31.01.2022: Aufbruch und Fortschritt – was verspricht die Ampelkoalition?

 

1. Begrüßung und Einführung

Herr Schneiderhan begrüßt die Teilnehmer der Veranstaltung mit den besten Wünschen zum neuen Jahr.

Thema heute ist der Koalitionsvertrag der neuen Ampelregierung. Knapp acht Wochen sind vergangen, seitdem die neue Regierung ihre Arbeit aufgenommen hat. Angesichts der noch andauernden Corona-Pandemie und gravierender außenpolitischer Verwerfungen war in den Medien des Öfteren von einem ‚Kaltstart‘ die Rede, wie bisher keiner neuen Regierung zugemutet.

„Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“, so lautet die Überschrift des immerhin 177 Seiten umfassenden Koalitionsvertrags. Manche Schlagworte haben sich rasch eingeprägt: Fortschritt, Zukunft, Innovation, Modernisierung oder Entfesselung. Die Digitalisierung, so wird der Eindruck erweckt, scheint das Allheilmittel zu sein, um künftige Herausforderungen zu meistern und nicht zu vergessen einer der zentralsten Herausforderungen, der Klimawandel. Die Botschaft der Koalitionäre war: Gestern war gestern, jetzt bricht eine neue Zeit an verbunden mit vielen Versprechungen. Dabei sei nur am Rande erwähnt, die SPD war immerhin bereits acht Jahre Teil der Bundesregierung. Bei so viel an Vorhaben und Versprechungen ist die Frage berechtigt, wie diese beabsichtigten Vorhaben in welchem Zeitrahmen praktisch überhaupt umgesetzt werden können und wie diese finanziert werden sollen.

 

2. Impuls (Prof. em. Dr. Winfried Thaa)

Auszüge

Im Folgenden werde ich mich auf den Koalitionsvertrag konzentrieren. Er umfasst mehr als 170 Seiten und kann deshalb in diesem Rahmen nicht vollständig dargestellt werden. Konzentrieren werde ich mich deshalb auf die Aussagen zur ökologischen Transformation und die Politikbereiche, die damit unmittelbar zu tun haben. Darüber hinaus werde ich auch auf Aussagen zu Reformen von Staat und Demokratie und zur Familien- und Einwanderungspolitik eingehen.

Der erste und stärkste Eindruck des Koalitionsvertrages und des Auftretens der Koalitionsparteien lässt sich vorneweg in einem Satz formulieren:

So viel Anspruch war selten

Man muss schon bis 1969 zurückgehen, um einen ähnlich hohen Anspruch auf Neuanfang und Aufbruch zu finden.  Damals hieß es mehr Demokratie wagen, heute mehr Fortschritt wagen. Und die neue Koalition setzte alle medialen Mittel ein, um ihr Aufbruchspathos zu „kommunizieren“.

Herr Thaa präsentiert das oben gezeigte Bild der Ampel-Koalitionäre, das ihn an den Film „Die glorreichen Sieben“ erinnert, siehe das Bild unten.

 

 

Über das Pathos des Neuanfangs darf man sich schon wundern. Vordergründig, weil die SPD schließlich über 12 der 16 Jahre Merkel hinweg mit in der Regierung war und zuletzt mit Olaf Scholz ja auch den Finanzminister und Vizekanzler stellte. Und auch die FDP war ja vier Jahre lang mit Merkel in einer Regierungskoalition.

Grundsätzlicher jedoch ist erstaunlich, wie die neue Koalition auf ein Fortschritts- und Modernisierungspathos zurückgreift.

So heißt es etwa in der Präambel des Koalitionsvertrags:

 „Wir haben unterschiedliche Traditionen und Perspektiven, doch uns einen die Bereitschaft, gemeinsam Verantwortung für die Zukunft Deutschlands zu übernehmen, das Ziel, die notwendige Modernisierung voranzutreiben, das Bewusstsein, dass dieser Fortschritt auch mit einem Sicherheitsversprechen einhergehen muss und die Zuversicht, dass dies gemeinsam gelingen kann.“

Hier sind also Fortschritt und Modernisierung genannt. Noch deutlicher formulierte Scholz bei der Vorstellung der neuen Regierung, und er wiederholt das seither mehrfach:

„Uns eint der Glaube an den Fortschritt“

Glaube ist so eine Sache, und man fragt sich doch, welcher Fortschritt gemeint ist. Soll hier etwa ein wachstumsbasiertes Fortschrittsmodell neu belebt werden? Ein Fortschrittsmodell, das schon in den 70er Jahren die NSB kritisierten (und auf das bezogen etwa Erhard Eppler schon vom „Elend der Progressiven“ sprach, die auf die Frage, was Fortschritt inhaltlich sei, keine wertbezogene Antwort wüssten. (Ende oder Wende 1975, zitiert nach: Blätter für deutsche und internationale Politik 11/21, S. 9).

Oder ist es den drei Parteien doch gelungen, was der Untertitel des Koalitionsvertrags verspricht, nämlich Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit in einer neuen Fortschrittsvorstellung zusammenzubringen?

Ich werde diese Fragen in der Folge nicht abschließend beantworten, aber die Aussagen des Koalitionsvertrags zu einzelnen Politikbereichen darauf hin genauer anschauen. Was ich weitgehend weglassen werde sind die sicher auch nicht unwichtigen Auseinandersetzungen zur Verteilung der Ministerien zwischen den Parteien und ihrer Besetzung durch einzelne Politiker.

 

Die wichtigsten Herausforderungen laut Koalitionsvertrag

 Der Koalitionsvertrag nennt am Anfang, gleich nach der zitierten Feststellung über die notwendige Modernisierung eine ganze Reihe konkreter Herausforderungen, vor denen das Land stehe.

Dagegen ist ja nichts einzuwenden. Man könnte allerdings fragen, was nicht drin steht. Vorneweg: Ökologie (jenseits der Klimakrise), Soziale Fragen, Gleichstellung, Migration, Demokratieentwicklung  u.a. haben es nicht in die Liste der vorrangigen Herausforderungen geschafft. Was jedoch, wie wir gleich sehen werden, nicht heißen soll, dass sie im Vertrag gar nicht auftauchen würden. Unter der Überschrift „Was wir voranbringen wollen“ wird dann eine breitere Liste politischer Ziele aufgeführt.

 

Als vorrangig bezeichnete Ziele (1)

 

Als vorrangig bezeichnete Ziele (2)

Bemerkenswert scheint mir, dass dabei an erster Stelle die Modernisierung des Staates und die Digitalisierung der Verwaltung genannt werden. Es folgt dann jedoch eine lange Liste von Zielen, die, wir sind immer noch in der Präambel, einfach aufgelistet werden. Diese Liste, die hier noch nicht einmal vollständig ist, scheint mir erst mal nicht kritisierenswert. Zum Teil bleiben die Ziele recht pauschal, z.T. dürfte es bei ihrer Konkretisierung noch erhebliche Konflikte zwischen den Parteien geben.

Jetzt genauer zu einzelnen Politikbereichen: Dabei als erster Bereich im Vertrag

Moderner Staat, digitaler Aufbruch und Innovationen

Das kann man ev. von der Sache her begründen. Es entstand bei mir aber durchaus der Eindruck, dass dies eine relativ unumstrittene Gemeinsamkeit der drei Parteien ist. Darauf konnte man sich vermutlich recht problemlos einigen, und das steht auch für einen guten Teil der Gemeinsamkeiten zwischen ihnen.

 

Moderner Staat

 

Lebendige Demokratie

Stärkung des Parlaments, mehr Bürgerbeteiligung und gleichzeitig Beschleunigung der Entscheidungen. Das darf man sich alles wünschen, aber es zusammenzubringen dürfte nicht einfach sein. Eine rundum lobenswerte Absicht steckt dann zweifellos im Teil zur Transparenz.

 

Transparenz

Hier machen allerdings die Formulierungen auch deutlich, dass in einigen der Parteien doch Vorbehalte gegenüber einer konsequenten Reglementierung des Lobbyismus und der Zusatzverdienst-möglichkeiten für ehemalige Abgeordnete und Amtsinhaber bestehen.

Nach meinem Eindruck wenig kommentiert und öffentlich diskutiert wurden die Vorschläge zum Wahlrecht. 

 

Wahlrecht

Worauf ich jetzt gar nicht eingehen werde, sind die Seiten zur Verwaltungsreform und zur Digitalisierung. Da wird durchweg beschleunigt, ob Planungs- oder Verwaltungsgerichtsverfahren. Ich gestehe auch gern, dass dieser Teil für mich zu viel Fachchinesisch enthält. Etwa Standardisierung von IT-Verfahren nach dem „Einer für Alle“ (Efa)-Prinzip. Es soll ein allgemein anwendbares Identitätsmanagement geben u.v.m.

 

Klimaschutz in einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft

Es wird betont, dass die industrielle Basis in der ökologischen Transformation nicht nur erhalten, sondern gestärkt werden soll. Diese Perspektive, Stärkung der Industrie durch ökologischen Umbau wird dann eigentlich für alle Branchen durchexerziert. Nicht nur neue Wasserstoffindustrie, sondern Stärkung eigentlich von allem, Luftfahrtindustrie, Schiffsbau usw. Da darf man schon fragen: Brauchen wir mehr Autos, Flugzeuge, Kreuzfahrtschiffe etc? Ein weiteres Beispiel für dieses Muster ist die Chemieindustrie. Schaut man sich das an, so sieht das doch nach Wunschdenken aus: Wettbewerbsfähigkeit, Arbeitsplatzsicherheit, Nachhaltigkeit, Klimaschutz und Verringerung des Risikos werden einfach aneinandergereiht.  

 

Beispiele zur Wirtschaftspolitik

 Ich möchte nicht unterschlagen, dass auch klassisch grüne Themen aufgeführt werden, wie Abfallvermeidung etc. Allerdings: Die Versöhnung von Ökologie und Ökonomie, die die Grünen ja schon lange auf ihre Fahnen geschrieben haben, soll offensichtlich unterm Primat der Ökonomie geleistet werden. Wachstumszentrierung steht im Vordergrund. Und das auch in anderen Bereichen.

Beispielhaft in der Familien- und der Zuwanderungspolitik.

 

Primat Wachstumsförderung

 Ich will hier nicht gegen die Erwerbstätigkeit von Frauen argumentieren. Aber die unverblümte Eindeutigkeit, mit der hier Ziel und Mittel bestimmt werden ist doch erstaunlich.

 

Umwelt- und Naturschutz

In diesem Kapitel bezeichnet die Koalition die Nachhaltigkeitsziele der VN als Richtschnur ihrer Politik und nennt den Erhalt der Artenvielfalt als eine „Menschheitsaufgabe und eine ethische Verpflichtung“.

 

Beispiele für einzelne Naturschutzmaßnahmen

Typisch hier: Schutz und nachhaltige Nutzung in Einklang bringen. Das sieht dann so aus, dass 10 Prozent der Meeresflächen in der Küstenzone geschützt werden sollen. Sind damit 90% für wirtschaftliche Nutzung freigegeben?

 

Landwirtschaft

Wenn ich da jetzt die Zielsetzung vorlese, sehen sie, dass sich das Muster ständig wiederholt. Ich setze das Adjektiv nachhaltig vor den Begriff Landwirtschaft, und schon sind die Gegensätze versöhnt.

Es werden dann allerdings doch konkrete Maßnahmen genannt, auffallend oft aber nur als Ziele, mit einer Sollen-Formulierung. Das mag nicht nur an den Gegensätzen der Koalitionsparteien liegen, sondern auch daran, dass Landwirtschaftspolitik zu einem großen Teil Sache der EU ist.

 

Ernährung

Beim Punkt Ernährung möchte ich mit Blick auf die Zeit nur den Punkt Zucker rauspicken. Das ist sicher ein Beispiel für den Einfluss der FDP und die insgesamt beobachtbare Scheu, ins Marktgeschehen regulatorisch einzugreifen. Freiheitsverlust, wenn die Limonade nicht mehr 30% Zucker hat? Im Vergleich dazu geht ein Land wie GB mit seiner Zuckersteuer deutlich weiter.

 

Mobilität

Am meisten Enttäuschung hat bereits vor Veröffentlichung des Koalitionsvertrags der explizite Verzicht auf ein generelles Tempolimit verursacht. Ich war erstaunt, wer sich darüber alles empört und die Grünen als Umfallerpartei kritisiert hat.

Aber richtig ist sicher: das Tempolimit wäre eine hochgradig symbolische Sache für eine ökologische Verkehrswende gewesen. Umgekehrt ist der Verzicht darauf jedoch auch hochgradig symbolisch für die Botschaft, die die Koalition insgesamt aussenden möchte: Der Bürger darf im Großen und Ganzen weitermachen wie bisher, niemand soll auf irgendwas verzichten müssen – und sei es das Rasen auf der Autobahn. Noch krasser finde ich, dass sich am sog. Dienstwagenprivileg nichts ändern wird – die Interessen der Automobilindustrie bleiben weiterhin das Maß der Dinge.

 

Klima, Energie und Transformation 1

In den Einzelmaßnahmen verbirgt sich aber einiges an Konfliktstoff. Ausbauziele lassen sich leicht festlegen, wenn aber der Begriff Schutzgüterabwägung fällt, wird klar, dass alle Beteiligten mit Konflikten rechnen. Einen kleinen Vorgeschmack gab es jetzt ja auch schon bei Habecks Antrittsbesuch in Bayern

 

Klima, Energie und Transformation 2

Ehrgeizige Ziele in diesem Bereich. Konflikte sind jedoch vorprogrammiert, u.a. mit Naturschützern

 

Gleichstellung und Familie

Hier scheint mir eine vergleichsweise große Schnittmenge zwischen den Parteien zu bestehen.

Man könnte sagen, es herrscht Einigkeit, den Schutz der klassischen Familie zugunsten des Experimentierens mit neuen Lebensformen aufzugeben. Hier sehe ich eher größere Konflikte zwischen den Koalitionsparteien und der Union, auch zu Teilen der Öffentlichkeit (Leihmutterschaft).

M.E. liegt hier ein Potential zur Polarisierung der Gesellschaft, und es bleibt abzuwarten, ob die Parteien der Versuchung zu einem Kulturkampf à la USA widerstehen können.

Ähnliches gilt für den Bereich Migration.

 

Migration und Diversität

 

 Vorläufiges Fazit 1

 

Vorläufiges Fazit 2

 

Vorläufiges Fazit 3

Mögliche Bruchstellen sind unverkennbar, so etwa:

 

 

3. Diskussion

Herr Schneiderhan leitet die Diskussion ein mit der Fragestellung nach einem Gesamtfazit des Gehörten – nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund des Themas unserer letzten Sitzung, Nico Peachs „Befreiung von Überfluss“.

 

 

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