31.07.2023: Patient Schule

1. Begrüßung und Einführung (Wolfgang Hesse)

Ich darf Sie im Namen des Organisationsteams des Politischen Gesprächskreis zu unserer heutigen Veranstaltung sehr herzlich willkommen heißen.

Wir wagen uns heute an das Thema Schule heran, nachdem es gelungen ist, Anton Hofmann als Impulsgeber und Diskussionspartner zu gewinnen. Anton Hofmann ist ein ausgezeichneter Kenner unseres Schulsystems. Er ist Oberstudiendirektor i. R. und leitete bis zum Eintritt in den Ruhestand das St. Meinrad-Gymnasium in Rottenburg. Zuvor war er lange Jahre als Lehrer für Latein und Deutsch – u.a. 20 Jahre am Andreae-Gymnasium in Herrenberg - und als Fachberater für das Fach Deutsch am Oberschulamt Stuttgart tätig. Anton Hofmann kennt also die tägliche Schulpraxis und die übergeordneten Strukturen aus eigener Anschauung. Lieber Anton, auch an dieser Stelle nochmals ganz herzlichen Dank, dass Du uns heute zur Verfügung stehst!

Warum befassen wir uns mit dem Thema Schule – und warum bezeichnen wir die Schule als Patient? Sie erinnern sich: Wir hatten in der Vergangenheit schon andere Patienten unter die Lupe genommen: Z.B. das Gesundheitswesen und die Bahn. Für die Behandlung des Themas Schule als Patient sprechen aus meiner Sicht mindestens drei Gründe:

  1. Nach der Internationalen Grundschul-Lese-Erhebung (IGLU) 2021 kann jedes vierte Grundschulkind in Deutschland am Ende der Grundschulzeit nicht richtig lesen – Tendenz steigend. Bestätigt wurden diese Ergebnisse durch weitere Studien, z.B. durch den IQB-Bildungstrend 2021. Und immer noch verlassen 6,2% der Schüler die Hauptschule ohne Abschluss. Anton wird auf diese Zahlen in seinem Impuls näher eingehen. Man kann sich gut vorstellen, was diese Bildungsdefizite für die betroffenen jungen Menschen auf ihrem Weg in die Arbeitswelt bedeuten. Es zeigt sich, dass unsere Grundschulen ein Output-Problem haben: Die Ergebnisse stimmen nicht mehr.
  2. Wenn Sie im Bekanntenkreis berufstätige Lehrer haben und mit diesen zusammensitzen, können Sie sicher sein, dass es nicht lange dauert und Sie von Ihren Bekannten Geschichten aus dem Schulalltag hören, die Sie nur den Kopf schütteln lassen, und da geht es nicht nur um Unterrichtsausfall.
  3. Viele Diskussionen und Analysen gesellschaftlicher Entwicklungen münden in den Hinweis, dass doch die Schule ihre Schüler für dieses oder jenes fitmachen müsse. Sie erinnern sich an das Buch „Die große Gereiztheit“ von Bernhard Pörksen, das wir hier von einiger Zeit besprochen hatten. Pörksen fordert ein neues Schulfach „Medienkunde“, in dem die Schüler einen sinnvollen Umgang mit neuen Medien und Informationen erlernen sollen. Kaum sind die ersten Anwendungen der KI auf dem Markt erschienen, wird gefordert, die Schule solle ihren Schülern den souveränen Umgang mit der KI vermitteln. Manchmal ist man überrascht oder auch schockiert darüber, welche neuen Forderungen immer wieder an die Schule und an die Lehrer gestellt werden.

Offenbar brechen sich an den Schulen Wellen gesellschaftlicher Entwicklungen, die von Schulen – neben ihrem eigentlichen Auftrag der Vermittlung einer guten Allgemeinbildung - aufgefangen und bearbeitet werden sollen. Die Frage, ob und wie sie das leisten können, wird uns sicher in der Diskussion beschäftigen. Hier möchte ich nur festhalten, dass wir neben den schon genannten Output- und Prozess- Problemen auch ein Ziel- oder Auftragsproblem haben. Das wirft die Frage auf, inwieweit die Schule in ihrer heutigen Struktur überhaupt den vielfältigen, sich ständig ändernden und von außen herangetragenen Aufgabenstellungen noch gewachsen ist.

Abschließend möchte ich noch betonen, dass es uns in dieser Veranstaltung nicht um eine billige Polemik oder um 4das Schlechtreden der Arbeit von Lehrern geht, sondern dass wir aufzeigen wollen, mit welchen strukturellen Problemen sich Schulen heute herumschlagen müssen.

 

2. Impuls (Anton Hofmann)

Jede Krankheit ist heilbar, aber nicht jeder Patient. (Hildegard von Bingen)

„Ich arbeite an einer GS. Die Kinder sind nicht nur durch Corona gebeutelt, hinzu kommt ein hoher Anteil an Migranten und: die Förderung von lernschwachen Kindern jeglicher Couleur liegt in unserer Kommune komplett lahm aufgrund mangelnder Arbeitskräfte innerhalb der Verwaltung, die einen Förderantrag Antrag genehmigen könnten müssten! Alles zu Lasten der sowieso schon Gebeutelten. Einfach zum Heulen!“

An welchen „Krankheiten“ leidet die Schule?

Ergebnisse IGLU 2021 (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung: Jedes 4. Kind kann am Ende der Grundschulzeit nicht richtig lesen – Tendenz steigend.

IQB  2021 (Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen):

Lesen: 57 Prozent der Viertklässler erreichen Regelstandard, ca. 19 Prozent erreichen nicht einmal den Mindeststandard

Orthographie; 44 Prozent erreichen Regelstandard, 30 Prozent erreichen nicht einmal Mindeststandard.

Mathematik: 54 erreichen Regelstandard, fast 22 Prozent verfehlen Mindeststandard

Anzahl der Schüler, die Mindeststandards verfehlen, seit 2016 um ca. 6 – 8 Prozent gestiegen.

Besonders auffallend: soziale Aspekte und Migrationserfahrungen

Schere zwischen sozial benachteiligten und Kindern mit Zuwanderungshintergrund gegenüber Kindern aus privilegierten Familien weiter aufgegangen. Viele Kinder mit Migrationshintergrund kommen ohne oder mit geringen Deutschkenntnissen in die Schule.

Bildungsstatistische Analyse: 47 000 Jugendliche ohne Hauptschulabschluss verlassen Schule: (6,2 Prozent !!)

Steigender Lehrermangel

 hoher Stundenausfall

 hohe Zahl von Quereinsteigern

 Nachlassende Attraktivität des Lehrerberufs

 sozialer Status sinkt

 Beruf effeminiert

 Probleme in der Lehrerausbildung

 Praxisschock

 „andere“ Schüler und „andere“ Eltern als früher

 Corona-Auswirkungen (ständig steigende Schülerzahl mit psychol. Therapiebedarf)

 Digitalisierung katastrophal

 marode Schulgebäude

 Abschaffung der Grundschulempfehlung

 60 Prozent der Lehrer an Gemeinschaftsschulen wollen Schulart wechseln

 Problem Ganztagsschule (Ganztagsschule versus Ganztagsbetreuung)

Volksentscheid über Rücknahme von G8

Dramatische Unterfinanzierung des gesamten Bildungssystems

 

Welche „Therapien“ sind notwendig?

Grundsätzliche gesellschaftliche Versicherung, was Schule leisten soll?

Welche Kompetenzen sollen Schüler haben?

Was ist die Aufgabe der Lehrer?

Was ist die Aufgabe der Eltern?

Was ist die Aufgabe der Schüler?

Was müssen die Kommunen, das Land, der Staat sicherstellen?

Was darf Schule kosten? Wer übernimmt jeweils die Kosten

Patient Schule

Wie kann man dem Lehrermangel abhelfen?

 Bessere und zielgenauere Aus- und Fortbildung

 Lernbegleiter /Lernpaten

 Einsatz von Studenten

 bessere Ausstattung der Schulen

 Einstellung von Schulpsychologen

 Verwaltungsfachleute an Schulen

 Dualer Masterstudiengang

 Wie gelingt Integration?

 Kindergartenpflicht

 Verpflichtendes Vorschuljahr?

 Lese- und Sprachförderprogramme

 sinnvollere Verteilung der Gelder (Problem Königsteiner Schlüssel)

Sollen Grundkompetenzen (Lesen, Schreiben, Rechnen) mehr im Mittelpunkt stehen?

Wie kann eine moderne und effektive Ganztagsschule aussehen?

Was soll Ganztagsbetreuung leisten? (Kosten!!)

Beispiel Hamburg

Viel, viel mehr Geld in Kitas und Schulen!!

Weitere Vorschläge – lebhafte Diskussion erwünscht!

 

"Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen

den Vorhang zu und alle Fragen offen."

(B. Brecht, Der gute Mensch von Sezuan)

 

3. Diskussionsbeiträge

Wolfgang Hesse als Moderator schlägt vor, die Diskussion in zwei Teile zu gliedern und zunächst damit zu beginnen, die von Anton Hofmann skizzierte Diagnose der krisenhaften Situation zu diskutieren oder auch mit eigenen Erfahrungen zu ergänzen. Von da aus könnten dann in einem zweiten Schritt Vorschläge zu Verbesserungen oder strukturellen Reformen gemacht werden.

 

4. Resümée des Moderators (Wolfgang Hesse)

Unsere Diskussion hat gezeigt, dass wir es beim Thema Schule mit eine Reihe von ganz verschiedenen Problemfeldern zu tun haben. 

Da ist zunächst die sich immer weiter beschleunigende gesellschaftliche Veränderung. Diese zeigt sich u.a. an einer nachlassenden Erziehungskraft der Eltern, an mangelhaften Deutschkenntnissen und einer wachsenden kulturellen Vielfalt der eingeschulten Kinder oder z.B. auch am Geringschätzen von Werten wie Leistungsbereitschaft, Zuverlässigkeit und Anpassung. Dies müssen wir als gegeben ansehen. 

Andere Probleme sind eher schulintern und somit hausgemacht: Da ist z.B. die Frage, welchen Stellenwert die Basisfähigkeiten im Lesen, Rechnen und Schreiben haben sollen und mit Hilfe welcher Methoden man diese Fähigkeiten am besten unterrichtet. 

Weitere Versäumnisse liegen im Bereich der Politik: Hier wurde in unserer Diskussion z.B. ein verbindlicher Besuch des Kindergartens oder eines Vorschuljahres gefordert, um Sprach- und Erziehungsdefizite vor der Einschulung auszugleichen. Die Lehrerausbildung muss besser geplant und der Beruf attraktiver gemacht werden.

Da Schule im Schnittpunkt von Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik liegt und ihre Steuerung über eine Behördenstruktur erfolgt, die Probleme durch Anweisungen von oben nach unten zu lösen gewohnt ist, sehe ich persönlich wenig Hoffnung auf eine schnelle Anpassung von Schule an die sich wandelnden Anforderungen.

Ich danke Ihnen für Ihre anregenden Beiträge und wünsche eine erholsamen Ferienzeit. Der nächste Politische Gesprächskreis findet statt am 25.09.2023. Thema ist das Buch von Felix Heidenreich: "Demokratie als Zumutung".

 

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