Förderverein Stadtbibliothek Rottenburg

30.10.2018: Landtagswahlen Bayern und Hessen sowie Bürgerentscheid Rottenburg

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Dokumentation

 

1.Einführung (Wolfgang Hesse)

Wolfgang Hesse begrüßt die 24 anwesenden Teilnehmer*innen und erläutert Anlass und Ziel sowie Ablauf des heutigen Gesprächskreises.

Landtagswahl Bayern

Die Bayerische Band LaBrassBanda kommentierte das Ergebnis der Landtagswahl in Bayern als „moderate Abwahl der Monarchie“. Als erste Hochrechnungen veröffentlicht waren, schien die CSU erleichtert darüber zu sein, dass es nicht noch schlimmer gekommen ist. Kaum waren die Stimmenverluste um mehr als 10 % bekannt, kommunizierten CSU-Vertreter nach außen bereits ein „Weiter so“. Es sei jetzt Pflicht, Verantwortung für das Land zu übernehmen. Bei früheren Wahlen und geringeren Stimmverlusten sind Spitzenkandidaten noch am Wahlabend zurückgetreten. Mit den Freien Wählern stand für die CSU unmittelbar ein akzeptabler Koalitionspartner bereit. AfD und Freie Wähler erhielten zusammen über 20% der Stimmen, die Grünen konnten ihren Stimmenanteil verdoppeln auf 17.5%, in größeren Städten sogar bis zu 30%. Die SPD verlor gegenüber der letzten Landtagswahl über 50% ihrer Wähler, ein Erdrutsch, der besorgter macht als die Verluste der CSU. Eine Tendenz zeigt sich deutlich: Die Parteien der GroKo erleiden hohe Verluste, während politische Mitbewerber, insbesondere kleinere Parteien, überdurchschnittlich dazu gewinnen. 

Landtagswahl Hessen

Die Tendenz, die sich in der Bayernwahl zeigt, hat sich bei der Hessenwahl fortgesetzt. Die Parteien der GroKo (CDU und SPD) verloren zusammen ca. 22% ihrer Wähler auf die Gesamtwähler bezogen. Für „ihre“ Wähler ist der Prozentsatz weit höher, bei der SPD in Bayern war es  ca. die Hälfte  Die Grünen, Juniorpartner einer bestehenden Landesregierung, gewinnen deutlich dazu, bei unter 30-jährigen Wählern sogar mit einem Stimmanteil von 30%. Die AfD ist erstmals in Hessen und nun in allen Landesparlamenten vertreten. 

Bürgerentscheid in Rottenburg

Am 21.10.2018 haben fast 70% der Teilnehmer am Bürgerentscheid (ca. 29% aller Stimmberechtigten bei einer Wahlbeteiligung von 42%) das vom Gemeinderat beschlossene Gewerbegebiet ‚Herdweg’ zwischen Kiebingen und Rottenburg deutlich abgelehnt. Ein solch klares Votum seitens der Bürgerschaft hatten Verwaltung und Gemeinderat wohl nicht auf dem Schirm. Was ist da passiert? Ein vom demokratisch gewählten Gemeinderat beschlossenes Gewerbegebiet wird in einem direkten Entscheid von einer deutlichen Mehrheit der Bürger angelehnt. Haben wir es in diesem Fall sogar mit einem Auseinanderfallen von repräsentativer und direkter Demokratie zu tun? 

Was passiert gerade in der Politik?

Nach einer Wahl ist immer die Zeit der Analysen. Parteien wollen die Wähler verstehen. Warum machen sie das nicht vor den Wahlen? Selbst von Horst Seehofer hörte man Ungewöhnliches: Haben etwa „gesellschaftliche Veränderungen“ und „unterschiedliche Lebensgefühle der Menschen“ mit dem Ausgang der Wahlen zu tun?  Rottenburgs OB Stefan Neher brauchte zwei Tage, bis er mit einer öffentlichen Stellungnahme sich erstmals zum Ausgang des Bürgerentscheides äußerte. 

Ziel unseres Gesprächs ist, Ergebnisse der Landtagswahlen und des Rottenburger Bürgerentscheides zu analysieren und mit Ihnen zu erörtern, welche Entwicklungen hinter diesen Ergebnissen stehen und welche politischen Signale davon für die Zukunft ausgehen.

 

2. Impuls zu den Landtagswahlen in Bayern und Hessen (Winfried Thaa)

Thesen zur Interpretation der Wahlergebnisse: 

Die Wahlen in Bayern und Hessen belegen, der Niedergang der beiden (einst) großen Volksparteien setzt sich beschleunigt fort. Dafür sind zum einen bereits länger wirksame, strukturelle Gründe zu nennen, die in der Politikwissenschaft seit langem diskutiert werden, insbesondere:

  • Allgemeine gesellschaftliche Tendenz zur Individualisierung
  • Erosion der jeweiligen Milieus und ihrer Bindekraft (Katholizismus, organisierte Arbeiterschaft)
  • Tendenz der Bürger zu punktuellem, themenbezogenem Engagement, insbesondere zu Protestaktivitäten und deren zunehmende Distanz gegenüber etablierten Parteien
  • Kulturalisierung sozialer Ungleichheit im Sinne von Andreas Reckwitz durch Entstehung von Teilkulturen (vgl. das im Gesprächskreis besprochene Buch „Gesellschaft der Singularitäten“)
  • Gewichtsverschiebung zwischen zwei Hauptkonfliktlinien im politischen System: Konflikt zwischen Stadt und Land oder Arbeit und Kapital, bzw. Markt vs. staatliche Redistribution (Umverteilung) einerseits und der kulturellen Konfliktlinie zwischen liberalen, kosmopolitischen und eher konservativ, gemeinschaftsbezogenen Orientierungen andererseits. Während in westlichen Industrieländern traditionell die Befürwortung staatlicher Umverteilung mit kulturell liberalen Positionen zusammenging (Bsp. SPD) und marktnahe Positionen sich eher mit kulturell konservativen, nationalen Orientierungen verbanden (Bsp. CDU), zeichnet sich hier ein Neuarrangement ab, das für die Volksparteien erhebliche Integrationsprobleme aufwirft.

Daneben lassen sich aktuelle Gründe für eine Beschleunigung des Niedergangs der Volksparteien ausmachen: 

  • Die wiederholten Großen Koalitionen begünstigten die Entstehung gravierender Repräsentationslücken. D. h. wichtige, von erheblichen Teilen der Bevölkerung vertretene Meinungen und Positionen waren auf parlamentarischer Ebene kaum mehr sichtbar vertreten. Das gilt etwa für die Bewertung der wirtschaftlichen Globalisierung, die Euro-Rettung und die Flüchtlingsfrage. Es entsteht der Eindruck eines relativ starken Elitenkonsenses, der die Interessen des „Normalbürgers“ ignoriert.
  • Der 2015 einsetzende starke Flüchtlingszustrom wirkt wie ein Katalysator zur Verschärfung der oben genannten kulturellen Konfliktlinie. Während diese Konfliktlinie durch die beiden Volksparteien hindurchgeht, können Grüne und ADF je eine Seite des Konflikts repräsentieren.
  • Nicht ganz übersehen werden sollte zur Erklärung des Erfolgs der Grünen, dass ökologische Themen gerade kurzfristig erheblich an Bedeutung gewonnen haben (Klima/Wetter, Landwirtschaft/Ernährung, Dieselskandal/Verkehr), die großen Parteien jedoch trotz offiziell verkündeter ökologischer Ziele im Konfliktfall im Interesse der Industrie entscheiden.
  • Schließlich darf nicht übersehen werden, dass im Vergleich zur Landtagswahl 2013 die meisten Verluste für die CSU biologischer Natur sind. Seit der letzten Wahl 2013 sind 240 000 ehemalige Wähler verstorben. (Quelle: Zeit Online)  

 

3. Beiträge und Diskussion der Teilnehmer

       a) Was sehen Sie für Gründe für dieses Wahlverhalten bei den Landtagswahlen?

  • Auffallend ist, dass immerhin 22% der Arbeiter AfD gewählt haben, von den Beamten und Angestellten je 11%.
  • Parteien sollten sich der Politikwissenschaft bedienen. Die von Politikern vorgenommenen Analysen sind im Grundsatz längst bekannt, z. B. Veränderungen der Lebensverhältnisse und Milieus. So Könnte z. B. die CDU daraus folgern, die sog. akademische Mittelschicht oder das konservative Milieu zurück zu gewinnen.
  • Wie groß ist noch die Stammwählerschaft? Diese ist bei der SPD, insbesondere seit dem von Kanzler Schröder mit der Agenda 2010 eingeleiteten Abbau des Sozialstaates, stark geschrumpft. Der SPD gelingt es seither nicht, Teile früherer Stammwähler zurückzugewinnen, obwohl sie als Regierungspartner in der GroKo sozialpolitische Maßnahmen bewirkt bzw. Entscheidungen von damals zurückgenommen hat, z. B. Wiedereinführung der paritätischen Finanzierung der Krankenkassenbeiträge durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer.
  • Die starke Präferenz für SPD und Grüne bei Wählern mit Migrationshintergrund ist rückläufig, u. a. weil die CDU unter Merkel weniger gegen Zuwanderung auftritt und es, u. a. im Familienbild, durchaus inhaltliche politische Entsprechungen zwischen Teilen der Wähler mit Migrationshintergrund und der CDU gibt. (Nicht thematisert wurden die sog. Russlanddeutschen, die traditionell überwiegend CDU gewählt haben, mittlerweile aber zu einem großen Teil die AfD unterstützen.)
  • Kann man überhaupt noch von Volksparteien sprechen? Für die bisher großen Parteien wird es immer schwieriger, Wähler in der Mitte zu halten. So gibt es auch das Hauptklientel der SPD nicht mehr.
  • Viele Bürger wählen aktuell aus ökologischen Gründen die Grünen, bedingt durch Dieselskandal, heißer Sommer oder Braunkohleabbau (Hambacher Forst). Die Ökologiepolitik von CDU und SPD nehmen Menschen als scheinheilig wahr. Es wird viel geredet und versprochen, aber beide bewirken am Ende zu wenig.
  • Volksparteien stehen stärker unter dem Druck unterschiedlicher Interessenvertreter als die kleineren Parteien, z. B. SPD gegenüber den Gewerkschaften und CDU gegenüber der Wirtschaft.
  • Im Rückblick hatten Volksparteien eine hohe Integrationswirkung für die Stabilität des politischen Systems. Sie konnten unterschiedliche Gruppen binden, z. B. bei der CDU Arbeitnehmer- und Arbeitgeberflügel, Katholiken und Protestanten, Jüngere und Ältere, Stadt- und Landbevölkerung. Diese Stabilität ist aufgrund der hohen Stimmenverluste gefährdet. In anderen Ländern sehen wir Entwicklungen, wie einzelne Personen Parteien politisch an den Rand drängen. (vgl. Macron, Trump) Die Folge davon ist auch, dass populistische Strömungen gestärkt werden.
  • Neben den genannten strukturellen und aktuellen Gründen für das Wahlverhalten spielen für die Wahlentscheidung auch die Persönlichkeiten von Politikern eine wichtige Rolle, unabhängig von gesellschaftlichen Milieus.
  • Demokratie hat den Hauptzweck, Interessen so auszugleichen, dass ein friedvolles Zusammenleben in der Gesellschaft bzw. Gemeinwesen möglich ist. Dazu braucht es aber grundlegende Werte bzw. Gemeinsamkeiten, die nicht zur beliebigen Disposition stehen dürfen.
  • Die regelmäßigen, meist monatlich von Medien durchgeführten Umfragen bringen Hektik und Unruhe ins politische Geschehen und beeinflussen auch das Wählerverhalten. Politiker sind gefangen in Umfragen, anstatt Probleme zu lösen. Daher ist die Rolle der Medien kritischer zu analysieren und zu bewerten.

 

       b) Wie bewerten Sie den Ausgang des Bürgerentscheides in Rottenburg? Wie erklären Sie sich insbesondere die überdurchschnittliche hohe Stimmenzahl gegen das neue Gewerbegebiet? (70% zu 30%)

  • Es war auch eine Abstimmung, in der sich angestauter Frust und Ärger über Verwaltung und Gemeinderat Luft gemacht hat, insbesondere gegenüber CDU und SPD. Es wäre aber zu kurz gedacht, die hohe Zahl der JA-Stimmen auf den Ärger gegenüber Verwaltung, OB oder Gemeinderat zu reduzieren.
  • Vor Jahren wurde dem Gemeinderat ein ökologisches Gutachten vorgelegt, aus dem hervorging, dass der Herdweg ökologisch betrachtet für ein Gewerbegebiet wenig geeignet ist. Daher sah der Gemeinderat damals die Sache für nicht entscheidungsreif an. Jetzt liegt ein gegenteiliges Gutachten vor.
  • Zunächst sollten vorhandene, unbebaute Flächen in bestehenden Gewerbegebieten konsequenter genutzt werden. Es entsteht der Eindruck, dass in solchen Fällen nicht langfristig genug mit Eigentümern verhandelt wird, ggf. sind auch gesetzliche Hindernisse auszuräumen.
  • Schwer verständlich ist, wenn Kiebingen das geplante Gewerbegebiet ablehnt, gleichzeitig aber ein Wohngebiet mit Einfamilienhäusern plant. Bei Erschließung von Wohngebieten, auch in den Stadtteilen, braucht es eine verdichtete Bauweise.
  • Teilweise führte die Art der Auseinandersetzung zu einem vergifteten Klima.
  • Der Bürgerentscheid war aber gleichzeitig ein gutes Beispiel für lebendige Demokratie, eine Chance für Kommunikation und Diskussion innerhalb der Bürgerschaft zu einem wichtigen politischen Thema. Unabhängig vom Ergebnis war dies der Bürgerentscheid wert. Er hat auch offenbart, Menschen bewegen Themen über die Einzelthematik hinaus, die von der Politik nicht genügend wahrgenommen werden, z. B. in diesem Fall die ökologische nachhaltige Dimension.
  • Generell sollte mehr in die Höhe als in die Breite gebaut werden.
  • Der Eindruck war, Verwaltung und Gemeinderat haben im Grundsätzlichen keine wirklichen alternativen Entscheidungen erarbeitet, sozusagen eine Lösung, die nicht nur auf Wachstum setzt, sondern auf alternative Wachstumsentwicklung.
  • Kommunen stehen im Wettbewerb: Wenn wir die Sache nicht genehmigen, geht der Betrieb in den Nachbarort, so oft die Androhung seitens der Verwaltung dem Gemeinderat gegenüber. Gewerbegebiete sollten künftig in interkommunaler Zusammenarbeit entwickelt werden, um möglichst Flächen schonend zu planen.
  • Landtagswahlen und Bürgerentscheid bestätigen, ökologische Aspekte gewinnen bei den Menschen wieder mehr Bedeutung.
  • Allerdings sollten wir uns auch die Frage stellen: Wollen wir unseren Wohlstand und ggf. wie erhalten, bin ich bereit, ggf. auch zu verzichten?
  • Es bedarf eines gründlicheren Nachdenkens über das Prinzip Wachstum. Die Mehrheit der Ökonomen ist noch geleitet vom grenzenlosen Wachstumsgedanken. In Wissenschaft wie Politik, in Theorie wie Praxis, wird das Verhältnis von Ökonomie und Ökologie, von Ausnahmen abgesehen (vgl. Vortrag von Paech), nicht ausgewogen gedacht. Alle wollen wachsen, was aber unweigerlich zur Katastrophe führt. (s. Klimakatastrophe) Es sind dringend alternative Modelle zu entwickeln, um Ökologie und Ökonomie zu versöhnen, d. h. weg von einem quantitativen hin zu einem qualitativen Wachstumsverständnis.
  • Die Wachstumsphilosophie hat zudem gravierende Auswirkungen auf die psychische Gesundheit des Menschen. Die Zahl derer, die unter einem Burn-out leiden, nimmt ständig zu, bereits im jüngeren Alter.
  • Bei den Lebensmitteldiscountern bzw. Einkaufszentren könnten Parkplätze ohne Probleme reduziert werden, z. B. durch Dachparkplätze oder ebenerdige Parkmöglichkeit mit der Verkaufsfläche im 1. OG.

 

       c) Sehen Sie durch die aktuellen Wahlergebnisse die Demokratie gefährdet oder sind wir Zeuge eines normalen demokratischen Prozesses?

  • Mehr Parteien repräsentieren eher die Vielfalt der Gesellschaft bzw. Milieus ebenso die Vielfalt der Themen verbunden mit einer kontroversen Diskussion.
  • Förderlich wäre für eine kontinuierliche politische Arbeit, wenn Wahlen möglichst auf einen Termin zusammengelegt werden, z. B. die Landtagswahlen oder Bundestagswahl und Europawahl. Inzwischen hat man den Eindruck, die Gesellschaft ist ständig im Wahlmodus.
  • Eine Gefahr für den Föderalismus in der BRD wird darin gesehen, dass inzwischen jede Landtagswahl bundespolitisch überhöht wird. Dadurch werden wichtige landespolitische Themen nicht mehr in ihrer eigentlichen Bedeutung wahrgenommen. Aktuelles Beispiel ist die Hessenwahl. Obwohl die Arbeit der von CDU und Grüne geführten Landesregierung in Umfragen vor der Wahl gute Noten erhielt, wurde dennoch die CDU abgestraft, offensichtlich aufgrund der Arbeit der GroKo. Gleiches gilt für die SPD, die Landesthemen besetzt und einen engagierten Landtagswahlkampf mit ihrem Spitzenkandidaten Schäfer-Gümpel geführt hat.
  • Die Amtszeit des/der Bundeskanzlerin sollte zeitlich begrenzt werden, vgl. USA.

 

Rottenburg, 03.11.2018

Karl Schneiderhan

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