29.10.2019: 30 Jahre Fall der Mauer und Ende der DDR - Chancen und Gefährdungen unserer heutigen Demokratie

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Impuls von Konstanze Helber

„Erinnerungen an eines der bedeutendsten Geschehnisse am 9. November 1989 in der deutschen Geschichte“

Friedliche Revolution, Mauerfall, deutsche Wiedervereinigung. Es wird erinnert, bilanziert, diagnostiziert, prognostiziert, viel geredet, geschrieben. Ich wurde gebeten in dieser Runde, dem politischen Gesprächskreis, zum heutigen Thema, „30 Jahre Mauerfall und Ende der DDR – Chancen und Bedrohungen für die Demokratie heute“ etwas beizutragen. 

Spontan sagte ich zu und merkte bald bei meinen Vorbereitungen zum Thema, dass ich den Mauerfall und das Ende der DDR, dieses weltweit einzigartige Ereignis, in Erinnerung bringen möchte, bevor wir über die Chancen und Bedrohungen der Demokratie reden und darüber ins Gespräch kommen.

Dem Mauerfall gingen wichtige Ereignisse voraus. Selbst war ich schon 10 Jahre in der Bundesrepublik, genauer in Rottenburg. Mein Weg in die Freiheit war mindestens genauso beschwerlich, wie der der Oppositionellen, die in der DDR etwas verändern wollten. Mit deren Intensität und den Massendemonstrationen hat das „Alt-Herrensystem“ nicht gerechnet und konnte dem Ganzen nichts entgegensetzen. Bürger gehen für ihre Freiheit und ein selbstbestimmtes Leben, für Meinungsfreiheit und Reisefreiheit auf die Straße. Verabreden sich an Plätzen und Kirchen, nehmen Plakate mit Hinweisen wie „Stasi raus, es ist aus“ oder „Stasi in den Tagebau“ (mein Lieblingsspruch) mit. Stehen sich mit der Machtzentrale Auge um Auge gegenüber und rufen gemeinsam „Wir sind das Volk“ und „Keine Gewalt“ und „Wir bleiben“. Die Kinder der mutigen Männer und Frauen bleiben versorgt zu Hause durch Angehörige oder auch schon mal, wenn das möglich ist, mit einen Zettel auf dem Küchentisch informiert „sind zur Demo und Essen ist im Kühlschrank“. Das sind Momente, die nicht in Vergessenheit geraten dürfen. Hochemotional! 

Die DDR war am Ende. Die Herrschenden konnten nicht mehr und das Volk wollte nicht mehr. Die Zeit war günstig. Noch dazu machte Gorbatschow, Perestroika, Glasnost und der Machtwechsel in Polen sowie die Grenzöffnung in Ungarn und die Geflüchteten in der Prager Botschaft die Lage dramatisch. So kam es, wie es kommen musste, was aber keiner so recht glauben wollte. Ein Versuch die DDR zu retten gab es nicht mehr, denn auch der „große Bruder“ ließ den „kleinen Bruder“ im Stich. 

Dann am Abend des 9. November löste eine unbeabsichtigte Aussage von Politbüro-Mitglied Günther Schabowski, während einer TV Pressekonferenz auf Nachfrage eines italienischen Journalisten, auch noch vor laufender Kamera, einen Ansturm auf die Grenzübergänge zwischen Ost und West aus. Der berühmte Satz „das tritt nach meiner Kenntnis - ist sofort, unverzüglich“. Schabowski hatte keine Ahnung, war nicht informiert und nun gingen die Schlagbäume hoch. Die Mauer war offen! Was folgt, wissen wir. An diese Zeit zu denken, zu erinnern ist wichtiger denn je. 100000 Menschen konnten am 22. Dezember 1989 wieder durch das Brandenburger Tor von Ost nach West. 

Und heute, nach 30 Jahren Mauerfall, sind wir „ziemlich beste Deutsche“ – sind wir das? Aus der Losung „Wir sind das Volk“ wurde schnell „Wir sind ein Volk“. Allerdings ist nach neuen Umfragen unter den Deutschen in Ost und West die Marke erst bei 57%. Immer noch fällt es dem Volk schwer, den Unterschied Ost - West außen vor zu lassen. Wie ist das nun mit der Demokratie nach 30 Jahren Mauerfall? Ist sie in Not? Hat sie Chancen, Ist sie bedroht?

 

Ich stelle die These in den Raum: 

Demokratie ist lebendig, streitbar, umkämpft und anstrengend.

Sie ist Lebens - und Gesellschaftsform.

Demokratie ist die beste Regierungsform.

Sie ist das höchste Gut, sich dafür zu engagieren lohnt sich immer.

 

Impuls von Wolfgang Hesse

Demokratie ist heute selbstverständlich. ‚Westdeutsche’, die nach 1949 geboren sind, kennen nur diese Staatsform. Diese wurde ihnen nach Ende des 2. Weltkrieges von den westlichen Siegermächten und einigen klugen deutschen Politikern geschenkt. Für die Menschen in ‚Ostdeutschland’ verlief die Entwicklung anders: Sie lebten 40 Jahre unter dem SED-Regime und erkämpften sich im Jahre 1989 mit eigenen Kräften die Demokratie. Als sich die ‚Ostdeutschen’ für die Demokratie und die Westmark entschieden hatten und Deutschland vereint war, gingen ‚Westdeutsche’ nach Ostdeutschland und zeigten ‚Ostdeutschen’, wie Demokratie und Westmark funktionieren. Diese unterschiedliche Entwicklung macht verständlich, warum viele ‚Ostdeutsche’ ein anderes Verhältnis bzw. Verständnis von Demokratie als Staatsform haben als ‚Westdeutsche’.

 

  1. Was verstehen wir unter Demokratie?

Das Wort Demokratie leitet sich ab aus den griechischen Wörtern demos (Volk) und kratein (herrschen) und meint Volksherrschaft, Herrschaft der Mehrheit oder der Vielen[1] und ist „ein Ensemble von Institutionen, die darauf abzielen, der Ausübung von politischer Macht Legitimation zu verleihen, indem diese auf drei Kernfragen eine schlüssige Antwort liefern:

  1. Wie können wir in unseren Gesellschaften Veränderung ohne Gewalt herbeiführen?
  2. Wie können wir mit Hilfe eines Systems der ‚checks and balances‘ die Machtausübenden kontrollieren und sicherstellen, dass sie ihre Macht nicht missbrauchen?
  3. Wie kann das Volk, wie können alle Bürger an der Ausübung der Macht mitwirken?[2]

Dabei ist zu unterscheiden zwischen ‚liberaler’ und ‚autoritärer’ Demokratie: Liberale Demokratie zeichnet sich aus durch freie, gleiche und geheime Wahlen, Rechtsstaatlichkeit und Geltung der Menschenrechte. Politische und bürgerliche Grundrechte sowie der Schutz individueller Freiheit vor staatlicher und gesellschaftlicher Willkür sind wesentliche Kennzeichen. In einer autoritären Demokratie schränkt die Regierung zur Erhaltung ihrer Macht Grund- und Freiheitsrechte ein, so z. B. Wahlrecht, Meinungs- und Pressefreiheit, Versammlungsrecht sowie Unabhängigkeit der Justiz.

Demokratien sind heute seltener durch Umstürze bedroht als durch eine schleichende Erosion demokratischer Institutionen und Prozesse in Folge regulärer Wahlen. Gibt es Anzeichen, wann sich eine liberale Demokratie zu einer autoritären oder gar zu einem totalitären Staat entwickelt? 30 Jahre nach dem Fall der Mauer stellt sich die Frage, ob es auch heute im vereinten Deutschland Anzeichen von Bedrohung der liberalen Demokratie gibt, die auf Verhältnisse hinweisen, wie sie Menschen in der untergegangenen DDR erlebt haben. 

 

  1. Umgang mit politisch Andersdenkenden in der DDR am Beispiel des Prager Frühlings

Am 21. August 1968 marschierten die Armeen der Staaten des Warschauer Paktes in die damalige Tschechoslowakei (CSSR) ein, um den Sozialismus in diesem Land zu retten. Nach dieser Sicht hatten in der CSSR westliche, reaktionäre und imperialistische Kräfte versucht, den sozialistischen Staat zu unterwandern und die CSSR aus dem Staatenverbund des Warschauer Paktes herauszubrechen. Als Belege für diese These wurde in den DDR-Medien u. a. angeführt, man habe in Böhmen kistenweise Maschinenpistolen gefunden, die praktischerweise noch die Adresse des Absenders, nämlich des CIA, enthielten. In der Folge entfachten die DDR-Medien eine Rechtfertigungsoffensive für den Einmarsch in der CSSR, die in der Behauptung gipfelte, die von westlichen Kräften bedrängte Führung der CSSR habe in Moskau um sozialistische Bruderhilfe gebeten. Auch in der Schule, die ich damals in Jena besuchte, wurde von den Lehrern in mehrstündigen Diskussionen versucht, die offizielle Sicht der DDR-Führung einzutrichtern.

Allerdings war dies ein wenig erfolgreiches Unterfangen, denn ca. 90% der Schüler meiner Klasse sahen abends um 20:00 Uhr die Tagesschau und eben nicht die ‚Aktuelle Kamera’ des DDR-Fern-sehens, die bereits um 19:30 lief. In den unteren Klassen versuchten die Lehrer mit der Frage, wann man denn zu Hause die Nachrichten schaue, herauszufinden, wer ‚Westfernsehen’ hat. In diesem stellte sich die Situation in der CSSR völlig anders dar: Die Parteiführung um Dubcek wollte eine Öffnung der sozialistischen Gesellschaft hin zu bürgerlichen Freiheiten wie Presse, Reise-, Rede- und Meinungsfreiheit erreichen, einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Es wurde eine Liberalisierung aller Lebensbereiche angestrebt, auch des Aufbaus der KPČ selbst. Der Zentralismus sollte abgebaut, die Machtfülle einzelner Personen reduziert werden. Die innerparteiliche Demokratie und eine Rückkehr zu einem parlamentarischen Modell mit bürgerlichen Parteien sollten aufgebaut werden. Ich selbst habe mir aus wenigen elektronischen Bauteilen ein Detektorradio zusammengelötet. Damit konnte ich nachts mit etwas Glück auf MW das deutsche Programm von Radio Prag empfangen und bekam so Informationen aus erster Hand. Der „Prager Frühling“ wurde von den Menschen in meiner Umgebung überwiegend mit Wohlwollen und Interesse verfolgt, weil für viele war.

Wie bereits bei vielen anderen Themen damals, gingen auch beim ‚Prager Frühling’ die Meinungen der DDR-Machthaber und die eines großen Teils der Bevölkerung weit auseinander. Solche Meinungsverschiedenheiten sollten in einem Staat, der sich „Deutsche Demokratische Republik“ nannte, erstmal kein Problem sein. Das Gegenteil war der Fall. Befürworter und Sympathisanten des Prager Frühlings wurden nicht angehört, sondern als Klassenfeinde diffamiert, denen es am rechten Bewusstsein für ihren Arbeiter- und Bauernstaat fehle. Das ging so weit, dass z. B. ein Klassenkamerad, der vokabelheftgroße, selbstgedruckte „Flugblätter“ mit der Aufschrift „Freiheit für Dubcek“ in Telefonzellen auslegte und dabei erwischt wurde, für 1 ½ Jahre ins Gefängnis musste.

Viele Bürger der ehemaligen DDR lebten im Zwiespalt zwischen erlebter Alltagsrealität und der in den DDR-Medien von Funktionären dargestellten Lebenswelt. So konnte man am Morgen in der Zeitung lesen, wie ein volkseigener Betrieb seine Norm mit 120% zu Ehren des Arbeiter- und Bauernstaates übererfüllt habe, fand aber beim anschließenden Einkaufen kein Klohpapier in den Regalen. Diese Widersprüchlichkeit von Dichtung und Realität war eine Quelle vieler politischer Witze und wesentliches Element im Leben jedes DDR-Bürgers. Viele entwickelten eine wahre Meisterschaft darin, sich mit ihren Äußerungen an die Grenze dessen zu tasten, „was man gerade noch sagen kann“.

Das Vorgehen der DDR-Führung in Bezug auf den Prager Frühling ist zwar politisch nicht akzeptabel, aber aus ihrer Sicht ein Stück weit nachvollziehbar, denn ein Überschwappen der Ideen des Prager Frühlings hätte möglicherweise eine Destabilisierung der DDR bedeutet. So aber schaffte es die DDR-Führung in den Jahren 68/69 noch, etwa 20 Jahre die ‚Ruhe’ im Lande zumindest an der Oberfläche zu bewahren, bis zu jenem Zeitpunkt, als die Sowjetunion als Sicherheitsgarant ausfiel, die Wirtschaft der DDR am Boden lag und das System unter dem Protest der Massen zusammenbrach.

Fazit: In der DDR der späten 60iger Jahre existierten zumindest zwei Meinungsblöcke: Auf der einen Seite die Sichtweise der Machthaber und auf der anderen die der „normalen“ DDR-Bevölkerung. Zwischen diesen fanden kein öffentlicher bzw. angstfreier Streit statt, auch kein Anerkennen der anderen Position. Vielmehr versuchten die Machthaber ihre Sichtweise mit allen Mitteln, insbesondere über die von Ihnen beherrschten Medien und nicht zuletzt mit direkter Gewalt, durchzusetzen. Mit politisch Andersdenkenden setzte man sich inhaltlich nicht auseinander, sondern schrieb ihnen Eigenschaften zu wie „Klassenfeind“, „Reaktionär“ oder „Feind des Arbeiter- und Bauernstaates“. Auf diese Weise wurden sie vom Diskurs ausgeschlossen und in die Nähe von Kriminellen gerückt.

 

  1. Aktuelle Gefährdungen unserer liberalen Demokratie

Im Jahre 2019 verlaufen in Deutschland anders geartete Konfliktlinien als zu Zeiten des Prager Frühlings bzw. zur Wendezeit 89/90 und noch in den Jahren danach. Globalisierung, Finanzkapitalismus und Neoliberalismus haben im vereinten Deutschland ihre Spuren hinterlassen. Boten die Chancen auf reale Einkommenszuwächse und sozialen Aufstieg in der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ der BRD der 50iger und 60iger Jahre für eine breite Mittelschicht eine gute Lebensgrundlage und hatte die breite Masse der DDR-Bürger trotz aller politischen Unzufriedenheit eine gesicherte ökonomische Basis, so erleben heute 30 Jahre nach der Wende große Teile unserer Gesellschaft, insbesondere in den neuen Bundesländern, eine tiefgreifende Spaltung der Gesellschaft.

 

    3.1  Gefährdung der liberalen Demokratie durch ökonomische und kulturelle Spaltung

Umfragen bestätigen, dass Bürger in einigen Ländern der EU die Demokratie bedroht sehen. [3] Unsere heutige Gesellschaft ist durch die Zunahme der Vermögens- und Einkommensungleichheit gekennzeichnet. Große Geldvermögen haben sich bei einer kleinen Gruppe von Eliten angesammelt und gestatten ihnen, Einfluss auf politische Entscheidungsträger in ihrem Sinne ausüben.[4] Am unteren Ende der sozialen Schichtung entstanden Unterklassen mit einem Anteil von 10 bis 15 % der Bevölkerung, die „nahezu vollständig aus der geschützten Erwerbsarbeit und dem kollektiven Sicherungssystem herausgefallen sind.“[5] Der Politikwissenschaftler Armin Schäfer hat durch Forschungen bestätigt, dass die Wahlbeteiligung bei diesen Gruppen seit 1990 von damals ca. 80% auf aktuell bis unter 50% gesunken ist, während die Wahlbeteiligung in den oberen Schichten weitgehend gleichgeblieben ist.[6] Danach verzichtet ein Großteil dieser Gruppen auf ihr Wahlrecht und „reagiert auf alltägliche Ohnmachtserfahrungen mit einem Selbstausschluss aus dem politischen System.“[7] Der Spiegel berichtete von einer aktuellen Untersuchung der Universität Jena, nach der im Jahr 2018 zwei Drittel der Thüringer sich politisch nicht wirksam vertreten fühlen und sich sicher waren, keinen Einfluss darauf zu haben, „was die Regierung tut“ [8], und dies, obwohl in Thüringen seit fünf Jahren ein Ministerpräsidenten der Linken regiert. Parallel zur ökonomischen Spaltung erleben wir heute nicht weniger eine kulturelle Spaltung, was die Besprechung des Buches von C. Koppetsch, die Gesellschaft des Zorns, beim letzten Gesprächskreis gezeigt hat.

In der Art und Weise, wie sich heute herrschende Eliten mit politisch Andersdenkenden auseinandersetzen, finden sich gewisse Parallelen zum Vorgehen der DDR-Machthaber, wie oben am Beispiel des Prager Frühlings beschrieben. Wurde der Andersdenkende von einst zum „Klassenfeind“, so wird er heute zum „Rechtspopulisten“. Die Autoren Levitsky und Ziblatt haben in ihrem Buch „Wie Demokratien sterben“ – aufbauend auf Erkenntnissen des Politologen Juan J. Linz vier Merkmale herausgearbeitet, die als Warnzeichen für die Identifizierung antidemokratischer Politiker dienen. Dabei ist Warnzeichen Nr. 2 die „Leugnung der Legitimität politischer Gegner“. Laut einer Allensbach-Umfrage[9] hatten 45% der Befragten im November 2015 den Eindruck, man müsse vorsichtig sein, wenn man sich zur Flüchtlingsfrage äußere. Im Mai 2019 hatten bereits 2/3 der Befragten das Gefühl, man müsse im öffentlichen Raum «sehr aufpassen», was man sage. Dies erinnert etwas an DDR-Verhältnisse, mit dem Unterschied, dass der Druck jetzt nicht nur ‚von oben’ kommt, sondern auch durch Journalisten und globalisierungsfreundliche Eliten.

 

     3.2  Gefährdung der liberalen Demokratie durch politische Prozesse

Die Stabilität unserer liberalen Demokratie wird zudem durch „postdemokratische“ Entwicklungen gefährdet.[10] Anzeichen dafür sind:

Die beschriebenen postdemokratischen Entwicklungen sind grundsätzlich nicht mit dem politischen System der DDR vergleichbar. Diese zeigen aber durchaus Parallelen, wo es um die Frage geht, wer politisch bestimmt, was die beste Lösung für das Land ist. Während dies in der DDR die herrschende Partei SED entschied, sind es heute wenige politische und wirtschaftliche Eliten und dies zum Teil ohne die nötige Legitimation durch demokratische Institutionen. 

 

     3.3  Gefährdung der liberalen Demokratie durch Digitalisierung und Medien

Die Digitalisierung birgt die Gefahr einer „technologischen Entdemokratisierung“.[12] Technologiekonzerne eignen sich über „kostenlose“ Dienstleistungen Nutzerdaten an und erlangen somit wirtschaftliche und politische Macht. Die Verarbeitung, Nutzung und Weitergabe dieser Daten erfolgt privat-wirtschaftlich, somit gewinnorientiert und ohne gesellschaftliche Kontrolle.[13] Yuval N. Harari warnt in seinem Buch „Homo Deus“ eindringlich davor, im Zeitalter der Digitalisierung könnte die Masse der Menschen nicht mehr gebraucht werden und Digitalisierung begünstige die Bildung von Eliten.

Neue elektronische Medien wie die Kommunikationsdienste Facebook, Twitter, WhatsApp, Instagram oder Snapchat bringen eine neue Qualität in die Kommunikationslandschaft, so auch in die Art und Weise der öffentlichen politischen Auseinandersetzung:

In den Redaktionen der Printmedien von Rundfunk und öffentlich-rechtlichem Fernsehen sitzen überwiegend grün-rot orientierte Akademiker, die sich in ihrer politischen Grundorientierung wenig von den herrschenden, linksliberalen, kosmopolitischen Eliten unterscheiden. Die Folge ist, dass in Medien in der Regel „regierungsnah“ berichtet wird, was diesen den Vorwurf der „Lügenpresse“ eingebracht hat. Damit ist nicht unterstellt, in diesen Medien würde vorsätzlich gelogen, aber eine Werteverwandtschaft zwischen solchen Medien und den herrschenden Eliten ist nicht zu übersehen (Haltungsjournalismus). Diese Art von Journalismus trifft im Osten Deutschlands auf besonders empfindliche Menschen. Zu gut ist den Älteren noch die «Rotlichtbestrahlung» der DDR-Medien in Erinnerung. Überschriften wie «Flüchtlinge könnten Wirtschaftswunder bringen» erinnern manchen an die Schlagzeilen über Produktionserfolge im SED-Zentralorgan «Neues Deutschland». Das ständige Bemühen, den Deutschen zu sagen, was sie zu denken haben, führt wie einst in der DDR zur Flucht vor der Berieselung. So hat für manche die Neue Züricher Zeitung die Rolle des ‚Westfernsehens’ übernommen.

 

  1. Chancen der liberalen Demokratie

Die Demokratie als Staatsform ist geschichtlich gesehen nicht selbstverständlich. Sie ist ihrem Wesen nach instabil, weil demokratisch gewählte Politiker die Demokratie beschädigen können oder Bürger ihr Recht auf politische Mitwirkung nicht genügend wahrnehmen. Voraussetzung für gelingende Demokratie sind die Glaubwürdigkeit der politisch Handelnden, die Mitwirkung ihrer Bürger und der öffentliche Diskurs über bestmögliche Lösungen.  Auch die vom aktuellen ‚Mainstream’ abweichenden Meinungen sind ernst zu nehmen und im gesellschaftlichen Diskurs zu erörtern, soweit diese sich auf dem Boden der Verfassung bewegen. Daher sind Mitwirkungs- und Mitentscheidungsmöglichkeiten der Bürger sowie öffentliche Debattenräume zu erweitern. Auch dürfen Entscheidungsbefugnisse der Parlamente nicht weiter beschnitten werden.

Die Chance der liberalen Demokratie liegt darin, dass wir die hier angerissenen Themen offen und öffentlich diskutieren können. Wir können uns zusammentun, um bei wichtigen Themen politisch Einfluss zu gewinnen. Dies war in der DDR nicht oder nur mit hohem persönlichem Risiko möglich.

 

Beiträge aus der Gesprächsrunde:

 

 

Rottenburg, 13.11.2019

 

[1] Rainer-Olaf Schultze, „Demokratie“, in Dieter Nohlen, Rainer-Olaf Schultze (Hg.), Lexikon der Politikwissenschaft, Theorien, Methoden, Begriffe, München 2010, S. 137-141.

[2] Ralf Dahrendorf, Die Krise der Demokratie, Ein Gespräch mit Antonio Polito, München 2003

 

[3] Quelle: SPIEGEL, Nr. 39a vom 25.09.2019, S. 81

[4] Als Beispiel sei die Firma Brose (Autozulieferer) in Coburg genannt, die dem ehemaligen Bürgermeister Norbert Kastner bei seinem Amtsantritt vorrechnete, wie politische Entscheidungen des Gemeinderats die Höhe der Gewerbesteuereinnahmen beeinflussen werden. (Vgl. Sendung der ARD am 30.09.2019 „Was Deutschland bewegt: Wer beherrscht Deutschland?)

[5] Klaus Dörre, „Demokratie statt Kapitalismus oder: Enteignet Mark Zuckerberg!“, in Ketterer/Becker (Hrsg.) „Was stimmt nicht mit der Demokratie?“, Suhrkamp, 2019, S. 38

[6] Vgl. Sendung der ARD am 30.09.2019 „Was Deutschland bewegt: Wer beherrscht Deutschland?

[7] ebd., S. 39

[8] Der Spiegel Nr. 35 vom 24.08.2019

[9] Interview in der Welt vom 13.11.2015 mit der Demoskopin und Allensbach-Chefin Renate Köcher

[10] z. T. nach Rüdiger Vogt: „Die Arroganz der Macht“, Baden-Baden 2018

[11] Vgl. Snyder im Spiegelgespräch, SPIEGEL 39a 25.09.2019

[12] Vgl. Klaus Dörre, a. a. O, Seite 41

[13] Facebook hat z. B. Nutzerdaten an Dritte verkauft, die diese für eine Einflussnahme im US-amerikanischen Wahlkampf genutzt haben.

[14] Vgl. Bernhard Pörksen, Die große Gereiztheit, München 2018

[15] Vgl. Interview mit der Soziologin Elke Wagner, Der SPIEGEL Nr. 37 vom 07.08.2019

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