28.06.2021: Auswirkungen und Folgen der Corona-Pandemie für Gesellschaft und Demokratie

1. Einführung (Karl Schneiderhan)

 Im Frühjahr 2020, in der Anfangsphase der Corona-Pandemie, hatten wir unter Teilnehmenden des Gesprächskreises eine Umfrage gestartet zur Frage: Was können wir aus der Corona-Krise und den damit verbundenen Einschränkungen für unser gesellschaftliches Zusammenleben lernen? Seitdem ist über ein Jahr vergangen mit weiteren Lockdown-Maßnahmen. So ist die Frage durchaus berechtigt: War der damals angemahnte Handlungs- und Veränderungsbedarfs für die verschiedenen gesellschaftlichen Handlungsfelder sowie in Bezug auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie zutreffend? Unter Berücksichtigung damaliger Einschätzungen wollen wir anhand folgender Fragestellungen die bisherige Entwicklung diskutieren:

Zusammengefasst wurde von den an der Umfrage Beteiligten insbesondere folgender Veränderungsbedarf angemahnt:

Nach 1 ½ Jahren Corona-Krise bestätigen sich die damals vorgenommenen Einschätzungen, denn jetzt zeigt sich noch deutlicher, diese Pandemie deckt wie ein Brennglas soziale, politische und ökonomische Probleme auf und hat nahezu alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens verändert. Die über Monate andauernden Kontaktbeschränkungen und Schließungen (Schulen, Restaurants, Handel, Kultur) beeinflussen nachhaltig das soziale Miteinander in Organisationen, Gruppen und Vereinen, in der Familie oder unter Freunden und Nachbarn. Darüber hinaus ist die Demokratie national, in Europa und global neben der Pandemie-Krise zeitgleich mit weiteren gravierenden Herausforderungen konfrontiert: Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten, Klimawandel, Flucht und Vertreibung, Digitalisierung, Instabilität der Parteiensysteme oder autoritär-nationalistische Dynamiken. Zum andern zeigen aber die Wahlergebnisse bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt eine gewisse Stabilität des politisch-demokratischen Systems. Die Regierungsparteien konnten sich trotz Kritik an ihrem Krisenmanagement behaupten, zum Teil nach Prozenten sogar Stimmenanteile hinzugewissen, während extreme Positionen wie die der AfD aus der Krise keine Stimmengewinne erzielen konnte. Vielmehr musste die AfD in allen drei Bundesländern Verluste hinnehmen.

Wie sich die politische Situation heute darstellt und welche Konsequenzen sich daraus für die Zukunft ergeben, darüber wollen wir heute sprechen. In einem ersten Teil beschäftigen wir uns mit den Fragen: Wo und wie hat sich das politische System bewährt, wo gab es Probleme oder Reibungsverluste? Hat sich die Gesellschaft in dieser Krise als solidaritätsfähig erwiesen? In einem zweiten Teil wollen wir der Frage nachgehen: Welche Perspektiven gibt es bzw. welche Konsequenzen bräuchte es jetzt, um nötige Veränderungen tatsächlich in Gang zu bringen bzw. zu erreichen?

 

2. Impuls (Winfried Thaa)

Rekurs auf die Diskussion vom Frühjahr 2020

Tenor des Gesprächs mit Frau Widmann-Mauz vor ungefähr einem Jahr war: Das politische System hat sich bewährt, es hat sich als handlungsfähig und im Großen und Ganzen als kompetent erwiesen. Deutschland schien damals im Vergleich zu seinen Nachbarländern sehr viel besser durch die Krise zu kommen und hatte im Vergleich zu Italien, Belgien oder GB nur einen Bruchteil der Toten zu beklagen. Die föderale Ordnung schien flexibler und dennoch handlungsfähig, Expertenwarnungen wurden schneller und besser berücksichtigt als etwa in GB, die Maßnahmen waren auch überlegter und verhältnismäßiger als in Frankreich oder Spanien, wo es praktisch einen wochenlangen Hausarrest gab. Auch das Gesundheitssystem schien, trotz mancher Probleme, leistungsfähiger als in den meisten anderen Ländern. Und, m.E. ganz wichtig, im Frühjahr konnte man noch positiv überrascht sein über die Solidaritätsbereitschaft in der Gesellschaft.

Hat sich dies in der Zwischenzeit grundlegend geändert?  Oder sind zumindest Abstriche von dieser positiven Einschätzung zu machen, sowohl mit Blick auf das politische System als auch in Hinblick auf die Solidaritätsbereitschaft in der Gesellschaft? Um es vorwegzunehmen: Man kann sicher immer noch sagen, dass Deutschland im Vergleich mit anderen Ländern relativ gut durch die Krise gekommen ist, im Vergleich zum Frühjahr zeigen sich mittlerweile jedoch deutlicher die Schwächen in Politik und Gesellschaft. Dazu einige exemplarische Punkte:

 

1. Hat sich das politische System bewährt?

Föderalismus und Gewaltenteilung

Als größtes Problem, als größte Schwäche erwies sich die Ministerpräsidentenrunde. Anfangs, aufgrund der Zuständigkeit der Länder war dies sicher ein naheliegendes Gremium. Mit seiner Verstetigung haben sich aber erhebliche Schwächen gezeigt und spätestens im Herbst hat sich die Ministerpräsidentenrunde als unfähig erwiesen, auf die erneut steigenden Infektionszahlen angemessen zu reagieren. Aus Rücksichtnahme auf gesellschaftliche Interessen, aus Motiven politischer Profilierung, des Opportunismus oder welchen anderen Motiven auch immer, konnte man sich nicht auf eine entschlossene Reaktion einigen. Der „Lockdown light“, der dann im Oktober nach einer nächtelangen Sitzung herauskam, war nicht geeignet, die Welle zu brechen und letztlich für den Tod von zehntausenden Menschen verantwortlich.

Dazu einige Zahlen: der 7 Tage Durchschnitt der Inzidenz lag im August bei unter 1000, Mitte Oktober bei 2500 täglichen Neuinfektionen, im Dezember und Januar stieg diese Zahl auf 25-30 000, hat sich also in wenigen Wochen verzehnfacht. Die Todesfälle stiegen von Oktober bis Dez. von 10 pro Tag auf über 1000. Fehlentscheidungen kann es immer geben, auch die zentralisierten politischen Systeme, etwa in GB, haben ja fatale Entscheidungen getroffen. Dennoch meine ich, dass sich im Lauf der Krise in Deutschland Probleme der föderalen Struktur immer stärker zugespitzt haben:

In geringem Maß hat sich die Politik im Lauf der letzten Monate als lernfähig erwiesen. Nach dem Scheitern einer Ministerpräsidentenrunde kam es zum Infektionsschutzgesetz, das im Bundestag diskutiert und verabschiedet wurde und seit 23.04.2021 gilt.

Justiz

Ganz kurz nur zur Justiz. Vorwürfe, wir erlebten eine Corona Diktatur sind m. E. durch eine ganze Reihe von Gerichtsentscheidungen, die Einzelmaßnahmen als unverhältnismäßig außer Kraft gesetzt haben, entkräftet worden. Bsp. dafür sind gerichtlich aufgehobene Ausgangssperren oder die Zulassung von zunächst zugelassenen Demonstrationen.

Expertentum

Es hat sich ein weiteres Mal als Illusion erwiesen, die Politik könnte einfach dem Rat von Experten folgen. Zwei Experten, drei Meinungen. Ernsthafter: Politische Entscheidungen sollten selbstverständlich auf Informationen basieren, aber sie müssen ganz verschiedene Gesichtspunkte berücksichtigen und zwischen widerstreitenden Meinungen und Interessen zu einem Urteil kommen. „Follow the Science“ ist eine Unsinnsparole. Allerdings gilt auch hier: Undurchsichtige Absprachen sind problematisch, während offene Debatten im Parlament einen Beitrag zur Rationalisierung leisten können. Leider haben diese Funktion mehr schlecht als recht in Deutschland vor allem die Talkshows übernommen.

Verwaltung

Der Mythos von der besonders effektiven deutschen Verwaltung dürfte zerstört worden sein. Teils dürfte dies auf den sog. „schlanken Staat“ und die Personaleinsparungen der letzten Jahrzehnte zurückzuführen sein. Etwa bei Gesundheitsämtern. Teils gab es aber auch die schiere, schlicht unglaubliche Unfähigkeit.

 

2. Gesellschaft – Solidaritätsfähigkeit

Insgesamt scheint hier das Positive zu überwiegen. Alles in allem gab es doch eine große Bereitschaft, sich an Regeln zu halten, beim Einkaufen Masken zu tragen, keine Partys zu feiern usw. Insgesamt kann man auch sagen, dass die Gruppen, denen mehr abverlangt wurde, insbesondere Jugendliche und Kinder, auch eine hohe Solidaritätsbereitschaft und Verantwortung zeigten. Bis heute leisten einzelne Berufsgruppen mehr als sonst, von den Kassiererinnen in den Supermärkten, die mit Maske arbeiten müssen, über die Beschäftigten in Altenheimen und Krankenhäusern, bis zu den Sprechstundenhilfen in den Arztpraxen, die jetzt seit Monaten Stress mit Impfterminen, der Ungeduld und den Beschwerden der Patienten haben. Hervorzuheben sind auch vielfältige gesellschaftliche Initiativen, etwa zum Testen wie in Tübingen und mittlerweile ja praktisch überall. Hier besonders auch das Engagement von Ehrenamtlichen. Die vielen von den Maßnahmen besonders negativ Betroffenen, etwa in Handel und Gastronomie haben sich insgesamt auch bemerkenswert kooperativ verhalten, aufwendige Hygienekonzepte entwickelt u. ä.

Allerdings sind auch in Hinblick auf die Gesellschaft einige Schattenseiten zu nennen:

Je länger die Krise andauert, umso mehr bröckelt die Bereitschaft, fürs Ganze Opfer zu bringen, treten die Eigeninteressen wieder stärker hervor. Das scheint mir allerdings nur menschlich zu sein. 18 Monate Alarm- oder Ausnahmezustand sind kaum durchzuhalten.

Bedenklicher finde ich, dass ganze Berufsgruppen die Krise als Chance zur Bereicherung nutzten und darin von der Politik auch noch unterstützt wurden.

Ein Beispiel die Apotheken:  Der Staat zahlt einen Maskenpreis von 6 €, die Kosten pro Maske betragen aber nur 1,60 €. Allein im Rahmen dieser Aktion sind 2,1 Milliarden € an die Apotheken bezahlt worden, pro Apotheke mehr als 100.000 € (So der Bundesrechnungshof nach SZ vom 11.06.21)

Ähnliches spielt sich gerade mit den Impfausweisen ab. Hier scheint ebenfalls ein strukturelles Problem zu liegen, jedenfalls insofern, als staatlicherseits offensichtlich davon ausgegangen wird, dass eine Gemeinwohlorientierung nicht mehr vorausgesetzt werden kann und besonders attraktive materielle Anreize für erforderliche Tätigkeiten wie Testen, Impfen etc. geschaffen werden müssen.

Schließlich sind auch die Fälle offener Korruption und simplen Betrugs zu nennen. Bsp. etwa die Unionsabgeordneten, die sich die Vermittlung von Maskendeals mit hohen Beträgen vergolden ließen, oder die kriminellen Abrechnungen von Tests, die gar nie durchgeführt wurden.

Gerade vor dem Hintergrund der insgesamt doch hohen Solidaritätsbereitschaft, die sich bei vielen Menschen gezeigt hat und der wir es zu verdanken haben, einigermaßen gut durch die Krise gekommen zu sein, sind diese Fälle umso empörender. 

Ein weiterer, letzter Punkt: In der Pandemie wurde deutlich, dass wir mittlerweile in einer Gesellschaft leben, in der Einstellungen und Weltbilder weit auseinandergehen. Dieser Pluralismus der Lebensweisen und Werte kann im Alltag meist gut überbrückt werden, droht sich in Krisenzeiten aber zu Spaltungen und Polarisierungen zuzuspitzen. Das wurde m. E. deutlich an dem doch bemerkenswert großen Zulauf von sog. Querdenkern und Corona-Leugnern.  Weit verbreitete latente Einstellungen wie Misstrauen gegenüber der Schulmedizin oder Skepsis gegenüber wissenschaftlichen Experten scheinen sich in Krisenzeiten mit Hilfe der sozialen Medien zu alternativen Weltanschauungen zu verdichten und zu verfestigen. Oft ist dann die einfache Verständigung über Tatsachen kaum mehr möglich. M. E. hilft da jedoch Tabuisierung und Ausgrenzung nicht weiter. Im Großen und Ganzen hat eine öffentliche Auseinandersetzung stattgefunden, die auch Gegenstimmen zu Wort kommen ließ und damit das „Abrutschen“ in die geschlossenen Echokammern des Netzes noch in Grenzen halten konnte.

So weit sind wichtige Aspekte der Frage nach der gesellschaftlichen Solidarität noch gar nicht thematisiert. In diesem Zusammenhang sind noch kurz zu nennen:

 

3. Diskussionsbeiträge

Hat sich in dieser Krise das politisch-demokratische System bewährt?

 

Hat sich die Gesellschaft als solidaritätsfähig erwiesen?

 

Welche Perspektiven braucht es, um die nötigen Veränderungen zu erreichen?

 

4. Abschluss (Karl Schneiderhan)

 

Rottenburg, 02.07.2021

gez. Karl Schneiderhan

Kommentare?!?

Schick uns Deinen Text