30.01.2023: Omri Boehm: Radikaler Universalismus -Jenseits von Identität-

1.   Einführung (Karl Schneiderhan)

Ich begrüße Sie herzlich zum politischen Gesprächskreis. Wir sprechen heute über das neueste, erst vor wenigen Monaten erschienene Buch des israelisch-deutschen Philosophen Omri Boehm. Es trägt den Titel: „Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität“. Omri Boehm ist im Jahre 1979 geboren, ist deutscher und israelischer Staatsbürger und lehrt u. a. Philosophie an der New Yorker New School for Social Research. 

Um es gleich vorweg zu sagen: Das Buch ist keine einfache Kost und zahlreiche Rezensionen belegen, seine Thesen sind nicht unumstritten. Umso wichtiger wird die Frage sein, inwieweit seine Thesen einen Beitrag leisten können, die aktuelle gesellschaftliche Wirklichkeit sowie politische Entwicklungen zu verstehen und welche Folgen diese haben z. B. für das gesellschaftliche Zusammenleben oder für die Stabilität der Demokratie als Staatsform? 

Was bedeutet der Begriff ‚Universalismus‘? Universalismus leitet sich ab vom lateinischen ‚universalis‘ und meint so viel wie ‚allgemein‘. Es ist ein Denkansatz, bei dem das Gesamte und das Allgemeine vor das Einzelne und Besondere tritt. Der Mensch besitzt von Natur aus unveräußerliche Rechte, die ihm aufgrund seiner Würde oder Autonomie zukommen, daher gelten Prinzipien und Normen für alle Menschen gleichermaßen. Dieses Verständnis gründet auf griechisch-römischem und christlich-mittelalterlichem Gedankengut. Menschenrechte sind also mit dem Anspruch verbunden, ausnahmslos für jeden Menschen, also universell und weltweit zu gelten, wie u. a. in Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 formuliert: Darin heißt es: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ Bis heute bilden diese Menschenrechte ein wichtiges Fundament von Verfassungen und Rechtssystemen demokratischer Staaten. Dabei wird Gesetzen und Regeln sowie deren Anwendung ein hoher Wert beigemessen, um Gerechtigkeit zu garantieren. Das ist die positive Seite des universalistischen Denkansatzes. Nachteile können Inflexibilität und starre Muster in Bezug auf Werte und Normen sein oder wenn Unterschiede ausgeblendet werden.

Omri Boehm sieht in seinem Buch die Begründung für eine universalistische Auffassung von den Menschenrechten in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 und in den Schriften des Philosophen Immanuel Kant, insbesondere in dessen Aufsatz „Was ist Aufklärung?“, sowie in der biblischen Erzählung von der Opferung Isaaks, wie im Buch Genesis überliefert.

Was bewegt Omri Boehm zum jetzigen Zeitpunkt, eigens ein Buch zum Thema Universalismus zu schreiben? In einer Rezension las ich dazu folgende Erklärung: „Gerade jetzt eine große Verteidigung des Universalismus zu schreiben, erscheint so zwingend wie waghalsig. Zwingend, weil die Idee ja theoretisch immer noch gut ist, waghalsig, weil die Defizite der Ordnungen, die sich auf den Universalismus berufen, so offen zutage liegen. So erleben z. B. Bürger mit Migrationshintergrund Tag für Tag, dass vieles eben doch nicht so universal gilt, sondern uneingeschränkt höchstens für Mitglieder der Mehrheitsgesellschaften. Man übertreibt nicht, wenn man feststellt, dass damit nicht weniger als die Grundfesten der liberal-demokratischen westlichen Ordnung infrage stehen.“

Für Omri Boehm ist der Universalismus, wie dieser in westlichen liberalen Demokratien verstanden wird, bloß noch die "leere Hülse des Begriffs". Seiner Ansicht nach ist die Idee der Identität, insbesondere die ethnische oder religiöse Identität, ein Hindernis für den Zusammenhalt und den Fortschritt der Menschheit. Nach seiner Ansicht müssten wir uns mehr darum kümmern, alle Menschen zu respektieren und zu schätzen, egal welcher Herkunft, Religion oder Ethnie sie angehören, uns wieder mehr auf Moral und Ethik als auf Identität konzentrieren und einander als Gemeinschaft respektieren, anstatt in Gruppen einzuteilen. So sind seine Ideen sicherlich ein Beitrag dafür, wie friedliche Koexistenz gelingen kann.

In diesem skizzierten Kontext lohnt sich jedenfalls eine Diskussion zu den Thesen von Omri Boehm. Sie versprechen eine spannende und kontroverse Diskussion. Vorab wird uns Winfried Thaa die zentralen Thesen seines Buches vorstellen.

 

2. Einstiegsimpuls (Winfried Thaa)

 

Aus der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776:

„We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal…“

„Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich:

 

Boehms Diagnose, Teil 1:

Die liberale Demokratie steckt seit Jahren in der Krise. Die intellektuellen Angriffe auf ihre geistigen Grundlagen – Aufklärung, Universalismus, Vernunft – verfangen jenseits abgehobener Philosophiedebatten zunehmend auch in politischen Kreisen.

 

Boehms Diagnose Teil 2

Rechts wie Links „wetteifern darum, den abstrakten Universalismus durch eine konkrete Identität zu ersetzen: Wie die Rechte im Namen traditioneller Werte kämpft, so kämpft die Linke im Namen von Gender und Race. Der universelle Humanismus gilt keiner der beiden Seiten mehr als Grundlage, um ungerechte Gesetze und diskriminierende Maßnahmen zu kritisieren… er wird vielmehr als Maske wahrgenommen, die es den Herrschenden ermöglicht, die Strukturen der Ausgrenzung und Ausbeutung aufrechtzuerhalten.“

 

Der zentrale Begriff der Pflicht

„Was liberale Demokraten unter `Universalismus´ verstehen, schrumpft unablässig. Das klarste Indiz für diese Leere besteht vielleicht im Verschwinden des Begriffs der Pflicht und der Vorherrschaft des Begriffs der Rechte.“ Boehme, S. 14

 

Boehms Hauptthese

Die Menschenrechte, und insbesondere die abstrakte, menschenrechtliche Gleichheit, sind keine kulturspezifischen Setzungen, sondern allgemeingültige, philosophisch wie religiös begründbare Wahrheiten. Gibt es diese, gibt es auch eine absolute Pflicht, sie zu respektieren.

 

Boehms Schlüsseltexte

 

Warum Kant?

 

Gegen Spinoza und Nietzsche

Spinoza: Wir verlangen oder begehren etwas nicht, „weil wir es für gut halten, im Gegenteil, wir halten etwas für gut, weil wir es begehren“ (zitiert nach Boehm, S. 42). Für Spinoza wie für Nietzsche ist die Verpflichtung gegenüber universell gültigen Gerechtigkeitsprinzipien Ausdruck einer Sklavenmoral. Boehm: Wenn wir Werte auf Interessen zurückführen, enden wir bei einer Apologetik von Macht.

 

Kants Vernunftkritik

versucht die Grenzen der aufgeklärten Wissenschaft zu bestimmen. Menschen können nach Kant als Naturgeschöpfe nicht adäquat verstanden werden. „Menschheit“ kann nur ein moralischer Begriff sein. Menschen sind frei, weil nicht nur Ursachen, sondern auch Gründe und Rechtfertigungen ihr Verhalten bestimmen können.  

 

Kants Begriff der Menschenwürde

„Alles hat entweder einen Preis oder eine Würde“. Menschen verfügen über eine Würde, die über jeden Preis erhaben ist. „Moralität ist die Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst sein kann, weil nur durch sie es möglich ist (frei) zu sein. Also ist Sittlichkeit und die Menschheit, so sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat.“(Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, zitiert nach Boehm, S. 51)

 

Die notwendige Abstraktheit der Menschenwürde

„Würde hängt von Freiheit ab, die das Vermögen ist, nicht durch konkrete Tatsachen bestimmt zu sein. Sie kann deshalb nur abstrakt sein. Da sie abstrakt ist, ist ihr Geltungsbereich universell und schließt alle ein.“ (Boehm, S. 52) „Die Fähigkeit frei zu denken ersetzt Gott oder die Natur als Grundlage des radikalen Universalismus.“ (Boehm, S. 48)

 

Sklaverei versus Menschenwürde

Die Sklaverei ist die paradigmatische Verletzung des absoluten Grundsatzes der Menschenwürde, weil sie auf der systematischen Reduktion von Menschen auf bloße Mittel basiert.

„Keine Verfassung, Gesetzgebung oder politische Ordnung, die Sklaverei schützt, kann über legitime Autorität gebieten, weil sie die Grundvoraussetzung aller Werte und damit das Fundament jeglicher Autorität auflöst.“ (Boehm, S. 51)

 

Boehms Interpretation der Hiob- und der Abrahamgeschichte der Bibel

Nach Kant „bewies Hiob, dass er seine Moralität nicht auf den Glauben, sondern den Glauben auf die Moralität gründete.“ (Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee, zitiert nach Boehm, S. 53). Ähnlich Abrahams Protest gegen die Vernichtung der Städte Sodom und Gomorra: „Willst Du denn den Gerechten mit dem Gottlosen umbringen? … Das sei ferne von Dir! Sollte der Richter aller Welt nicht gerecht richten?“ (I. Mose 18, 23-25)

 

Boehms Interpretation des Monotheismus

Im Gegensatz zu Freud und neuerdings Assmann sieht Boehm die entscheidende Innovation des Monotheismus nicht in der intoleranten Unterscheidung zwischen einem wahren Gott und falschen Göttern, sondern in der Erkenntnis, dass eine universalistische Moral über der Gottheit stehen kann.

 


Abraham und der Engel

 

 

Abrahams Opfer als ethischer Ungehorsam

Nach Boehm lässt sich zeigen, dass der Engel in der Abrahamgeschichte, (der Abraham für seinen Gehorsam lobt und ihn von der Tötung seines Sohnes abhält) erst in spätere Textversionen eingefügt wurde. Läßt man diese Einschübe aus, handelt Abraham eigenständig und opfert den Widder statt seines Sohnes. Abrahams ethischer Ungehorsam ist die wahre Bedeutung seines Glaubens.

 

Boehms kantianische Interpretation der Unabhängigkeitserklärung

Umformuliert als Syllogismus:

Boehms politische These

Menschliche Machtpositionen und Autoritäten sind nicht nur durch Verfassungen, Gewaltenteilung und internationale Verträge zu begrenzen, sondern durch die externe Autorität einer universell gültigen Wahrheit.

 

Abstrakter Universalismus und Rassismus

Der abstrakte Universalismus ist nicht Grundlage des Rassismus. Im Gegenteil, „ohne die abstrakte Idee vom Menschen ist völlig unklar, was am Rassismus überhaupt falsch sein soll. Sobald konkrete Tatsachen über Menschen an die Stelle von Kants Abstraktionen treten, ist die empfindliche Grundlage der absoluten Würde bedroht.“ (Boehm, S. 62)

 

Boehms Helden der US-Geschichte

John Brown überfiel 1859 ein Waffenarsenal der Armee, mit der Absicht, die erbeuteten Waffen an Sklaven zu verteilen und damit einen Aufstand auszulösen. Martin Luther Kingfühlte sich dem Gleichheitsprinzip verpflichtet, nicht „seinem Land“ oder „seinem Volk“, verstand, dass Gesetzeskonformität zum Feind der Gerechtigkeit werden kann, kritisierte den Vietnamkrieg als ungerecht, obwohl ihm vorgeworfen wurde, er schwäche und spalte damit die Bürgerrechtsbewegung.

 

Streit um das Gemälde einer weißen Künstlerin

Das Gemälde der weißen Künstlerin Dana Schutz zeigt die mißhandelte Leiche des 1955 gelynchten Jugendlichen Emmett C. Till. Im Manifest der schwarzen Künstlerin Hannah Black, das zur Zerstörung des Bildes aufruft heißt es: „Das Thema ist nicht das von Schutz; die weiße Redefreiheit und künstlerische Freiheit sind auf dem Zwang gegen andere Menschen begründet worden und keine natürlichen Rechte. Das Bild muss weg.“ (zitiert nach Boehm, S. 105)

 

Boehms Kritik an Rorty, Lilla und Rawls

Rorty warnte bereits in den 90er Jahren vor der Identitätspolitik und sah den Aufstieg einer rechtspopulistischen Führerfigur vorher. Linksliberale wie Rorty und Lilla warnen zwar zu Recht vor der Zerlegung der Gesellschaft in Opfergruppen. Sie fordern ihrerseits aber Solidarität und Gemeinsinn im Namen kollektiver Identität (Einheit der Nation) und berufen sich auf Konsens, nicht auf absolut gültige Werte. Der von ihnen propagierte „Vorrang der Politik vor der Philosophie“ ist konformistisch und reduziert, in einer Linie mit Nietzsche, Gerechtigkeit auf Macht. 

 

Boehms Schlussfolgerungen

„Für wahre Universalisten sollte das `Wir´ nie der Beginn von Politik sein, es kann lediglich ihr niemals endgültiges Resultat sein“. (Boehm, S.111.) „Die einzige Möglichkeit, die Antinomien von Identitäten aufzulösen, die einander nihilistisch löschen, besteht darin, auf dem Universalismus als Ursprung zu beharren statt auf Identität. Darin, die eigene Politik mit der Verpflichtung auf die Gleichheit aller Menschen zu beginnen und die Ansprüche von Identität an dieser Verpflichtung zu messen“ (Boehm, S. 154). „Die abstrakte, absolute Verpflichtung auf die Menschheit löscht die Identitäten nicht aus; ganz im Gegenteil, es sind die Identitäten, die sich gegenseitig auslöschen“ (Boehm, S. 155).

 

Zur Kritik Boehms 1

Boehm kann m.E. überzeugend zeigen, dass eine Politik, die in letzter Instanz partikularen Identitäten oder Interessen verpflichtet ist, ihren moralischen Kompass verliert und zum bloßen Machtkampf verkommt. Er interpretiert seine Schlüsseltexte allerdings einseitig so, dass sie auf eine letzte, individuell erkennbare und universell gültige Wahrheit verweisen. Damit kann er dem komplexen Verhältnis von Partikularismus und Universalismus nicht gerecht werden.

 

Zur Kritik Boehms 2

Insbesondere der Schlüsseltext der Unabhängigkeitserklärung verweist schon sprachlich auf ein besonderes Wir, das sich zur Gültigkeit des Gleichheitsprinzips bekennt. „In Wahrheit hatte man natürlich Sätze, die keineswegs zwingend evident sind, und Meinungen, auf die man sich in der Tat einigen muss, weil sie nichts Axiomatisches an sich haben, verabsolutiert.“ (Arendt, Über die Revolution, S. 248) Es braucht also eine politische Gemeinschaft, die sich an Gerechtigkeitsprinzipien bindet.

 

Zur Kritik Boehmes 3

Boehms „Vorrang der Wahrheit vor dem Konsens“ oder „der Philosophie vor der Demokratie“ kann von jedem Individuum als Selbstermächtigung verstanden werden. Schließlich: Boehm ignoriert vollständig, dass bestehende demokratische Verfassungen, insbes. das GG, den Versuch darstellen, zwischen universell gültigen Gerechtigkeitsnormen und der Willensbildung einer partikularen politischen Gemeinschaft zu vermitteln (etwa im besonderen Schutz der

 

3. Diskussionsbeiträge

 

 

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