Förderverein Stadtbibliothek Rottenburg

30.04.2019: Europa 2019 – vor der Wahl ist nach der Wahl - Weichenstellung für die Zukunft - Welches Europa wollen wir?

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 Dokumentation

Impuls: Thomas Schinkel LpB BWB

Moderation: Karl Schneiderhan

Karl Schneiderhan (KS) begrüßt Thomas Schinkel (TS) und die Gesprächsteilnehmer (TN) und gibt einige Hinweise zum Ablauf.

 

Impuls 1 von Thomas Schinkel zur Bilanz der EU

Durch die Schaffung eines Gebildes, das sich zur Europäischen Union entfalten sollte, verlief die Entwicklung Europas, trotz Negativtrends, im Wesentlichen positiv. Sie ermöglichte den Rahmen nicht nur für einen rasch wachsenden Wohlstand, auf dem die politische Stabilität beruhte, sondern auch für dauerhaften Frieden, in dem sie freundschaftliche Bande zwischen Frankreich und Deutschland schuf. Die EG/EU dehnte die Gültigkeit von demokratischen Grundsätzen und Rechtstaatlichkeit sowie ihr Rahmenwerk internationaler Kooperation auf einen großen Teil Süd-, Mittel- und Osteuropas aus. Für die Länder dieser Regionen bedeutete dies einen enormen Fortschritt. (vgl. Ian Kershaw, Achterbahn. Europa 1950 bis heute, München 2019, S. 748f.).

„Es gelang der EG/EU jedoch nicht, ein echtes europäisches Identitätsgefühl zu schaffen“ (vgl. a. a. O., S. 750).

Durch die folgenden vier miteinander verbundenen Entwicklungen spitzte sich im letzten Jahrzehnt die Finanz- und Eurokrise so dramatisch zu, dass zum ersten Mal in ihrer Geschichte die Möglichkeit eines Auseinanderfallens der EU zumindest im Raum stand und offen diskutiert wurde. Dennoch konnten die Regierungen der EU-Länder ihren Zusammenhalt in zentralen Fragen bewahren (vgl. Frank Decker, D&E Heft 77/2019, S. 29f.):

Die europäische „Polykrise“:

(1) 2015 stand die Mitgliedschaft Griechenlands in der Währungsunion auf Messers Schneide.

(2) Kaum war die Einigung mit Griechenland erzielt, wurde die Solidarität unter den EU-Staaten durch einen rapiden Anstieg der infolge der Bürgerkriege im Nahen Osten und der schwierigen Lebenssituation in Teilen Afrikas nach Europa strömenden Flüchtlinge auf eine bis dahin nicht gekannte Weise herausgefordert.

(3) Im Juni 2016 stimmten knapp 52 Prozent der Briten in einer Volksabstimmung für den Austritt ihres Landes aus der EU.

(4) Wenn vom Demokratiedefizit der EU die Rede ist, denkt man für gewöhnlich zuerst an die Beschaffenheit und Funktionsweise ihrer in Brüssel, Straßburg und Luxemburg ansässigen Institutionen. Spätestens seit der Machtübernahme rechtsnationaler Parteien in Ungarn und Polen ist jedoch ins Bewusstsein gelangt, dass die EU noch ein anderes, womöglich gravierenderes Demokratieproblem hat, nämlich das der Einhaltung demokratischer und rechtsstaatlicher Standards in den Mitgliedstaaten.

 

Gesprächsrunde 1:

TN: Es wird nach den Kriterien der Erweiterung gefragt: Handelt es sich bei der EU um eine Wertegemeinschaft oder um eine Wirtschaftsgemeinschaft? Werden neue Länder aus geopolitischen und wirtschaftlichen Einflussinteressen oder wegen deren Wertenähe zur EU aufgenommen? Aktuelle Krisenphänomene sind Ausdruck der fehlenden politischen und wirtschaftlichen Integration.

TS: Die EU bewegt sich im Rahmen der Globalisierung: Trump, China und Russland definieren das Umfeld, in dem sich die EU positioniert. Die EU ist sicher überdehnt, die Währungsunion unausgegoren. Es besteht zudem ein Demokratiedefizit, es gibt aber auch positive Entwicklungen. Der Zwang zu Konsensentscheidungen bei jetzt 28 Partnern muss auf den Prüfstand. Es besteht die grundsätzliche Frage, ob die aktuellen Krisen durch mehr oder weniger Europa gelöst werden können.

TN: Griechenland und Bankenrettung führten bei der EU zu Glaubwürdigkeitsproblemen und die Globalisierung zu unterschiedlichen Entwicklungen einzelner Länder. Wer entscheidet z. B. über die Aufnahme der Länder des Westbalkan in die EU? Im Falle von Rumänien war klar, dass man die Katze nicht im Sack kauft und dass auch China in diesem Land unterwegs ist.

TS: Die Griechenlandrettung war durchaus Ausdruck einer neoliberalen Wirtschaftspolitik. Im Westbalkan versucht China immer mehr Einfluss zu gewinnen, hier will Merkel dagegenhalten. Auslandbeziehungen der EU liegen in der Hoheit des Rates, die Kommission steuert die Heranführung von Beitrittskandidaten von oben nach unten, was aber in der heutigen Zeit ein nicht ausreichend demokratisches Vorgehen ist. Eine nicht namentlich genannte EU-Abgeordnete hat die Aufnahme Rumänien in die EU als Fehler bezeichnet, diese Entscheidung sei eindeutig aufgrund politischer Erwägungen gefallen.

TN: Wer überprüft die Mittelvergabe und -verwendung der EU-Gelder in einem Land wie Rumänien?

TS: Die GIZ (Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit) und die Deutsche Botschaft. Es gibt aber keine speziellen Kontrollstrukturen vor Ort. Nach der „Lokomotiven-Theorie“ nimmt die EU eher schwache Länder mit und hofft, dass sich so im Laufe der Zeit Verbesserungen in diesen Ländern ergeben.

 

Impuls 2 von Thomas Schinkel zu den Zukunftsszenarien der EU

Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie formuliert folgende Politikbereiche als essenziell für die Zukunft der Europäischen Union: »Will die EU der Regression widerstehen, gilt es, aktuelle Reformvorhaben eher noch entschlossener anzugehen (…)

  • eine Sozialunion, die der wachsenden Ungleichheit von Einkommen, Vermögen und Lebenschancen im Inneren der EU und ihrer Mitgliedsländer, dem Gefälle zwischen den Regionen und zugleich der Externalisierung europäischer Wohlstandskosten in die Länder des »globalen Südens« entgegentritt;
  • eine Fiskalunion, die Steuerflucht und -vermeidung sowie problematische Finanzmarktaktivitäten sanktioniert und zum Beispiel mit einer Transaktionssteuer Quellen zur Finanzierung von nachhaltigen Infrastrukturen und sozialpolitischen Korrekturen erschließt;
  • eine Umweltunion, die auf immer deutlicher werdende Bedrohungen wie den gefährlichen Klimawandel und das Artensterben mit einer veritablen Energie- und Verkehrswende reagiert;
  • eine Digitalunion, die der Dominanz des Silicon Valley (und Chinas) mit EU-Regulierungen im Daten- und Verbraucherschutz begegnet und die Digitalisierung nicht als technische Naturgewalt hinnimmt, sondern menschen- und sozialverträglich gestaltet;
  • eine Sicherheitsunion, die Terror- und Cyberattacken wirksam abwehren kann und auf die Erosion der NATO friedenspolitisch reagiert“

 (vgl.  Claus Leggewie, Aus Politik und Zeitgeschichte 4-5/2019, S. 9, bpb.de).

 

Gesprächsrunde 2:

TN: Wieso funktioniert es eigentlich in der Schweiz und in Norwegen so gut? Auch die EU müsste anpassungsfähiger sein.

TS: Die Schweiz passt sich der EU sehr gut an. Norwegen hat viel Erdöl und Erdgas und will darüber lieber allein verfügen. Europa sollte den Weg der unterschiedlichen Geschwindigkeiten prüfen. Lobbyismus ist nicht nur negativ, wie der Einfluss der Verbraucherschutzverbände zeigt.

TN: Wird sich der Populismus weiter durchsetzen?

TS: Populistische Parteien haben eine „dünne Ideologie“. Für den Umgang mit ihnen gibt es drei Strategien: Attackieren, Argumentieren, Ausgrenzen. Populistische Parteien könnten bei den EU-Wahlen nach Voraussagen in Cicero oder Times etwa auf 15-20% der Stimmen kommen. In diesem Fall wäre dann im EU- Parlament keine große Koalition mehr möglich. Das EU-Parlament könnte durch transnationale Listen, eine Wahlpflicht und durch ein Initiativrecht gestärkt werden.

TN: Was bedeutet es, wenn ein EU-Verfahren gegen Deutschland geführt wird?

TS: EU-Verordnungen müssen von den Mitgliedsstaaten umgesetzt werden. Dies wird geprüft. Mögliche Strafzahlungen landen wieder um EU-Finanztopf. Eine Fiskalunion ist 2019 und 2020 nicht zu erwarten. Ob Großbritannien letztendlich in der EU verbleibt wird, kann heute niemand sagen.

 

Karl Schneiderhan bedankt sich bei Thomas Schinkel für seine kompetente Unterstützung und bei den Teilnehmern für das lebhafte Gespräch.

 

Rottenburg, 12.05.2019

Wolfgang Hesse

 

 

 

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