welle im Herbst – immer mit neuen Entwicklungen auseinanderzusetzen hat. Aber das gilt ja nicht nur für Corona.

 

3. Diskussionsbeiträge der Teilnehmer/innen (Zusammenfassung)

 

Informationen in der Krise

Wie können wir die vielen Informationen bei der gegebenen großen Bandbreite von Meinungen besser bewerten? Zu viele widersprüchliche Informationen führen in der Bevölkerung eher zu einer Verunsicherung. Es gibt ein Bedürfnis nach klarer Orientierung und gesicherten Informationen durch Experten und Politiker. Diesem versucht das Schwäbische Tagblatt nachzukommen, indem Informationen eingeordnet sowie Zusammenhänge und Hintergründe erläutert werden. Die Welt bzw. in diesem Fall auch die Corona-Krise sind aber kompliziert. Daher müssen wir auch in dieser Situation mit einem Mindestmaß an Komplexität leben und Informationen dürfen deshalb auch nicht zu stark vereinfacht werden.

Ein anderer Aspekt ist, dass die Medien durch ihre Berichterstattung zu einer erhöhten Wachsamkeit beigetragen haben und so die Bürger selbst Verantwortung für ihre Gesundheit übernehmen konnten und auch übernommen haben.

Hätte man nicht Informationen für Migranten in verschiedenen Sprachen, z.B. auf Stellwänden besser aufbereiten müssen? Um den Lesern eine bessere lokale Risikoabschätzung zu ermöglichen, hätten die absoluten Infektionszahlen in Beziehung z. B. zur regionalen Einwohnerzahl gesetzt werden können. Erst sehr spät wurde die Zahl der Genesenen und die Statistik der Sterbezahlen im Verglich zu früheren Jahren ergänzend veröffentlicht. So konnte erst nach und nach ein angemessenes Bild von der realen Gefahrensituation entstehen.

Verkaufen sich Meldungen über Katastrophen besser, haben Medien eher das Interesse an Aufmerksamkeit als an Fakten? Verbreiten die Medien eher Angst als sachliche Informationen? Mit Zahlen und Fakten wird ein bestimmter Eindruck erweckt und damit Politik gemacht. Wer entscheidet, was „systemrelevant“ ist und was ist dann mit denen, die als nicht „systemrelevant“ gelten. Frau Bachmann verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass es Pflicht der Medien ist, in großer Bandbreite über „Neues“ zu berichten und nicht nur über beliebte Themen.

 

Wissenschaft

Wäre es nicht besser, sich nur auf die Zahlen und Fakten einer „objektiven Wissenschaft“ zu verlassen? Dem steht entgegen, dass es auch in der Wissenschaft keine letzte „objektive“ Wahrheit gibt. In der Wissenschaft gehören Zweifel und Diskussion dazu. Erst durch das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Forschermeinungen und unterschiedlicher Forschungsergebnisse entsteht ein Wissensfortschritt. Zu Beginn der Corona-Krise verfügte auch die Wissenschaft noch über sehr wenig gesicherte Erkenntnisse. Folglich mussten Wissenschaftler und Politiker ihre Entscheidungen in einer Situation der Ungewissheit treffen. Am Anfang der Corona-Krise waren ganz überwiegend Virologen zu hören, erst später wurden die weiteren Folgen bzw. Auswirkungen der Krise auch von Psychologen, Ökonomen und Journalisten in den Blick genommen. Aus diesem Grund hätten Politiker ihr Nichtwissen deutlicher kommunizieren und die getroffenen Maßnahmen besser als vorläufig darstellen sollen.

 

Folgen der Krise

Das Vertrauen der Bevölkerung in die von der Politik getroffenen Maßnahmen war insbesondere zu Beginn der Krise hoch und es herrscht auch heute noch der Eindruck vor, dass Deutschland gut durch die Krise gekommen ist. War man am Anfang der Krise bereit, Einschränkungen zu akzeptieren, machen vielen Menschen diese Einschränkungen nun zunehmend zu schaffen. In den letzten Wochen stieg die Unzufriedenheit mit den Corona-bedingten Einschränkungen. Auch viele Journalisten waren zu Beginn der Krise der Meinung, dass die Krise von der Politik gut gemanagt wurde. Inzwischen melden diese aber an einer Reihe von Einschränkungen der Grundrechte zunehmend Zweifel an. Es wurde u. a. deutlich, dass Interessen der Kinder zu wenig Beachtung fanden, da der Schulbesuch für deren Entwicklung wichtig ist und die Kultusbürokratie eher ratlos agierte.

Der Meinungswandel in der Bevölkerung lässt sich auch dadurch erklären, dass zu Anfang der Krise die Bedrohung der eigenen Gesundheit als sehr hoch eingeschätzt wurde. Erst im Laufe der Krise hat sich gezeigt, dass das eigene Risiko eher geringer ist und die negativen Folgen der Einschränkungen zu überwiegen scheinen. Es ist ja nichts passiert. Hier haben wir es mit dem Vorsorgeparadox zu tun, denn gerade wegen den erfolgreichen Vorsorgemaßnahmen ist in Deutschland relativ wenig passiert.

Die wirklichen Folgen von Corona für Wirtschaft, Kultur und Bildung sind noch nicht absehbar. Diese können aber auf Zukunft hin gravierend sein. Offenbar war ein Teil der Familien mit „Homescooling“ und „Homeoffice“ überfordert. Wirtschaftlich hat es besonders Soloselbstständige, prekär Beschäftigte sowie Teile der Mittelschicht getroffen

 

4. Schlusswort

Herr Schneiderhan bedankt sich bei den Teilnehmern und bei Frau Bachmann für die interessanten Beiträge. Obwohl die im Zusammenhang mit Corona entstandenen Probleme und Defizite nach einer Lösung verlangen, werden wir damit leben müssen, dass es keine fertigen Antworten gibt. Ein gewisses Maß an Ungewissheit müssen wir in Zeiten von solchen Veränderungsprozessen aushalten.

 

Rottenburg, 10.07.2020

Wolfgang Hesse

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