18.02.2020: Was kann die Bahn leisten? Ist sie ein Verkehrssystem mit Zukunft?

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Gesprächspartner: Gerhard Schnaitmann, Bevollmächtigter des Landes

Moderation: Prof. em. Dr. Winfried Thaa

Protokoll: Karl Schneiderhan

 

1. Warum ist das Thema politisch relevant?  

Bahnfreunde wie Politik fordern, insbesondere aus ökologischen Gründen, eine Verkehrswende und setzen verstärkt auf das Verkehrssystem ‚Bahn‘. Derzeit nutzen immerhin noch 69% der Berufspendler das Auto, nur 14% den ÖPNV.

Angesichts aktueller Entwicklungen und vor allem des Bildes, das die Bahn derzeit abgibt sowie ihres ramponierten Rufes, stellt sich jedoch die Frage, inwieweit die Bahn diese Wende überhaupt leisten kann. So traten in jüngster Zeit im Raum Stuttgart zu Unpünktlichkeit, technischen Problemen und dem zum Teil miserablen Zustand der Waggons noch das Chaos zahlreicher ungeplanter Zugausfälle, u. a. auch auf der Strecke TÜ-Stuttgart, wo lt. Schwäbischem Tagblatt im Jahre 2019 dies 1933 Mal der Fall war. Ist die ‚Bahn‘ in der Lage, aufgrund solcher Zustände die nötigen Kapazitäten zu schaffen und nennenswerte Teile des Individualverkehrs zu ersetzen?

Ziel des Gesprächskreises war es, die systemischen Bedingungen des Systems ‚Bahn‘ sowie strukturelle Ursachen des Zustandes besser zu verstehen. Es ging primär um die Fragen: Was kann bzw. könnte die Bahn leisten? Was steckt im System Bahn drin?

 

2. In welchem geschichtlichen Kontext steht das Thema? 

Das Verkehrssystem ‚Bahn‘ wurde bereits in den 30-iger Jahren des 20. Jh. seitens der Politik vernachlässigt. Mit der Gründung der Deutschen Reichsbahn i. J. 1918 (bis dahin waren dies Länderbahnen) hat die Bahn durchaus Gewinne erwirtschaftet, musste diese aber während der Nazizeit in den Bau von Autobahnen investieren und war schließlich der Kriegswirtschaft unterworfen. Im 2. Weltkrieg wurden große Teile der Infrastruktur zerstört sowie durch ‚Siegermächte‘ abgebaut, auch das zweite Gleis der Gäubahn zwischen HOR und TUT/Hattingen.

In der Folge wurde die Bahn zudem verpflichtet, für entstandene Kriegsschäden selbst aufzukommen, eine finanzielle Bürde, die sich bis heute hemmend auswirkt. Gleiches gilt für die Reichsbahn der DDR, die noch höhere Reparationszahlungen an die Sowjetunion zu leisten hatte und zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung eine marode Infrastruktur aufwies.

In den 60-iger Jahren wurde, unterstützt von Seiten der Politik und dem damaligen Verkehrsminister Seebohm, die ‚Straßenlobby‘ immer einflussreicher, was zu einem rapiden Ausbau von Autoindustrie und Straßenwegen führte unter gleichzeitiger Vernachlässigung der ‚Schiene‘. So wurden bereits zu dieser Zeit Strecken stillgelegt. Stark betroffen davon war der Norden, wo flächendeckend Landstriche von der Schiene abgehängt wurden, BW war weniger betroffen. Solche Eingriffe zu Lasten der ‚Schiene‘ wirken nachhaltig und lassen sich im Prinzip nicht wieder gut machen, trotz aller heutiger Anstrengungen. Damals konnten immerhin die Zollernbahn sowie die Strecke Eutingen-FDS erhalten werden, die Ammertalbahn wurde inzwischen reaktiviert.

In den Jahren 93/94 folgte die Bahnreform. Im Zuge dieser Reform ging die Zuständigkeit für den Nahverkehr auf die Länder über, was für den Raum Stuttgart/TÜ/HOR ein verbessertes Zugangebot brachte, vgl. Anzahl der Züge Rottenburg-TÜ oder TÜ-S.   

 

3. Welche Erkenntnisse und Einsichten wurden gewonnen?

(Einstiegsimpuls und Diskussion)

 · Im Vergleich der Verkehrswege ‚Straße-Luft-Wasser-Schiene‘ zeichnet sich das Verkehrssystem ‚Schiene‘ dadurch aus, dass dieses restriktionsfrei funktioniert (u. a. Schiene vor Straße), zu jeder Tageszeit möglich ist, an Knotenpunkten zeitnahe Umsteigemöglichkeiten sichert und zu Stauzeiten/Berufsverkehr enorme Zeitvorteile hat. So beträgt die Fahrzeit Rottenburg-TÜ zu allen Tageszeiten nur 9 Minuten. Im Verhältnis von Stadt und Land zeigt sich: In den Ballungsräumen ist die Nutzung des ÖPNV weitaus höher als in der Fläche.

· Das Verkehrssystem ‚Bahn‘ zeichnet sich weiterhin aus durch seine Planbarkeit: Fahrpläne, Reisezeit, Leistbarkeit und Kapazität. Im Vergleich zum Flugverkehr kann die Bahn im inländischen Verkehr durchaus mithalten.

· Eisenbahnlinien sind vernetzt. Der Netzgedanke hat idealtypische Parameter, sodass ich mich als Fahrgast darin ohne Fahrplan bewegen kann. So gibt es auf der Basis von Taktzeiten an jedem Eisenbahnknoten Anschlüsse, in TÜ in Richtung HOR oder HCH/BL, in Stuttgart Hbf in Richtung Köln, Berlin, Nürnberg, Karlsruhe oder München, in HOR Richtung RW/Singen und Pforzheim/FDS. In der Regel sind Buslinien, die umliegende Gemeinden bedienen, auf diesen Takt abgestimmt. 

· Vorteile gibt es hinsichtlich der Energieeffizienz: Niedrige Rollreibung, energieeffiziente Beförderung von Gütern und Personen, allerdings mit dem Vorbehalt, dass möglichst alle bzw. die meisten Strecken elektrifiziert sind. Vorteile: Nutzen von Windenergie, keine bzw. wenig Emissionen vor Ort, weniger Lärm, Bremsenergie kann ins Netz zurückgespeist werden. Dies rechtfertigt auch die Elektrifizierung der Strecken im Raum TÜ (Ammertal-, Neckartal- und Zollernbahn). Ab einer Geschwindigkeit von 160 km/h nimmt die Energieeffizienz allerdings rapide ab. Ein Fernbus ist pro Fahrgast energieeffizienter als der ICE.

· Kennzeichen der ‚Bahn‘ ist ihre Leistungsfähigkeit. In einem Waggon auf der Strecke Ro-TÜ gibt es 74 Sitzplätze, bei zwei Waggons 150, in einem ICE ca. 800. Zwischen Rottenburg und TÜ ist pro Std. grundsätzlich eine Kapazität von ca. 1.600 Fahrgästen möglich (im Falle einer Elektrifizierung mehr), auf der Strecke TÜ-Stuttgart können Züge im Abstand von 10 Minuten fahren. Auch die Ammertalbahn zählt heute ca. 9.000 Fahrgäste pro Tag, beim Start ging man von 2.700 aus. Zwischen Herrenberg und Stuttgart fahren seit 12/2019 die S-Bahnen tagsüber, von Ausnahmen abgesehen, bereits im 15-Minutentakt. Bei dem bereits verdichteten Taktverkehr wie in der Metropolregion Stuttgart ließen sich Kapazitäten noch erweitern durch Überzuglänge oder doppelstöckige Waggons.

· Neben den genannten Vorteilen gibt es bei der Bahn allerdings auch erhebliche Störfaktoren. So fallen z. B. dieselbetriebene Lokomotiven und Fahrzeuge im Sommer wegen Erhitzung aus, besonders gravierend ist der Personalengpass bei den Lokführern. Im Unterschied zu den Busfahrern können diese ihre Fahrerlaubnis nicht in ihrer Muttersprache erwerben. Zudem gibt es weitere Anforderungen. So kann ein ausgebildeter Lokführer nicht jede Lok bzw. bei jedem Unternehmen fahren. Insbesondere bei Migranten gibt es ein Mentalitätsproblem, da die ‚Bahn‘ in deren Heimatländern eher ein Schattendasein führt, während es Busse in allen Ländern gibt.

· Das EU-Recht schreibt Ausschreibungen vor. Dies erklärt die jüngsten Neuvergaben der Konzessionen auf Strecken in BW. Der Zuschlag ging an Abellio und Go-Ahead, beide bereits im Bahngeschäft aktiv. Wegen eines Formfehlers konnte die DB Regio aus rechtlichen Gründen im Verfahren nicht berücksichtigt werden, die somit alle drei bisher bedienten Streckennetze verlor. Die mit dem Übergang auf die Neubetreiber aufgetretenen Probleme sind bedingt durch Personalengpässe bei der Anwerbung, Sicherheitsprobleme bei der Technik und verspäteter Lieferung des bestellten Wagenmaterials. Der Wettbewerb führt dazu, dass Preise sinken, die Qualität aber leidet.

· Im Zusammenhang mit der Digitalisierung ist zu bedenken, dass das sog. ETCS bisher nur im Fernverkehr genutzt wird. Ob dieses angesichts des dichten Taktes im Nahverkehr denselben Nutzen hat, ist noch offen. Vorteile könnte die Digitalisierung vor allem in der Fahrzeugbereitstellung bringen. Im Übrigen gibt es auf der Strecke TÜ-HOR mit dem Stellwerk Rottenburg seit Jahren eine Kapazitätsverbesserung.

· Der Rückbau von Gleisen und Weichen hatte zur Folge, dass Ausweichstellen weggefallen sind, so auf der Strecke nach HOR in Bad Niedernau und Mühlen, Bieringen konnte nach Protesten erhalten werden. Dringend nötig sind zusätzlich zweigleisige Ausweichstellen auf Gäu- und Neckartalbahn. Im Zuge der Elektrifizierung der Ammertalbahn werden solche eingerichtet (zwischen Entringen und Altingen und im Bereich Unterjesingen).

· Fehlende Ausweichstellen wirken sich vor allem auf den Güterverkehr negativ aus. Beim Güterverkehr hat zudem jahrzehntelang ein dramatischer Rückbau von Industrieanschlüssen und Güterbahnhöfen stattgefunden. Die Flächen sind meist überbaut, ein Umsteuern schwierig bzw. unmöglich.  

· Ist die ‚Bahn‘ im Sinne der gebotenen Daseinsvorsorge zu teuer? Der Fernverkehr finanziert sich über verkaufte Fahrkarten, der Nahverkehr über Fahrkarten und Zuschüsse (Land, Region, Landkreise). Für Kunden wirkt das Preissystem ziemlich unübersichtlich, gleichwohl gibt es durchaus attraktive Angebote, z. B. die Sparangebote in Verbindung mit der BC (für Senioren um 50% ermäßigt) oder das Naldo-Seniorenticket, bei Naldo und VVS allerdings keine Ermäßigung für BC-Besitzer.  

·  Die Schweiz wendet für die Bahn pro Kopf das Dreifache auf. Allerdings hat die CH hat weniger Einwohner als BW und IC’s fahren aufgrund der Topographie mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 70 km/h. Zudem ist beim Kauf einer Auslandsfahrkarte eine Gebühr von 10 Sfr zu entrichten und auch in der CH gibt es Kapazitätsengpässe, u. a. bei Zügen nach Mailand.  

 

 

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