24.09.2019: Cornelia Koppetsch "Die Gesellschaft des Zorns" - Ursachen des Rechtspopulismus

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Cornelia Koppetsch: „Die Gesellschaft des Zorns“ - Rechtspopulismus im globalen Zeitalter, Transcript Verlag, Bielefeld 2019

 

1. Begrüßung und Einführung von Wolfgang Hesse

Wolfgang Hesse begrüßt die Teilnehmerinnen und Teilnehmer und führt in das Thema ein.

Bei den jüngsten Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen am 01.09.2019 wurde die AfD die zweitstärkste politische Kraft. In Brandenburg erreichte die AfD mit 23,5% der Zweitstimmen hinter der SPD (26,2%) Platz zwei, in Sachsen gelang ihr das mit 27,5 % der Zweitstimmen hinter der CDU (32,1%).

In Baden-Württemberg hatte die AfD bei der Landtagswahl 2016 einen Zweitstimmenanteil von 15,1%, der höchste Zweitstimmenanteil in den alten Bundesländern, gefolgt von Hessen mit 13,1%. In Schleswig-Holstein kommt die AfD dagegen nur auf 5,9% der Zweitstimmen.

Dieses Wählerverhalten wirft die Frage auf, weshalb viele Menschen - am stärksten in den neuen Bundesländern - rechtskonservative Parteien unterstützen. Bei der Klärung dieser Frage hilft es kaum weiter, wenn man - wie der damalige SPD-Vorsitzende Gabriel - die Anhänger von Pegida und AfD als „Pack“ bezeichnet, ebenso wenig moralisieren. Solange wir meinen, wir sind die Guten und die anderen die Bösen, werden wir der Bewertung dieser Entwicklung nicht gerecht, vielmehr stärken wir ungewollt rechtskonservative Kräfte. Man muss genauer hinsehen, um diese Phänomene zu verstehen – und genau das gelingt Cornelia Koppetsch in ihrem aktuellen Buch „Die Gesellschaft des Zorns“.

Frau Koppetsch, geb. 1967, studierte Soziologie, Psychologie und Philosophie und ist Professorin für Soziologie an TU Darmstadt. Entsprechend breit ist ihr Blick auf die Entwicklung rechtskonservativer Bewegungen. In guter sozialwissenschaftlicher Tradition untersucht sie das Wesen rechtskonservativer Bewegungen und erklärt deren Entstehen aus aktuellen gesellschaftlichen Voraussetzungen wie Globalisierung, Neoliberalismus, Individualisierung und Deklassierungserfahrungen der Menschen aller sozialen Klassen. Mit „Die Gesellschaft des Zorns“ gelingt Frau Koppetsch »das derzeit wohl anregendste Buch zum politischen und gesellschaftlichen Umbruch«, so Adam Soboczynski in DIE ZEIT, Nr. 23,  2019.

(Anmerkung: Zum Verständnis eine Definition, was unter Populismus zu verstehen ist: Laut Duden ist „Populismus eine von Opportunismus geprägte, volksnahe, oft demagogische Politik, die das Ziel hat, durch Dramatisierung der politischen Lage die Gunst der Massen (im Hinblick auf Wahlen) zu gewinnen.“

 

 

2. Einstiegsimpuls von Prof. Dr. Winfried Thaa

1. Charakter und Grundthesen des Buches

Das Buch von C. Koppetsch berücksichtigt in ungewöhnlicher Breite die derzeitige soziologi­sche, politikwissenschaftliche und sozialpsychologische Diskussion zum Thema Rechtspopu­lismus. Ihre zentralen Thesen entwickelt sie dabei aus der Kritik weitverbreiteter Erklärungen des Erfolgs rechtspopulistischer Bewegungen und Parteien. Insbesondere wendet sie sich dagegen, den Aufstieg des Rechtspopulismus 

Demgegenüber sieht Koppetsch den Rechtspopulismus als soziale Bewegung gegen bereits drei Jahrzehnte anhaltende strukturelle Veränderungen der bis dahin nationalstaatlich orga­nisierten industriellen Moderne hin zur „globalen Moderne“. Vier Merkmale dieses Strukturwandels:

  1. Auflösung der Strukturen des Konzernkapitalismus zugunsten eines wissensbasierten, globalen Netzwerkkapitalismus,
  2. Souveränitätsverlust der Nationalstaaten und ein Dominanzgewinn ökonomischer gegenüber politischen Akteuren,
  3. Ein neuer Stadt-Land-Gegensatz mit sog. global cities einerseits und zurückfallenden oder verödenden ländlichen Regionen andererseits und
  4. die Transnationalisierung von Klassenlagen, mit einer kleinen Schicht von Super­reichen, einer relativ breiten Schicht der Kosmopoliten in den Kultur- und Wissensökonomien, einer eher traditionellen, in den nationalen Wohlfahrtsraum eingebundenen Mittelschicht und einer ebenfalls transnationalen Unterschicht in gering qualifizierten Dienstleistungsberufen.

Ideologisch und kulturell abgestützt wird dieser Strukturwandel durch einen „progressi­ven Neoliberalismus“. Gegen diese strukturellen Veränderungen bilde der Rechtspopulismus eine Art „konter­revolutionäres“ Bündnis unterschiedlicher, in diesem Prozess zurückfallender Gruppen. Dabei sind ihr zufolge materielle Interessen weniger bedeutsam als eine Art „kollektiver emotionaler Reflex“, der es erlaube, verschiedene Themen miteinander zu verknüpfen und drei Kernvorhaben zu verfolgen: eine Re-Nationalisierung der Gesellschaft, die Re-Souverä­nisierung deklassierter oder sich deklassiert fühlender Gruppen sowie eine Re-Vergemein­schaftung der Gesellschaft.

Diese drei Dimensionen stellt Koppetsch in 8 Kapiteln ausführlich dar. Methodisch will sie die soziale Standortgebundenheit der akademischen und sozialwissen­schaftlichen Diskussion mit reflektieren und wendet sich dagegen, die Lebensweise der kosmopolitisch orientierten akademischen Mittelklasse zum universell gültigen Lebens­modell zu verallgemeinern.  Im Folgenden sollen nur die Kernthesen des Buches, insbesondere zur sozialen Entwicklung der politischen Repräsentation und der kulturellen Hegemonie der akademischen Mittelklasse erläutert werden.

 

2. Rechtspopulismus als soziale Bewegung

Im Rechtspopulismus geht es nicht um Klassenkämpfe im marxistischen Sinn, sondern um „Macht- und Geltungskämpfe“, die deshalb auch nicht in sozialpolitischen, sondern in identi­tätspolitischen Kategorien formuliert werden.

Der Wandel zur globalen Moderne hat in allen sozialen Klassen Verlierer hervorgebracht, die sich vom Multikulturalismus und Kosmopolitismus der akademischen Milieus bedrängt fühlen. Ihr Protest äußert sich als Widerstand der Lebensformen und verdichtet sich in der Ablehnung von Migranten. „Die Sozialfigur des Migranten vereinigt in sich grenzüberschrei­tende Mobilität, kulturelle Fremdheit, identitäre Hybridität und transnationale Verflechtun­gen.“ (S. 41)

Koppetsch vergleicht den Rechtspopulismus als soziale Bewegung mit den Protestbewegun­gen der 1960er und 1970er Jahre.  Ihre These: Linker Protest ist Protest aufstrebender Gruppen gegen Benachteiligungen, rechter Protest ist Protest gegen die Bedrohung beste­hender Vorrechte zur Verteidigung einer vermeintlich „natürlichen Ordnung“. Die „Abwärtsbewegung ist das verbindende Element der durchaus heterogenen Anhängerschaft unterschiedlicher rechter Bewegungen“ (S. 45). Ein weiterer Unterschied: Die Protestbewe­gung von 1968 war auf individuelle Selbstverwirklichung, auf Herauslösung des Individuums aus dem Kollektiv gerichtet, der Rechtspopulismus zielt auf Wiedereinbindung des Individu­ums. „Vergemeinschaftung und Verfestigung heißen die kulturellen Ziele der politischen Rechten.“ (S. 46) Der Rechtspopulismus entsteht aus Protestbewegungen gegen gesell­schaftliche Öffnungsbewegungen (Märkte, Einwanderung, Kultur) und orientiert sich am Ideal exkludierender Solidarität. Dies auch, „weil eine globale Adresse für übergreifende Solidarität (noch) nicht existiert“ (S. 51) und „globale Organe der Mitbestimmung und der kulturellen Identitätsbildung (noch) nicht verfügbar sind.“ (S. 71)

 

3. Die akademische Mittelschicht und ihre kulturelle Hegemonie

„Die akademische Mittelschicht stellt die Schlüsselfigur des neuen Kapitalismus und seiner globalen Verflechtungen dar“ (S. 81).  Sie verbindet Anpassung, Konkurrenz- und Konformi­tätsdruck mit kultureller Selbstverwirklichung, lebenslangem Lernen, gesunder Ernährung und Selbstoptimierung. In ihrer Lebensführung verschmelzen ökonomischer und kultureller Liberalismus. „Das lebensgeschichtlich geprägte, singuläre Individuum hat das sozial geprägte, mit einer Gruppe identifizierte Subjekt in den Hintergrund gedrängt.“ (S.118) Ob­wohl diese kosmopolitische Mittelklasse sich als gesellschaftskritische Kraft sieht, ist sie Wegbereiterin der herrschenden Verhältnisse. Der auf Selbstverwirklichung bezogene liberale Individualismus trug in den 70er und 80er zu einer Öffnung der Gesellschaft bei, hat mittler­weile jedoch sein herrschaftskritisches Potential verloren.  Der kosmopolitische Habitus bil­det vielmehr die kulturelle Grundlage der wissens- und innovationsgetriebenen kapitalisti­schen Wirtschaft und fördert die soziale Polarisierung zwischen Akademikern und Nichtakademi­kern. Die kosmopolitische Kultur der urbanen akademischen Mittelklasse mit ihren strikten Formen der Selbstprogrammierung ist sozial keines­wegs offen, sondern extrem homogen, leistungsbezogen und ausgrenzend. „Die spätmo­derne Kultur der Selbstverwirklichung ist Teil eines Klassenethos geworden.“ (S. 241, ähnlich S. 218, 225) Die Offenheit dieser Kultur gegenüber dem Fremden sieht in jedem Kulturgut entweder eine Erweiterung individueller Kompetenzen oder eine potentielle Konsummög­lichkeit. Von daher besitzen fremden-feindliche Anwandlungen für Kosmopoliten in den entsprechenden Stadtteilen (Berlin Kreuzberg, Prenzlauer Berg; Franzosenviertel Tübingen?) „schlicht keine lebensweltliche Grundlage“ (S. 245). Diese Offenheit wird kompensiert durch ein „hochgradig effektives Grenzregime.“ (Immobilienpreise, Mieten, selektives Bildungssystem etc. S.245) „Die Abgrenzung erfolgt nicht nach außen, sondern nach unten.“ (S. 245)

 

4. Der Rechtspopulismus im politischen System

Im politischen System entstand eine Repräsentationslücke durch „Entideologisierung und Angleichung der Volksparteien, die damit verbundene ostentative Unhinterfragbarkeit des Neo-Liberalismus, die technokratische politische Kultur und den Rückbau des Wohlfahrts­staates“. (S.91) In diese Lücke stoßen Rechtspopulisten und kombinieren kulturelle und ökonomische Motive. Rechtspopulisten sprechen verschiedene Absteigergruppen an. Neben ökonomischen oder beruflichen Positionsverlusten  spielen symbolische Geltungs- und Statusverluste, die auch Ober- und Mittelschicht betreffen können, eine große Rolle. Für solche Deklassierungserfahrungen bietet der Rechtspopulismus eine Art „politische Thera­pie“ und zwar durch „politische Häresie“, „symbolische Re-Souveränisierung und die Abwehr von Außenseitergruppen bzw. Fremdenfeindlichkeit. (S. 146f.)

Erst durch die Umdeutung von Abstiegserfahrungen in ein Unrecht jedoch entstehen Ressentiments, die wiederum erst durch übergreifende, Einzelereignisse einordnende Erzählungen und die Ausrichtung auf politische Ziele zu Zorn werden. (S. 230) So können „politische Neogemeinschaften“ entstehen, die Koppetsch als kommunitäre Reak­tion auf die Individualisierungstendenzen der globalen Moderne beschreibt (Stichwort Iden­titätspolitik). Spezifisch rechtspopulistische Gemeinschaftsvorstellungen zeichnen sich aus durch ihr Ideal völkischer Homogenität und die Verteidigung von Privilegien, die mit Herkunft und Staatsbürgerschaft begründet werden.

 

5. Konsequenzen

Koppetsch argumentiert für einen „liberalen Umgang“ mit dem Rechtspopulismus und warnt vor einem gegenseitigen Aufschaukeln von „Angstbewegungen“, d. h. der Fixierung auf einen äußeren Feind auf beiden Seiten des Konflikts. Sie sieht eine Fixierung der Diskussion auf gewaltbereite rechtsextreme Gruppen und warnt vor dem Aufbau von „Hassfiguren, durch die sich die Wohlmeinenden in ihrer eigenen guten Gesinnung bestätigen und die stellver­tretend für die ausgrenzende Gesellschaft im Ganzen als Bösewichte herhalten“. (S. 251)

Spezifisch nennt sie drei Irrtümer des bürgerlichen Lagers im Umgang mit dem Rechtspopu­lismus:

  1. An eine Welt ohne Politik zu glauben und nicht zu sehen, dass die Welt, in der sie so gut leben, ohne politische Verteidigung zerstört werden könnte,
  2. zu glauben, dass die autoritären Protestbewegungen eigentlich links und progressiv sind und ihnen ein progressives Klasseninteresse zugrunde liege,
  3. nicht zu sehen, dass die Protestbewegungen andere als ökonomische Interessen verfol­gen. „Im Kern der rechtspopulistischen Klassenkämpfe steht nicht das Materi­elle, sondern der Kulturkonflikt, d.h. der Kampf um Anerkennung, Würde, Macht und Einfluss.“ (S. 255)

Positiv konstatiert Koppetsch am Ende ihres Buches nur ganz knapp Hinweise darauf, dass mit dem Aufstieg der Rechtspopulisten auch das Politische wieder stärker in die Gesellschaft zurückkehrt.

 

 

3. Zusammenfassung der Beiträge aus der Diskussionsrunde

 

4. Abschluss und Dank

Abschließend zitiert W. Hesse einen Leserbrief aus dem SPIEGEL 39/21.09.2019: „Wenn ein AfD-Mann mit 35,9% der Stimmen in irgendeinen Landtag gewählt wurde, dann haben eben genau so viele Wähler das gewollt. In der Demokratie gibt es keine dummen Wähler, ebenso wenig, wie es Abgeordnete zweiter Klasse gibt. Wer eine Partei klein halten möchte, dem bleibt nur eine (anstrengende) Option: Die politische Auseinandersetzung mit ihrer Arbeit, ihrem Programm. Thema für Thema.“ (Claus Bienfait, Köln)

Wolfgang Hesse bedankt sich bei W. Thaa für die Einführung in das Buch von C. Koppetsch sowie bei den Teilnehmenden für die engagierte und anregende Gesprächsrunde.

 

Rottenburg, 24.09.2019/Karl Schneiderhan

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